Entlastung in Sicht? Bisher zahlen Heimbewohner die Investitionskosten aus eigener Tasche.
Tagung

Visionen für die Pflege

Eigenanteile deckeln, Strukturen verändern, Leistungen dynamisieren: Wie die Pflege bezahlbar bleibt und zukunftsfähig wird, diskutierten Experten auf einem digitalen Forum. Sie mahnten weitere Reformen der Pflegeversicherung an. Von Christine Möllhoff

Früher oder später

berührt das Thema jeden, sei es als Betroffener oder als Angehöriger: „Jeder zweite Mann und drei von vier Frauen werden irgendwann in ihrem Leben pflegebedürftig“, sagte der Bremer Pflegeforscher Professor Heinz Rothgang beim sechsten Pflegeforum der AOK Bayern. Experten aus Politik, Wissenschaft und Verbänden diskutierten die Frage: „Was ist uns als Gesellschaft die Pflege wert?“. Ihr Fazit: Weitere Reformen der Pflege sind notwendig. Und zwar möglichst „zügig und gleich nach der Bundestagswahl“, so Rothgang.

Andreas Westerfellhaus, Pflegebeauftragter der Bundesregierung, bezeichnete die jüngste Pflegereform als „richtigen Einstieg“. Aber sie sei nicht „das Ende der Fahnenstange“. Für Westerfellhaus ist die 24-Stunde-Pflege das nächste „Mega-Projekt“. Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts, wonach ausländischen Pflegekräften auch für Bereitschaftszeiten der Mindestlohn zusteht, erfordere Antworten, ohne Strukturen zu zerstören.

Mehr Mut zu einer Finanzreform.

Viele Pflegebedürftige seien finanziell überfordert, warnte Rothgang. „Sorgen, dass man durch Pflege verarmt, sind berechtigt.“ Die privat zu zahlenden, pflegebedingten Eigenanteile würden durch die gestaffelten Zuschüsse zwar 2022 temporär sinken. Aber spätestens im September 2023 würden sie wegen steigender Kosten voraussichtlich wieder das heutige Niveau erreichen und danach weiter zunehmen, rechnete der Wissenschaftler vor. Rothgang plädierte dafür, den Pflege-Eigenanteil auf 700 Euro zu deckeln, wie es auch Gesundheitsminister Jens Spahn ursprünglich geplant habe. Der Experte wünschte sich von der Politik Mut zu einer „nachhaltigen Finanzreform“. Er hält eine „Bürgerversicherung“, einen „Finanzausgleich“ zwischen sozialer und privater Pflegeversicherung für „fast alternativlos“. Weil sich bei den privaten Pflegeversicherungen günstigere Risiken sammeln, könne ein solcher Ausgleich die Beitragssätze der sozialen Pflegeversicherung spürbar senken. Dieses Vorhaben habe bereits 2005 im Vertrag der damaligen Großen Koalition gestanden.

Höhere Beiträge drohen.

Dr. Monika Kücking, Leiterin der Abteilung Gesundheit beim GKV-Spitzenverband, vermisste ebenfalls eine verlässliche Finanzperspektive. Sie begrüßte, dass ein pauschaler Bundeszuschuss von einer Milliarde Euro geplant sei. Aber unter dem Strich sei die Reform nicht ausreichend gegenfinanziert, um die Mehrausgaben für höhere Löhne, mehr Personal und Pflege-Zuschüsse aufzufangen. Spätestens 2023 drohten höhere Beiträge, so Kücking. Weiterer Finanzbedarf sei absehbar: Um die Pflegebedürftigen zu entlasten, müssten die Leistungen dynamisiert werden.

Länder in der Pflicht.

Die Pflegeversicherung schultere gesamtgesellschaftliche Aufgaben in Höhe von rund drei Milliarden Euro, monierte Frank Firsching, Verwaltungsrat der AOK Bayern. Diese müssten aus Steuermitteln gedeckt werden, so der alternierende Vorsitzende des Gesundheits- und Pflegeausschusses im Aufsichtsrat des AOK Bundesverbandes. Auch die Länder sieht er in der Pflicht. Diese wälzten bisher die Investitionskosten auf die Heimbewohner ab. Sie zahlten im Schnitt monatlich 400 bis 500 Euro für diesen Posten. Für Firsching umfasst die Reform der Pflege auch die Strukturen: Die Trennung von ambulanter und stationärer Pflege sei ein „Webfehler“ der Pflegeversicherung. Diese Sektorengrenzen müssten fallen, betonte er. Dann solle es für beide Bereiche ein gemeinsames Basis- und Sachleistungsbudget geben. „Das ist unsere Vision.“

Christine Möllhoff schreibt als freie Journalistin über Gesundheitsthemen.
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