G+G-Wissenschaft

An der Schmerzgrenze

Beim Fußball gilt: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. In der Politik muss es heißen: Nach der Reform ist vor der Reform. Das zeigen jüngste Korrekturen an der Pflegeversicherung. Hier besteht erneuter Handlungsbedarf. Von Ines Körver

Ein Faszinosum der deutschen Sprache ist,

dass sie Nominalkomposita in beliebiger Länge zulässt. Verhältnismäßig harmlose Substantivreihungen wie Wandschrank, Fenstersims und Scheibenwischer nehmen wir als selbstverständlich hin, über die Donaudampfschifffahrtsgesellschaft machen wir uns gerne lustig. Besonders beliebt sind Nominalkomposita im Kontext von Gesetzen, Behörden und Versicherungen, und das Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz verfügt sogar über einen eigenen Wikipedia-Eintrag.

Mit einem neuen Nominalkompositum wartete auch die Bayerische Beamtenkrankenkasse auf, als sie im Jahr 1978 als erstes Versicherungsunternehmen eine Pflegekostentagegeldversicherung anbot.

Was war geschehen?

Die Menschen waren in den vergangenen Jahrzehnten immer älter geworden. Betrug die Lebenserwartung bei Geburt laut den Kohortensterbetafeln des Statistischen Bundesamtes – man beachte die drei Nominalkomposita allein in diesem Satzanfang! – noch 1920 lediglich 57,52 Jahre für Männer und 64,72 Jahre für Frauen, waren es 1978 bereits 79,82 Jahre für Männer und 84,97 Jahre für Frauen.

Über 20 Jahre mehr bei beiden Geschlechtern in weniger als 60 Jahren – das hatte natürlich enorme Auswirkungen. So wurde Langzeitpflege ein Thema für die Massen, und immer mehr Menschen mussten Sozialhilfe beantragen, weil sie die Kosten dafür aus eigener Kraft nicht stemmen konnten. Das nahm auch die Politik wahr und reagierte. 1994 wurde die Soziale Pflegeversicherung beschlossen, das zugehörige Regelwerk ist das elfte Sozialgesetzbuch, das seit 1995 gilt. Die Älteren unter uns erinnern sich an die damals prominenten Akteure wie den zuständigen Bundesminister Norbert Blüm und seinen Staatssekretär Karl Jung, den viele dann später als sehr energischen Vorsitzenden des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen erleben durften.

Die Pflegeversicherung war von Anfang an

nicht als Vollversicherung, sondern als Teilleistungssystem angelegt. Dass Menschen im Pflegefall also möglicherweise beträchtliche Geldsummen zuschießen müssen, war und ist einkalkuliert. Doch inzwischen ist wieder eine Schmerzgrenze erreicht: In den vergangenen Jahren sind allein die Eigenanteile in der stationären Langzeitpflege enorm gestiegen.

Auch das Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz – wieder so ein Kompositum – macht Druck im Kessel, denn es sieht mehrere Maßnahmen vor, die bald auf die Versicherten durchschlagen werden. Dazu gehören Regelungen zur verbesserten personellen Ausstattung stationärer Einrichtungen und die Bezahlung von Pflegekräften auf Tarifniveau. Auch das Grundsatzurteil des Bundesarbeitsgerichts zu 24-Stunden-Betreuungskräften vom 24. Juni 2021 verlangt nach pflegepolitischen Lösungen, die am Ende der 19. Legislaturperiode auch schon in Aussicht gestellt wurden.

Die neue Bundesregierung wird sich also über kurz oder lang erneut dem Thema Pflege zuwenden müssen. Wie die aktuelle finanzielle Situation ist und was die Entscheider ins Visier nehmen sollten, erläutern Dietmar Haun und Klaus Jacobs in der ersten Analyse der neuen G+G-Wissenschaft.

Doch es muss noch mehr getan werden.

Zentral für gelingende Pflege ist schließlich auch, wer pflegt und wie gut er oder sie das machen kann. Dass Pflege oft ein Knochenjob ist, bei dem inzwischen Fachkräftemangel herrscht, wissen wir schon seit einigen Jahren. Wir haben sicher alle noch die pressewirksamen Bilder des bisherigen Bundesgesundheitsministers Jens Spahn aus Mexiko und im Kosovo im Kopf, wo er um entsprechendes Personal warb. Noch ist der Mangel nicht gebannt. Was es braucht, um qualifiziertes Personal langfristig im Pflegeberuf zu halten, untersucht Lukas Slotala daher in einer zweiten Analyse.

Auf den ersten Blick als Lesefutter für Experten mutet vielleicht unsere dritte Analyse an. Sie stammt von Antje Schwinger und Silvia Klein. Darin werden die Qualitätssicherung im Pflegeheim und im Krankenhaus verglichen und Folgerungen aus den teils enormen Unterschieden gezogen. Bei näherer Betrachtung sind die Überlegungen der Autorinnen aber weit über die Fachebene hinaus relevant. Schließlich bestimmen die momentanen Regelungen unter anderem, welche Entscheidungsgrundlagen Menschen bei der Auswahl eines geeigneten Pflegeheims haben.

Handlungsbedarf besteht auf allen drei Feldern. Die Redaktion der G+G-Wissenschaft behält das Thema auf dem Radar und meldet sich bei Bedarf mit weiteren Pflegeversicherungsschwerpunktthemenheften.