Bei der Suche nach digitalen Gesundheitsinformationen ist Kompetenz gefragt.
Prävention

Gesundheitskompetenz im System

Für ein gesundes, selbstbestimmtes Leben brauchen Menschen Informationen. Diese zu finden und anzuwenden, darf nicht allein vom Einzelnen abhängen, sagen Dr. Astrid Naczinsky und Anne Preising. Auch Krankenkassen sollten ihre Gesundheitskompetenz ausbauen.

Millionen vermeidbare

Krankenhausfälle, geringe Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen oder Fehler bei der Einnahme von Medikamenten sind ein Hinweis darauf, dass es um die Gesundheitskompetenz in Deutschland nicht zum Besten bestellt ist. Wie eine aktuelle AOK-Studie zeigt, haben 52 Prozent der Bürgerinnen und Bürger eine eingeschränkte digitale Gesundheitskompetenz (Kolpatzik, Mohrmann, Zeeb, 2020, siehe Lese- und Webtipps).

Trotz eines Nationalen Aktionsplans inklusive sieben Nationaler Strategiepapiere mit Handlungsempfehlungen hat sich die allgemeine Gesundheitskompetenz in den vergangenen sechs Jahren weiter verschlechtert. In einer Vergleichserhebung der Universität Bielefeld von 2014 und 2020 stieg der Anteil der Bevölkerung mit einer eingeschränkten Gesundheitskompetenz von 54 auf 64 Prozent (Hurrelmann et al., 2020, siehe Lese- und Webtipps).

Definition überdenken.

Angesichts dieser Situation fordern Wissenschaftler, die Definition der Gesundheitskompetenz zu überdenken. Nach bisherigem Verständnis handelt es sich dabei um das Wissen, die Motivation und die Fähigkeit, gesundheitsrelevante Informationen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden, um ein gesundes, selbstbestimmtes Leben zu führen (Sörensen et al., 2012).

Aktuell stellen sich – auch vor dem Hintergrund der Pandemie – zwei Fragen: Wird es schwieriger, sichere Gesundheitsinformationen zu finden und anzuwenden? Macht es das Gesundheitssystem selbst den Menschen nicht leicht genug, kompetent zu handeln?

Je einfacher ein System, desto effektiver ist seine Nutzung.

Das Deutsche Netzwerk Gesundheitskompetenz (DNGK) sieht die Verantwortung für die mangelnde Gesundheitskompetenz nicht nur beim Individuum, sondern auch bei den Systemen. Gemeinsam mit dem Deutschen Netzwerk Versorgungsforschung schlägt das DNGK eine Neudefinition vor: „Gesundheitskompetenz ist der Grad, zu dem Individuen durch das Bildungs-, Sozial- und/oder Gesundheitssystem in die Lage versetzt werden, die für angemessene gesundheitsbezogene Entscheidungen relevanten Gesundheitsinformationen zu finden, zu verarbeiten und zu verstehen.“ (Bitzer, Ernstmann, 2019, siehe Lese- und Webtipps)

Das entspricht einem Paradigmenwechsel. Es geht demnach nicht mehr in erster Linie darum, wie viel Gesundheitskompetenz jeder Einzelne mitbringt. Vielmehr sollten Organisationen den Einzelnen bestmöglich dabei unterstützen, seiner Gesundheit zuträgliche Entscheidungen zu treffen. Diese Neuausrichtung greift die AOK Rheinland/Hamburg für sich und ihr Handeln auf. Das Ziel ist ein Dreiklang: Zur allgemeinen und digitalen Gesundheitskompetenz kommt nun die organisationale Gesundheitskompetenz hinzu. Damit sind die Rahmenbedingungen gemeint, die das Bildungs-, Sozial- und/oder Gesundheitssystem setzen.

Rahmenbedingungen ändern.

Selbstverständlich muss es auch in Zukunft darum gehen, die Gesundheitskompetenz jedes Einzelnen zu stärken. Diesen Auftrag hat der Gesetzgeber für die digitale Gesundheitskompetenz mit dem Paragraf 20k im Sozialgesetzbuch V verankert.

Aber auch die Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen müssen sich ändern. Denn das System hat mit seinen Anforderungen und seiner Komplexität direkten Einfluss auf die allgemeine und die digitale Gesundheitskompetenz. Diese organisationale Gesundheitskompetenz gilt es zu steigern und auf digitale Technologien zu erweitern.

Messinstrument angepasst.

Doch wie gesundheitskompetent ist das Gesundheitssystem allgemein und speziell die AOK Rheinland/Hamburg? Dies hat die Krankenkasse mithilfe des „Düsseldorfer Kompass“ für sich ermittelt. Dabei handelt es sich um ein Selbstbewertungsinstrument. Es basiert auf einem Konzept, das eine Forschungsgruppe vom Ludwig Boltzmann Institut in Kooperation mit dem Österreichischen Netzwerk gesundheitsfördernder Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen bereits 2015 entwickelte. Dieses Konzept eignet sich in den meisten Punkten auch, um die Gesundheitskompetenz von Krankenversicherungen zu bewerten.
 
Die AOK Rheinland/Hamburg hat es unternehmensintern in einem mehrstufigen Konsensverfahren auf die Belange von Krankenversicherungen angepasst. Der so entstandene „Düsseldorfer Kompass“ zeigt, wie das Unternehmen aufgestellt ist und wo Entwicklungsbedarf besteht. Um es in Krankenversicherungen einzusetzen, wurden Substandards und Indikatoren entfernt, in denen es um rein medizinische Merkmale ging. Gleichzeitig sind andere hinzugekommen, um die Bedürfnisse dieser Organisationen abzubilden. Der Kompass umfasst wie das Konzept aus Österreich neun Standards (siehe Kasten „Düsseldorfer Kompass“), aber nur 14 Substandards und 60 Indikatoren.

Neun Standards:

 

  1. Managementgrundsätze und Unternehmensstrukturen für Gesundheitskompetenz etablieren.
  2. Die Gesundheitskompetenz der Mitarbeitenden verbessern.
  3. Die Gesundheitskompetenz der Versicherten verbessern.
  4. Eine unterstützende Umwelt schaffen – Orientierung sicherstellen.
  5. Mitarbeitende für die gesundheitskompetente Kommunikation qualifizieren.
  6. Mit Versicherten gesundheitskompetent kommunizieren.
  7. Materialien und Angebote partizipativ entwickeln und evaluieren.
  8. Zur Gesundheitskompetenz in der Region beitragen.
  9. Erfahrungen teilen und als Vorbild wirken.

Quelle: ONGKG/AOK Rheinland/Hamburg

Die Zusammenfassung aller Standards bildet das Gesundheitskompetenz-Niveau der bewerteten Krankenversicherung ab. Dabei bezieht sich das Ergebnis sowohl auf die Prozesse als auch auf die Strukturen. Der Kompass gibt jedoch keinen Hinweis darauf, inwieweit vorhandene Angebote und Maßnahmen gelebt und umgesetzt werden.

Als Unternehmensziel verankert.

Das bei der Basismessung im Jahr 2018 in der AOK Rheinland/Hamburg erreichte Gesundheitskompetenz-Niveau konnte bis zur Folgemessung 2020 deutlich gesteigert werden. Das ist zum einen darauf zurückzuführen, dass sich die Krankenkasse zur Förderung der Gesundheitskompetenz bekennt und sie als strategisches Unternehmensziel verankert hat. Darüber hinaus konnte sie die Gesundheitskompetenz der Mitarbeitenden steigern. Diese nahmen mit einer hohen Akzeptanz an Seminaren und Trainings teil. Die Steigerung der Gesundheitskompetenz ist derzeit fest in die Aus-, Fort- und Weiterbildung integriert.
 
Bei der ersten Folgemessung im Jahr 2020 erfüllten bereits 66 Prozent der abgefragten Prozesse und Strukturen die Standards einer gesundheitskompetenten Krankenversicherungsorganisation. Lediglich 34 Prozent waren es bei der Basismessung (siehe Grafik „Selbstbewertung belegt positive Entwicklung“). Die organisationale Gesundheitskompetenz wird künftig alle zwei Jahre gemessen. Im nächsten Schritt entwickelt die AOK unter Einbindung der Versicherten zielgruppenspezifische Angebote. Damit will sie ihre Versicherten in die Lage versetzen, Gesundheitsinformationen leichter zu finden, zu verstehen und anzuwenden – digital und analog.

Für nachhaltige Gesundheitsversorgung.

Eine starke Gesundheitskompetenz entsteht im Zusammenspiel des Individuums mit dem System. Deshalb gilt: Je einfacher ein System, desto effektiver seine Nutzung. Wichtig sind daher ein niedrigschwelliger Zugang, eine verbesserte Navigation sowie transparente Strukturen im Gesundheitswesen.

Grafik: Selbstbewertung belegt positive Entwicklung

Der „Düsseldorfer Kompass“ zeigt: Von 2018 bis 2020 ist die organisationale Gesundheitskompetenz der AOK Rheinland/Hamburg deutlich gestiegen. Waren bei der Basismessung 34 Prozent der Standards einer gesundheitskompetenten Krankenversicherungsorganisation erfüllt, lag der Erfüllungsgrad im Jahr 2020 bereits bei 66 Prozent (Kategorien „Vollständig“ und „Fast vollständig“).

Quelle: AOK Rheinland/Hamburg

Die Implementierung der Gesundheitskompetenz in eine Organisation ist ein langer und nicht immer einfacher Prozess. Er sollte im Sinne der Versicherten und Patienten offen und zielorientiert gestaltet werden. Ein guter Startpunkt ist der Blick ins eigene Unternehmen. Er lohnt sich – für eine nachhaltige Gesundheitsversorgung von morgen.

Astrid Naczinsky ist Stabsbereichsleiterin Versorgung/Medizin der AOK Rheinland/Hamburg.
Anne Preising ist Referentin im Stabsbereich Versorgung/Medizin der AOK Rheinland/Hamburg.
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