Interview

„Ich wünsche mir mehr Schlagkraft in Krisenzeiten“

Die Corona-Pandemie hält auch das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten in Atem. Direktorin Dr. Andrea Ammon zieht eine gemischte Bilanz der Krisenreaktion in Europa. Den Kampf gegen andere Krankheiten wie Aids oder Tuberkulose sieht sie durch die Pandemie beeinträchtigt.

Frau Dr. Ammon, wie ist Europa aus Ihrer Sicht bislang durch die Corona-Krise gekommen?

Andrea Ammon: Zu keinem Zeitpunkt gab es eine homogene Lage in der EU. Die Situation in den verschiedenen Ländern war stets unterschiedlich. Während sich manche Länder in der Krise befanden und sehr hohe Fallzahlen aufwiesen, die weit über das Ausmaß in Deutschland hinausgingen, standen andere ganz gut da. Entsprechend waren auch die Maßnahmen unterschiedlich. Es gab ein Auf und Ab mit den verschiedenen Wellen.

Porträt von Andrea Ammon, Leiterin des ECDC

Zur Person

Dr. Andrea Ammon ist eine deutsche Ärztin und leitet seit 2017 das ECDC, das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten. Zuvor war sie seit 2005 in mehreren Funktionen in dem Institut tätig, so etwa als Leiterin der Surveillance Unit. Vor dem Wechsel ans ECDC arbeitete Ammon in verschiedenen Funktionen am Robert Koch-Institut in Berlin, zuletzt als Chefin der Abteilung für Epidemiologie von Infektionskrankheiten. Ammon wurde 1996 in München promoviert.

Sind wir künftig besser gewappnet für neue Pandemien?

Ammon: Das ist schwer zu sagen. Viele Dinge, die wir gelernt haben, müssen jetzt implementiert werden. Wir haben gesehen, dass es für sehr viele Länder sehr schwierig war, eine repräsentative Überwachung der Fälle einzurichten. Viele haben sich einfach nur auf die Patienten in Krankenhäusern konzentriert, aber keine wirklich bevölkerungsrepräsentative Surveillance gehabt. Das machte Aussagen schwierig, wie die Lage wirklich im Land war. Und noch schwieriger war es dann, Vergleiche zwischen den Ländern zu ziehen. Klar ist: Unsere Vorbereitung war nicht optimal. Da muss jetzt genau hingeschaut werden, damit es beim nächsten Mal besser läuft. Es muss jetzt individuell in den einzelnen Ländern nach Lücken gesucht und analysiert werden, um in der Zukunft besser aufgestellt zu sein. Ich denke, wir haben viel gelernt, zum Beispiel wie sich Personal mobilisieren lässt. Aber das muss jetzt auch institutionalisiert werden in den Pandemieplänen, damit es nicht wieder verlorengeht. Arbeiten müssen wir an der Einsatzbereitschaft der Krankenhäuser. Da hat es insbesondere bei den kleinen Kliniken vor Ort oft gehakt.

Zu Beginn schien auch die Impfkampagne schlecht zu laufen ...

Ammon: Am Anfang ist es langsam angelaufen, das stimmt. Das lag aber insbesondere daran, dass die Hersteller Zeit brauchten, um die Impfdosen zu produzieren. In meinen Augen ist da nichts falsch gelaufen, außer dass diese Tatsache nicht gut genug und klar genug kommuniziert wurde. Für mich war immer klar, dass wir erst ab März oder April richtig mit dem Impfen loslegen können. Aus EU-Perspektive betrachtet: Viele der Länder sind ja kleiner als manche Bundesländer in Deutschland. Die hätten mit Sicherheit sehr viel später Impfstoffe bekommen, wenn die Vakzine nicht EU-weit eingekauft worden wären. Es war ein Akt der Solidarität, dass die großen Länder dem EU-Ansatz gefolgt sind, sodass jeder zum selben Zeitpunkt Impfstoff zur Verfügung hatte. Die großen Staaten hätten natürlich die Möglichkeit gehabt, auf eigene Faust an Impfstoff zu kommen.

Ist genug Vorsorge für diesen Herbst getroffen worden?

Ammon: Wir haben eine ähnliche Situation wie 2020: Die Lockdowns haben die neuen Fälle auf ein ganz niedriges Niveau reduziert. Und dann haben die Menschen im vergangenen Jahr gedacht, das Virus sei verschwunden. Was mitnichten so war. Und deswegen gab es dann diesen massiven Anstieg. Dieses Jahr wusste man, dass das Virus nicht weg ist und in Form der Delta-Variante weiter zirkuliert. In vielen Ländern waren die Regierungen daher zurückhaltender mit Öffnungen. Aber nicht überall. Diejenigen, die liberaler waren, haben jetzt zum Teil auch die höheren Fallzahlen. Solange nicht über 80 Prozent der Menschen voll geimpft sind, besteht einfach die Möglichkeit, dass der Rest der Bevölkerung von dem Virus noch befallen wird.

„Eine große Sorge machen mir die in der Pandemie ausgefallenen Impfungen für Kinder.“

In dem Zusammenhang wird ja oft über eine Impfpflicht diskutiert. Was halten Sie davon?

Ammon: Ich sehe sie skeptisch. Es gibt Länder, die ganz klar sagen: Wenn wir eine Impfpflicht einführen, dann hat das kontraproduktive Folgen. Viele Länder haben hohe Impfquoten auch ohne Impfpflicht. Es gilt, das wirklich von Fall zu Fall zu betrachten. Eine Impfpflicht, etwa für bestimmte Berufe, ist eine Möglichkeit. Aber sie ist kein Zauberstab.

Wie erfolgreich waren die bisherigen Lockdowns und was müssen wir künftig beachten?

Ammon: Die Lockdowns waren erfolgreich in dem Sinne, dass sie die Fallzahlen sehr stark gesenkt haben. Aber Lockdowns haben wirtschaftliche, soziale und psychische Folgen, die nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Sie sind auch kein Allheilmittel. Meiner Ansicht nach gibt es für die Zukunft weniger eingreifende Möglichkeiten, Barrieren für das Virus zu schaffen und Distanz aufzubauen, die zuerst in Betracht gezogen werden sollten. Dazu gehören der Gebrauch von Masken, das Abstandhalten und die Reduzierung der Anzahl der Menschen in Innenräumen. Die Zahl der Personen in Geschäften und Restaurants kann limitiert werden, sie müssen aber nicht notwendigerweise ganz geschlossen werden. Da sollten wir aus der Erfahrung schauen, was einen Effekt hat, aber nicht so eingreifend ist. Es gibt ja inzwischen Studien, die zeigen, wo die meisten Übertragungen stattfinden, zum Beispiel in Fitnesscentern. Aber auch da lassen sich vielleicht einfache Möglichkeiten finden, um Übertragungen zu reduzieren.

Werden wir auf Dauer mit Corona leben müssen und wird es solche Pandemien öfter geben in den nächsten Jahrzehnten?

Ammon: Ich glaube schon, dass Corona nicht verschwinden wird. Wir müssen daher einen Weg finden, wie wir dieses Virus in den Ablauf des täglichen Lebens integrieren. Dazu muss die Zahl der Geimpften europaweit deutlich steigen. Anders wird es nicht gehen. Ich bin sicher, dass es andere Pandemien nach Corona geben wird, sodass eine Investition in die pandemische Vorbereitung auf jeden Fall gerechtfertigt ist.

Welche Auswirkungen hat die Corona-Pandemie auf die Bekämpfung anderer Infektionskrankheiten wie etwa Tuberkulose, HIV/Aids und Malaria?

Ammon: Der Fortschritt im Kampf gegen diese Krankheiten ist erheblich verlangsamt, wenn nicht gar zurückgedreht worden. Das betrifft Tuberkulose und HIV ebenso wie Hepatitis. Aber das sind nicht die einzigen. Wir sehen einen Rückschritt schon allein aus dem Grund, weil diese Erkrankungen ja bestimmte Bevölkerungsgruppen besonders betreffen. Drogenaustauschprogramme wurden teils ausgesetzt oder Drogenzentren geschlossen, weil das Personal im Kampf gegen Corona gebraucht wurde. Auch der Generaldirektor der WHO hat gesagt, dass die Chance zunichte gemacht wurde, bis 2030 die Ziele für nachhaltige Entwicklung – die Sustainable Development Goals – zu erreichen. Eine große Sorge machen mir persönlich die Kinderimpfungen etwa gegen Diphterie, Tetanus, Haemophilus, Masern oder Mumps, die in der Pandemie in Europa oft ausgefallen sind. Wir haben damit jetzt schon zwei Jahrgänge, die möglicherweise Lücken in ihrer Grundimmunisierung haben. Diese Defizite müssen wir dringend analysieren. Und dann müssen wir bei den Impfungen jetzt schnell aufholen.

Das European Centre for Disease Prevention and Control hat als EU-Agentur die Aufgabe, Europas Abwehr gegen Infektionskrankheiten wie HIV, Grippe und Tuberkulose zu stärken. Zum Aufgabenspektrum gehören unter anderem die Überwachung, die epidemische Aufklärung, die Reaktion auf Krankheitsausbrüche, die wissenschaftliche Beratung und Vorsorge. Die Gründung des ECDC geht zurück auf eine Entscheidung des Europäischen Parlaments und des Rates aus dem Jahr 1998. Die Eröffnungskonferenz fand 2005 im schwedischen Solna statt, wo das Institut seitdem seinen Sitz hat.

 Weitere Informationen über das ECDC

Erklärtes Ziel der UN ist es, die Aids-Epidemie bis 2030 zu beenden. Halten Sie das für realistisch?

Ammon: Aids bis 2030 auszurotten, kann ich mir schon vorstellen. Aber es wird nicht von allein geschehen und es wird nicht passieren, ohne dass die Länder Extraanstrengungen unternehmen. Wir haben in den vergangenen zehn Jahren in der EU eine konstante Abnahme der HIV-Infektionen, die ja irgendwann zu Aids führen können. Aber: Die Hälfte der HIV-Diagnosen erfolgt zu einem Zeitpunkt, zu dem die betroffenen Personen schon eine sehr niedrige Anzahl der für die Immunabwehr wichtigen CD4-Zellen haben, also zu einem relativ späten Zeitpunkt. Das heißt, es muss noch viel passieren, damit die Infektion früh diagnostiziert wird und die Menschen früher eine Therapie erhalten und nicht noch weitere Menschen anstecken. Selbstverständlich müssen wir auch die HIV-Prävention stärken.

Sind die Menschen bei der Prävention nachlässiger geworden, weil es gute Arzneimittel gibt, um HIV in Schach zu halten?

Ammon: Ja, ganz klar. Es gibt durch die besseren Medikamente eine neue Nachlässigkeit beim Schutz vor HIV/Aids. Das lässt sich daran sehen, dass andere sexuell übertragbare Erkrankungen ebenfalls zunehmen, etwa Syphilis und Gonorrhoe. Daraus lässt sich schließen, dass die Abnahme der HIV-Infektionen nicht darauf zurückzuführen ist, dass die Menschen vorsichtiger sind, sondern einfach auf die bessere Therapie.

Kommen wir zum Thema Antibiotika. Diese werden bekanntermaßen zu häufig eingesetzt. Gibt es Fortschritte zu vermelden?

Ammon: Es gibt einzelne Sektoren in einigen Ländern, wo der Antibiotikaeinsatz abnimmt, aber in anderen Staaten steigt die Anwendung an. Insgesamt ist die Situation nicht zufriedenstellend. Wir haben zu hohe Zahlen von multiresistenten Keimen. Das zeigen zahlreiche Risikobewertungen unseres Instituts. Dabei handelt es sich um Keime, die sogar gegen die Last-Line-Antibiotika resistent sind, die bei einer Infektion als letzter Ausweg gegeben werden sollen. Das ist sehr besorgniserregend.

Sprechen wir über Ihr Institut, das ECDC. Wo sehen Sie seine Hauptaufgabe, gerade jetzt in der Corona-Pandemie?

Ammon: Die Aufgaben sind die gleichen wie vorher. Sie sind jetzt nur sehr fokussiert auf Covid-19. Die Hälfte der anderen Arbeit können wir nicht machen, weil wir uns auf Corona konzentrieren müssen. Unsere Aufgabe ist es, Infektionskrankheiten zu identifizieren, zu bewerten und den Gesundheitsbehörden in den Mitgliedstaaten Auswertungen zur Verfügung zu stellen. Dazu übermitteln uns die EU-Länder Zahlen zu vielen meldepflichtigen Erkrankungen, die sie selbst erheben. Aber das dauert manchmal ein bisschen. Deswegen haben wir ein zweites Standbein: Wir lassen bestimmte Begriffe durch Suchmaschinen im Internet und durch die Sozialen Medien laufen, um Ereignisse frühzeitig zu erfassen. Wir erstellen unter anderem auch einen täglichen Bericht, den die Gesundheitsbehörden der EU und die Regierungen bekommen.

Die EU-Kommission möchte eine europäische Gesundheitsunion aufbauen und das EU-Parlament hat dafür gestimmt, das ECDC personell zu stärken und mit mehr Kompetenzen auszustatten. Was wünschen Sie sich in dem Zusammenhang?

Ammon: Wir verfolgen die Diskussionen in den EU-Institutionen mit großem Interesse und werden sehen, was am Ende herauskommt. Ich wünsche mir zumindest in Krisenzeiten mehr Schlagkraft, was zum Beispiel Test-Strategien oder Surveillance-Strategien in Europa anbelangt. Natürlich kann die EU nicht auf zentraler Ebene entscheiden, was zu machen ist. Aber für das, was EU-weit miteinander verglichen wird – zum Beispiel als Grundlage für Reiseempfehlungen oder Reiserestriktionen –, würde ich mir wünschen, dass man uns ein bisschen mehr Durchschlagskraft gibt.

Sollte das ECDC noch mehr Aufmerksamkeit bekommen?

Ammon: Wir haben sicher mehr Beachtung gefunden in letzter Zeit. Was wir sagen und was wir als Berichte herausgeben, wird eindeutig stärker wahrgenommen. Da wir keine Regulationskompetenz haben – wir können den Ländern ja nicht vorschreiben, was sie tun sollen –, können wir vielleicht nicht so viel Aufmerksamkeit erwarten. Aber es wäre schön, wenn gerade für Bereiche, wo wir EU-weite Vergleiche ziehen, die Implementierung in den Mitgliedstaaten ein bisschen standardisierter laufen würde und Dinge häufiger so gemacht würden, wie wir das vorschlagen.

Thorsten Severin führte das Interview. Er ist Redakteur der G+G.
Oliver Weiss ist Illustrator und Designer.
Bildnachweis: ECDC