Gemeinsam geht es leichter – das gilt auch in der Pflege.
Kongress

Neues Miteinander in der Pflege

Mehr Hilfen für Angehörige, mehr interprofessionelle Teamarbeit, mehr maßgeschneiderte Lösungen für Stadt und Land: Wie die Pflege die Herausforderungen von morgen meistern kann, diskutierten Experten beim Deutschen Pflegetag. Von Christine Möllhoff

Klare Worte

wählte Christine Vogler: Der Pflegenotstand sei aus ihrer Sicht das drängendste Problem „gleich nach der Klimakatastrophe“, befand die Präsidentin des Deutschen Pflegerats. Mehr als 4,1 Millionen Menschen sind heute auf Pflege angewiesen. Bis zum Jahr 2030 könnten es 5,1 Millionen sein. Beim Deutschen Pflegetag diskutierten Expertinnen und Experten Antworten auf die Herausforderungen. In einem waren sich die Teilnehmer einig: Die Pflege von morgen braucht ein neues Zusammenspiel zwischen Ärzten und Pflegekräften.

Für einen grundlegenden Perspektivwechsel trat der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Martin Litsch, ein. Bisher richte sich das System an den Leistungserbringern aus. Es müsse sich aber stärker an den Bedürfnissen der Betroffenen orientieren. Zentral sei auch eine Stärkung der Angehörigen, die die meisten Pflegebedürftigen betreuten. Dem stimmte Andreas Westerfellhaus zu. Professionelle Pflege und Angehörigenpflege müssten besser ineinander­greifen, so der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung.

Kompetenzen erweitern.

Größte Herausforderung bleibt der Personalmangel an Pflegekräften. Als Irrtum bezeichnete Michael Ranft, Staatssekretär im Brandenburger Gesundheitsministerium, den Glauben, das Problem ließe sich durch ausländisches Personal lösen. Vielmehr gelte es, Kompetenzen gezielter zu nutzen. „Wir müssen die Fachkräfte sinnvoll und effizient einsetzen“, so Ranft. Die Akademisierung der Pflege sei ein richtiger Schritt. Wenn Pflegekräfte mehr medizinische Tätigkeiten übernehmen könnten, entlaste dies die Ärzte. Bisher hänge jedoch mehr Teamarbeit von der Initiative Einzelner ab.

Es ist an der Zeit, die starren Sektorengrenzen zu überwinden.

Das bestätigte Sandra Postel vom Errichtungsrat der Pflegekammer Nordrhein-Westfalen. Die Fähigkeiten der Pflegekräfte würden regional sehr unterschiedlich abgerufen, so die Expertin. In der Praxis seien den Pflegekräften oft die Hände gebunden. Als Beispiel nannte sie die Wundversorgung. Bisher dürften Pflegekräfte keine Heilmittel dafür verordnen. Dies bleibe Ärzten vorbehalten. Die Ärzte würden dies gerne abgeben, entgegnete Erik Bodendieck, Präsident der sächsischen Landesärztekammer. Aber solange die Ärzteschaft für die Budgets hafte, würde sie „Nein sagen“.
 
Als Basis einer neuen Teamarbeit sieht AOK-Vorstand Litsch Versorgungsaufträge mit einer klaren Rollenverteilung. Es müsse geregelt sein: „Was ist Dein Job dabei und was ist mein Job dabei.“ Andernfalls käme es zu Streit. Wie ein ­neues Zusammenspiel zwischen Pflege und Ärzten aussehen kann, erprobt die AOK seit März 2020 beispielsweise in Rheinland-Pfalz im Projekt „HandinHand“. Dort übernehmen speziell geschulte Pflege­kräfte ärztliche Aufgaben wie Hausbesuche, um Hausärzte zu entlasten und so die ärztliche Versorgung im ländlichen Raum zu sichern.

Regionale Lösungen gefragt.

Einig waren sich die Teilnehmer, dass regionale Lösungen erforderlich sind. Die Versorgungsbedürfnisse auf dem Land und in der Stadt seien zu unterschiedlich für Einheitslösungen. Wir müssen es vor Ort regeln“, betonte Bodendieck.

Um die psychische Gesundheit pflegender Angehöriger zu stärken und sie vor Überlastung zu schützen, bietet das kostenlose und anonym nutzbare Online-Selbsthilfe-Programm „Familiencoach Pflege“ der AOK Tipps, interaktive Übungen, Videos und Audios.

Dem pflichtete AOK-Vorstand Litsch bei: In der vergangenen Legislatur sei Vieles zentralisiert worden. Die Akteure benötigten aber Spielraum für maßgeschneiderte Lösungen vor Ort. „Gesundheitliche Versorgung ist immer lokal. Versorgungsaufträge müssen neu definiert sowie sektoren- und professionsübergreifend ausgestaltet werden“, so Litsch. Die bestmögliche Versorgung der Menschen müsse immer an erster Stelle stehen. Daher sei es an der Zeit, „die starren Sektorengrenzen im Gesundheitswesen zu überwinden“, nannte Litsch als eine wesentliche Aufgabe der künftigen Bundesregierung.

Reformdruck wächst.

Frustriert zeigte sich Pflegebevollmächtigter Westerfellhaus über das zähe Tempo der Veränderungen. Entscheidend sei es nun, innovative Ansätze in die Fläche zu bringen. Auch Ranft sieht wachsenden Handlungsdruck. Er sprach sich für einen Pflege­gipfel aus, um Reformen voranzubringen. Die Corona-Krise habe Vieles ausgebremst, sagte er und warnte: „Wenn wir weitere vier Jahre vertändeln, mache ich mir große Sorgen, da Versorgungs­defizite drohen.“

Christine Möllhoff schreibt als freie Journalistin über Gesundheitsthemen.
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