Familiengesundheit

Corona schwächt den Kinderschutz

Die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen haben Kindern und Jugendlichen viel abverlangt. Psychische Belastungen, aber auch Kindeswohlgefährdungen und Gewaltdelikte gegen Kinder haben zugenommen. Welchen Preis Heranwachsende in den letzten Monaten gezahlt haben und was nun zu tun ist, beschreibt Dr. Silke Heller-Jung.

Der Geschäftsführer der Deutschen Kinderschutzstiftung Hänsel+Gretel, Jerome Braun, fand klare Worte: Die Einbußen beim Kinderschutz seien der „größte Kollateralschaden der Corona-Pandemie“. Auch der Expertenrat der Bundesregierung zu Covid-19 redete im Februar dieses Jahres nicht um den heißen Brei herum. Die Krankheitslast „durch psychische und physische Erkrankungen der Kinder und Jugendlichen, ausgelöst unter anderem durch Lockdown-Maßnahmen, Belastungen in der Familie wie Angst, Krankheit, Tod oder Existenzverlust, Verlust an sozialer Teilhabe und Planungsunsicherheit“ sei „schwerwiegend“.

Acht von zehn Kindern sind belastet. Ein detailliertes Bild der Corona-Auswirkungen auf die Jugend zeichnet die COPSY-Studie. In dieser Längsschnittuntersuchung erheben Forschende des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf seit Beginn der Pandemie Daten zur seelischen Gesundheit und zum Wohlbefinden Heranwachsender in Zeiten von Corona. Eine erste Befragung von Kindern, Jugendlichen und Eltern zwischen Mai und Juni 2020 ergab, dass das Risiko für psychische Auffälligkeiten von rund 18 Prozent vor Corona auf 31 Prozent während der Krise gestiegen war. Die Kinder und Jugendlichen zeigten häufiger Auffälligkeiten wie Hyperaktivität (24 Prozent), emotionale (21 Prozent) und Verhaltensprobleme (19 Prozent).

Psychosomatische Beschwerden traten ebenfalls vermehrt auf. Auch in den Familien hatte sich die Stimmung deutlich verschlechtert: Von einer Zunahme von Streitigkeiten berichteten 27 Prozent der Heranwachsenden und 37 Prozent der Eltern. Zwar war bei der dritten Befragung, die von Mitte September bis Mitte Oktober 2021 (also noch vor der Omikron-Welle) stattfand, eine leichte Besserung zu verzeichnen. Professorin Ulrike Ravens-Sieberer, die Leiterin der COPSY-Studie, führte diese auf „das Ende der strikten Kontaktbeschränkungen, die Öffnung der Schulen sowie der Sport- und Freizeitangebote“ zurück. Gleichwohl traten psychosomatische Stresssymptome nach wie vor deutlich häufiger auf als vor der Pandemie; acht von zehn Heranwachsenden fühlten sich durch Corona belastet.

Porträt von Monika Lersmacher, alternierende Vorsitzende des Verwaltungsrates der AOK Baden-Württemberg.

„Entwicklungen bereiten uns große Sorgen“

Im G+G-Interview spricht Monika Lersmacher über die Situation der Kinder und Jugendlichen nach zwei Jahren Corona-Pandemie sowie notwendige Präventionsmaßnahmen.

Die Probleme ziehen sich quer durch alle Altersgruppen. Schon Kleinkinder zeigten teilweise Anzeichen psychischer Belastung, berichtete die Psychologin Silvia Schneider, Professorin an der Ruhr-Universität Bochum, in einem Interview im Webauftritt des Bundesforschungsministeriums. Die online durchgeführte Covid-19-Zusatzstudie des Beziehungs- und Familienpanels pairfam, für die zwischen Mai und Juli 2020 unter anderem über 850 junge Erwachsene zwischen 16 und 19 Jahren befragt wurden, ergab, dass gegen Ende des ersten Lockdowns jeder vierte junge Mensch in Deutschland deutliche Anzeichen einer Depression beschrieb – mehr als doppelt so viele wie vor dem Ausbruch der Pandemie.

Genervte Eltern, gestresste Kinder.

Durch die Schulschließungen brachen wichtige stabilisierende Alltagsstrukturen weg. Kinder und Jugendliche bewegten sich weniger und ernährten sich häufig ungesünder. Die Mediennutzung stieg stark an. Auch soziale Interaktionen waren oft nur virtuell möglich, was nach Ansicht von Experten soziale Reifungs- und Entwicklungsprozesse nachhaltig beeinträchtigen kann. Die Schulschließungen führten bei einem Teil der Kinder zu erheblichen Lernrückständen. Erhebungen wie das Deutsche Schulbarometer zeigten, dass diese bei Kindern aus ärmeren Haushalten und an Schulen in weniger wohlhabenden Stadtteilen besonders ausgeprägt waren und sind.

Insgesamt 11,1 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland waren laut einer Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung durch die Schließungen von Kinderbetreuungseinrichtungen und Schulen unmittelbar betroffen. Rund 10,5 Millionen Eltern von Kindern unter zwölf Jahren standen während der lockdownbedingten Schließungen vor der Herausforderung, Beruf, Kinderbetreuung und Homeschooling zu koordinieren. Viele Eltern waren durch Sorgen um die Gesundheit und den Arbeitsplatz sowie weitere Faktoren zum Teil selbst schwer belastet. Im April 2021 gingen allein bei der bundesweiten Telefon- und Onlineberatung „Nummer gegen Kummer“ jeden Tag mehr als 1.600 Anfragen von ratsuchenden Kindern, Jugendlichen und auch Eltern ein – deutlich mehr als im Vorjahr.

Pandemie hat Risiken verschärft.

Das häusliche Umfeld hatte jedoch einen maßgeblichen Einfluss darauf, wie gut Kinder und Jugendliche durch die Pandemie kamen und kommen, betonte die Bochumer Professorin Schneider: „Die psychische Befindlichkeit von Kindern und Jugendlichen muss immer im Kontext mit der psychischen Befindlichkeit der Eltern gesehen werden. Geht es den Eltern gut, geht es den Kindern gut und umgekehrt.“

Grafik: Diagramm zum Thema Kindeswohlgefährungen auf Höchststand, dargestellt nach Art der Gefährung

Die Zahl der Kindeswohlgefährdungen hat während des Corona-Jahrs 2020 den höchsten Stand seit dem Beginn der statistischen Erfassung erreicht. Insbesondere die Fälle von Vernachlässigung und psychischer Misshandlung stiegen deutlich an.

Quelle: destatis

Kinder, die in einem stabilen familiären Umfeld aufwachsen, seien statistisch betrachtet am wenigsten gefährdet, bestätigte auch COPSY-Studienleiterin Ravens-Sieberer im Interview mit dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“. Der Deutsche Kinderschutzbund mahnte bereits 2020: „Beengte Wohnverhältnisse, wenige Gelegenheiten, Freizeitangebote wahrzunehmen, Angst vor Jobverlust und geringerem Einkommen der Eltern sowie Überlastungen im Alltag steigern das Risiko von Stresssituationen in der Familie.“ Und die naturwissenschaftliche Gesellschaft Leopoldina konstatierte im Sommer 2021, die Pandemie wirke als Verstärker bereits zuvor bestehender Ungleichheiten und Entwicklungsrisiken, wobei eine Kumulation von Belastungen die Wahrscheinlichkeit negativer Auswirkungen erhöhe.

Mehr Gewalt registriert.

Experten wie Dr. Stephan Hofmeister, der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, warnten schon früh davor, dass die Corona-bedingten Einschränkungen auch zu einem Anstieg von Konflikten und häuslicher Gewalt führen könnten. Im Gespräch mit den „PraxisNachrichten“ sagte Hofmeister im Frühjahr 2020: „Für Kinder steigt das Risiko, misshandelt und missbraucht zu werden.“ Rund ein Jahr später zog Bernd Siggelkow, der Gründer des Kinder- und Jugendhilfswerks „Die Arche“, ein bitteres Fazit. „Während des Lockdowns wäre es theoretisch für viele Kinder sicherer gewesen, in einem dunklen Park spazieren zu gehen, als sich im eigenen Kinderzimmer aufzuhalten“, bilanzierte er in seinem Buch „Kindheit am Rande der Verzweiflung“ und verwies auf die Zahlen der im Mai 2021 vorgestellten Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS). Laut dieser Statistik sind im ersten Pandemiejahr 2020 in Deutschland 152 Kinder gewaltsam zu Tode gekommen – rund ein Drittel mehr als 2019. 115 der Todesopfer waren jünger als sechs Jahre. Die Misshandlung Schutzbefohlener nahm um zehn Prozent zu (2020: 4.918 Fälle). Die Fälle von Kindesmissbrauch stiegen um 6,8 Prozent auf über 14.500 Fälle, und die Zahl der registrierten Fälle von Kinderpornografie schnellte um 53 Prozent auf 18.761 hoch.

Weniger Hinweise aus Schulen und Kitas.

Die Jugendämter in Deutschland nahmen im Jahr 2020 rund 45.400 Kinder und Jugendliche zu ihrem Schutz vorübergehend in Obhut. In zwei Drittel (67 Prozent) der Fälle war der Grund dafür eine dringende Kindeswohlgefährdung. Insgesamt stellten die Jugendämter im ersten Corona-Jahr bei fast 60.600 Kindern und Jugendlichen eine Kindeswohlgefährdung fest – mehr als je zuvor seit Einführung der Statistik im Jahr 2012 (siehe Kasten „Kindeswohlgefährdung auf neuem Höchststand“). Die Zahl der Verdachtsmeldungen stieg gegenüber 2019 um zwölf Prozent auf insgesamt knapp 194.500 Fälle, obwohl aufgrund der Lockdowns deutlich weniger Hinweise aus Schulen und Kitas eingingen. Die meisten Hinweise (27 Prozent) auf mögliche Kindeswohlgefährdungen kamen während der Pandemie von Verwandten, Nachbarn oder Bekannten, fast ebenso viele von Polizei und Justizbehörden. Maßgeblich für die Feststellung einer Kindeswohlgefährdung ist, dass eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls eines Kindes droht oder bereits eingetreten ist. Knapp jeder dritte Verdacht (31 Prozent) bestätigte sich bei einer Überprüfung durch die Jugendämter. In einem weiteren Drittel (34 Prozent) der Fälle stellten die Behörden zwar keine Gefährdung, aber weiteren Hilfebedarf fest.

Die Dunkelziffer ist hoch.

Administrative Datensätze, wie die Jugendhilfestatistik oder die polizeiliche Kriminalstatistik, sind wichtige Informationsquellen über das Ausmaß von Kindesmisshandlung. Sie bilden aber nur die Fälle ab, von denen die entsprechenden Institutionen Kenntnis erhalten haben. Die Dunkelziffer liegt Schätzungen zufolge um ein Vielfaches höher.

„Während des Lockdowns wäre es für viele Kinder in einem dunklen Park sicherer gewesen als im Kinderzimmer.“

Die Vereinten Nationen haben ein gewaltfreies Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen als eines der zentralen Nachhaltigkeitsziele benannt, die bis zum Jahr 2030 erreicht werden sollen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht davon aus, dass weltweit jedes Jahr eine Milliarde Kinder und Jugendliche zwischen zwei und 17 Jahren von physischer, sexualisierter oder psychischer Gewalt betroffen ist. In Deutschland fand das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung im Jahr 2000 Eingang in das Bürgerliche Gesetzbuch. Dennoch stellen aus Sicht des Kinder- und Jugendpsychiaters Professor Jörg Fegert die in den amtlichen Statistiken erfassten Fälle von Kindesmisshandlung und -missbrauch auch in Deutschland lediglich die Spitze des Eisbergs dar.

Steigender Beratungsbedarf bei Ärzten.

Fegert ist Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm und Mitbegründer der Medizinischen Kinderschutzhotline, einem vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderten bundesweiten und 24 Stunden erreichbaren telefonischen Beratungsangebot für Angehörige der Heilberufe, der Kinder- und Jugendhilfe sowie die Familiengerichte. Die Hotline unterstützt diese bei Verdachtsfällen von Kindesmisshandlung, Vernachlässigung und sexuellem Kindesmissbrauch mit wissenschaftlicher Expertise und berät zu Handlungsmöglichkeiten und Ansprechpartnern. Bei insgesamt steigenden Anruferzahlen ging während der Lockdown-Monate die Zahl der Anrufe jeweils vorübergehend zurück, um anschließend wieder in die Höhe zu schnellen. In den Beratungsgesprächen zeigte sich, dass während der pandemiebedingten Einschränkungen Gewalt gegen Kinder in etlichen Familien erstmals drohte, tatsächlich neu auftrat oder eine vorhandene Gewaltproblematik sich verstärkte. Gleichzeitig war das Thema des sexuellen Missbrauchs während der Lockdown-Phase seltener Gegenstand von Anfragen. Der Grund dafür lag nach Einschätzung des Hotline-Teams darin, dass aufgrund der Kontakteinschränkungen und der Schulschließungen Betroffene weniger Möglichkeiten hatten, sich an eine erwachsene Person außerhalb des Haushalts zu wenden und Hilfe, beispielsweise in Form einer Vorstellung bei einem Arzt, zu erhalten.

Potenzielle Helfer stärken.

Die Chance, sich jemandem anzuvertrauen, der damit nicht überfordert ist, ist nach Fegerts Ansicht essenziell. In einem Podcast der Kinderschutz-Stiftung „Hänsel+Gretel“ sagte er im September 2021: „Die wichtigste Präventionsform ist die Bystander-Prävention: dass man Eltern kompetent macht, dass man Lehrerinnen und Lehrer kompetent macht – die Leute, die um Kinder herumstehen und potenzielle Ansprechpartner sind.“ Dazu gehörten auch Mitschülerinnen und Mitschüler und deren Eltern – kurz, alle „Personen, denen sich Kinder anvertrauen“, damit diese „kompetent Hilfe geben können“.

Wie kann medizinischer Kinderschutz sektorenübergreifend gelingen? Um diese Frage geht es im Projekt MeKidS.best, in dem neun Kinder- und Jugendkliniken sowie zuweisende pädiatrische Praxen im Großraum Ruhrgebiet zusammenarbeiten. Das mit Mitteln des Innovationsfonds geförderte Projekt soll die Erkennung von Kindeswohlgefährdung, dessen Diagnostik und rechtssichere Dokumentation, die Überleitung von den medizinischen Einrichtungen an die Jugendämter sowie die Inanspruchnahme medizinischer Expertise durch die Akteure der Jugendhilfe verbessern. Ziel ist es, betroffenen Kindern und Jugendlichen sowie deren Familien ein niederschwelliges System aus medizinischen Versorgungsangeboten und Leistungen der Jugendhilfe zugänglich zu machen. Gleichzeitig werden in den Kinder- und Jugendkliniken sowie den pädiatrischen Praxen Strukturen aufgebaut, die Vernachlässigung, Misshandlung und sexuellen Missbrauch besser erkennbar machen. Das Netzwerk MedEcon Ruhr führt das Projekt gemeinsam mit 20 weiteren Projektpartnern, darunter auch die AOK Rheinland/Hamburg, durch. 


 Weitere Informationen über MeKidS.best

Der Kinderschutz ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, bei der den Jugendämtern eine zentrale Rolle zukommt. Daneben engagieren sich viele weitere Akteure auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene, aber auch im Gesundheitswesen. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung etwa hat unter anderem ein eigens auf den ambulanten Gesundheitsbereich zugeschnittenes E-Learning-Angebot zum Thema Kinderschutz geschaffen. Die 2008 gegründete Arbeitsgemeinschaft „Kinderschutz in der Medizin“ entwickelte schon früh einen ersten Leitfaden für medizinischen Kinderschutz in Kliniken. Verschiedene Bundesländer unterhalten Kompetenzzentren für Kinderschutz, die das Wissen aus verschiedenen Fachgebieten vernetzen. Die 2019 veröffentlichte „Leitlinie Kindesmisshandlung, -missbrauch, -vernachlässigung unter Einbindung der Jugendhilfe und Pädagogik“ gibt einen Überblick über zentrale Kinderschutzfragen und detaillierte Handlungsempfehlungen für das Vorgehen bei Verdachtsfällen.

Jedes Kind soll Hilfe erhalten.

In einem Impulspapier, das die Deutsche Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin ­(DGKiM) im Dezember 2021 gemeinsam mit dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) und dem Netzwerk der Gesundheitswirtschaft an der Ruhr (MedEcon Ruhr) vorlegte, unterstrichen die Mediziner die zentrale Bedeutung von Praxen und Kliniken für den Kinderschutz und forderten: „Jedem von einer Kindeswohlgefährdung betroffenen Kind, das an irgendeiner Stelle im Gesundheitssystem vorstellig wird, soll die jeweils notwendige medizinische Expertise und Hilfe zuteilwerden.“ Strukturen für den Kinderschutz müssten „entlang der Versorgungsketten im Gesundheitssystem standortunabhängig nach den gleichen Regeln, Mechanismen und Logiken organisiert“ werden. Außerdem müsse medizinischer Kinderschutz als Aufgabenfeld der Daseinsvorsorge immer auch integrierter Bestandteil sozialräumlich orientierter Versorgungsmodelle sein. Wichtig sei auch eine intensive Vernetzung der einzelnen Akteure. Wie eine solche intensivierte Zusammenarbeit im Kinderschutz funktionieren kann, wird derzeit in dem durch den Innovationsfonds geförderten Modellprojekt MeKidS.best im Ruhrgebiet erprobt (siehe Kasten „MeKidS.best: Medizinischer Kinderschutz“).

Corona-Folgen für Heranwachsende abmildern.

Kinder und Jugendliche haben während der Corona-Pandemie einen hohen Preis gezahlt: von erheblichen Einbußen in Freizeit und Bildung über emotionale und psychische Belastungen bis hin zu Gewalt­erfahrungen, die nicht wenige Kinder machen mussten. Fachleute fordern vor diesem Hintergrund, zum einen die gegenwärtigen und künftigen Schutzmaßnahmen gegen Corona stärker als bisher am Wohl und den Interessen der Heranwachsenden auszurichten. Zum anderen mahnen sie an, frühzeitig Konzepte zu entwickeln, um die negativen Folgen der Pandemie für die jungen Menschen bestmöglich aufzufangen und auszugleichen.

So unterstrich der Expertenrat der Bundesregierung zu ­Covid-19 Mitte Februar dieses Jahres in seiner siebten Stellungnahme ausdrücklich die Notwendigkeit einer prioritären Berücksichtigung des Kindeswohls in der Pandemie. „Ein auf Basis der UN-Kinderrechts-Konvention verantwortungsvoller Umgang mit Kindern und Jugendlichen in der Pandemie“ bedürfe „eines klaren öffentlichen Bekenntnisses dazu sowie großer gesamtgesellschaftlicher Anstrengungen“.

Die Expertinnen und Experten fordern, die Heranwachsenden bestmöglich vor Infektionen zu schützen. An Entscheidungen über Corona-Maßnahmen sollten die Heranwachsenden partizipativ beteiligt werden, zudem müssten Zugangsbeschränkungen für Freizeitangebote „einheitlich nach dem Prinzip der maximal möglichen Teilhabe“ gestaltet werden. Die negativen Folgen der Pandemie auf die „Lebensqualität dieser Generation müssen abgemildert und die bereits eingetretenen nachteiligen Effekte bestmöglich kompensiert werden“. Dies müsse auch den Umgang mit Leistungsdruck einbeziehen, den Kinder und Jugendliche aufgrund des Ausfalls von Unterricht erlebten. Erneute Schulschließungen dürften allenfalls als Ultima Ratio in Betracht gezogen werden. Erforderlich seien auch „niedrigschwellige, an sozialen Kriterien orientierte Betreuungsangebote für gefährdete Familien“ sowie „die prioritäre Entwicklung und schnelle Umsetzung von Maßnahmen und Programmen, die nicht nur die pandemiebedingten Defizite kompensieren helfen, sondern vorrangig zum Ziel haben, die bereits zuvor bestehenden Ungleichheiten in Bildungs- und Entwicklungschancen von Kindern und Jugendlichen nachhaltig zu verbessern“. Nicht zuletzt müsse sowohl im ambulanten wie auch im stationären Sektor auch „die medizinische Versorgungssituation im kinder- und jugendpsychiatrischen, kinder- und jugendmedizinischen sowie sozialpädiatrischen Bereich“ entsprechend den Vereinbarungen im aktuellen Koalitionsvertrag mit hoher Priorität verbessert und eine auskömmliche Finanzierung sichergestellt werden.

Silke Heller-Jung hat in Frechen bei Köln ein Redaktionsbüro für Gesundheitsthemen.
Bildnachweis: iStock.com/Vladimir Vladimirov, AOK Baden-Württemberg