Pflegerisiko

Debatte: Politik nachhaltiger gestalten

Menschen mit geringem Einkommen haben eine niedrigere Lebenserwartung und werden schneller pflegebedürftig. Welche sozialpolitischen Reformen diese Nachteile beseitigen könnten, erläutern Prof. Dr. Peter Haan und Dr. Johannes Geyer.

Unsere Gesellschaft wird immer älter.

Es ist zu erwarten, dass die Zahl der Hochbetagten – also Menschen über 80 Jahre – deutlich zunehmen wird. Das Statistische Bundesamt prognostiziert 9,6 Millionen Menschen in dieser Altersgruppe im Jahr 2050. Heute sind es knapp sechs Millionen. 40 Prozent von ihnen beziehen Leistungen der Pflegeversicherung. Es scheint, als führe die Alterung der Gesellschaft quasi wie selbstverständlich zu einer Zunahme der pflegebedürftigen Menschen. Doch diese Sichtweise ist verkürzt und zum Teil unzutreffend. Denn allein aus dem Älterwerden ergeben sich weder Krankheiten noch Pflegebedürftigkeit. Klar ist: Die Risiken für gesundheitliche und funktionelle Einschränkungen steigen mit dem Alter. Aber ob es wirklich dazu kommt, hängt entscheidend von weiteren Faktoren ab, die nicht direkt etwas mit dem Alter zu tun haben. Dazu zählen das Gesund­heits­verhalten, die Arbeitsbelastung, die sozialen und materiellen Ressourcen und das Gesundheitssystem.

Studie belegt Einfluss auf Pflegebedürftigkeit.

Dieser Zusammenhang lässt sich empirisch belegen. Eine aktuelle Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) auf Basis von Daten des Sozio-oekonomischen Panels zeigt, dass Männer, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verdient haben, etwa sechs Jahre früher auf häusliche Pflege angewiesen sind als Männer mit mehr als 150 Prozent des mittleren Einkommens. Bei Frauen beträgt die Differenz rund dreieinhalb Jahre. Ähnliche Unterschiede finden sich auch nach beruflicher Stellung: Arbeiterinnen und Arbeiter werden durchschnittlich etwa vier Jahre früher pflegebedürftig als Beamtinnen und Beamte. Auch berufliche Belastungen erhöhen das Pflegerisiko. Männer, die einer hohen beruflichen Belastung ausgesetzt sind, sind im Durchschnitt fast fünf Jahre früher pflegebedürftig als solche mit einer geringen beruflichen Belastung. Bei Frauen fallen die Unterschiede mit etwa zweieinhalb Jahren etwas geringer aus. Zudem zeigen die Daten, dass die Pflegebedürftigkeit für diese Gruppen nicht nur früher eintritt, sondern auch häufiger.

Pflegesystem verstärkt Unterschiede.

Empirische Analysen haben ergeben, dass sich auch die Lebenserwartung für oben genannte Gruppen systematisch unterscheidet. Besonders auffällig ist der Unterschied wiederum nach dem Einkommen. Auch haben die Unterschiede über die Jahre hinweg zugenommen, wie Auswertungen von Rentenversicherungsdaten für westdeutsche Männer belegen. Die verbleibende Lebenserwartung der Geburtsjahrgänge 1926 bis 1928 lag im Alter von 65 Jahren bei den zehn Prozent der Menschen mit den höchsten Lebenseinkommen um vier Jahre höher als im untersten Zehntel der Verteilung. In den Geburtsjahrgängen 1947 bis 1949 war die Differenz mit sieben Jahren noch größer.

Präventive Politik könnte die Lebensqualität erhöhen und Folgekosten reduzieren.

Aus sozialpolitischer Sicht sind die sozia­len Unterschiede im Pflegerisiko und in der Lebenserwartung eine große Her­ausforderung. Problematisch ist, dass das derzeitige Pflegesystem die Ungleichheit noch verstärkt. Die Kosten der Pflege­versorgung werden nur teilweise durch die gesetzliche Pflegeversicherung abgedeckt. Sie ist also eine „Teilkaskoversicherung“, der Rest muss privat getragen werden. Das betrifft Zuzahlungen zu Leistungen der Pflegeversicherung, aber auch informelles Engagement von Angehörigen, die einen Großteil der Pflege in Deutschland stemmen. Gleiches gilt für das Rentensystem. Da Menschen mit hohen Einkommen eine längere Lebenserwartung haben, beziehen sie über einen längeren Zeitraum Zahlungen aus der Rentenversicherung.

Ungleichheiten reduzieren.

Um dem Problem im Pflegesystem kurzfristig zu begegnen, ist eine weitreichende Pflegereform notwendig. Es wäre ratsam, die Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung anzupassen und sie beispielsweise stärker vom Einkommen abhängig zu machen. Auch eine Bürger­versicherung, in der private und gesetzliche Pflegeversicherung zusammengebracht werden, könnte die Ungleichheit reduzieren. Eine nachhaltige Politik sollte bereits in der Erwerbsphase ansetzen. Denn eine präventive Politik, die das Risiko der Pfle­gebedürftigkeit senkt, hätte langfristig nicht nur das Poten­zial, die Lebensqualität der Menschen zu erhöhen, sondern auch die Folgekosten der demografischen Alterung zu reduzieren. Diese Maßnahmen würden auch die Ungleichheit in der Lebenserwartung verringern. Die Schwierigkeit bei der Umsetzung liegt vor allem darin, dass sich die Früchte der Politik erst mit erheblichem Zeitverzug ernten lassen.

Peter Haan ist Leiter der Abteilung Staat am DIW Berlin.
Johannes Geyer ist stellvertretender Leiter dieser Abteilung.
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