Gleichstellung

Corona erschwert die Inklusion

Deutschland ist bei der Inklusion vorangekommen. Doch die Corona-Pandemie hat die Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen unverhältnismäßig stark eingeschränkt, meint Dr. Matthias Schmidt-Ohlemann. Er fordert von der Politik, die Erfahrungen aufzuarbeiten.

Die Inklusion von Menschen

mit Beeinträchtigungen macht in Deutschland auch in Folge der UN-Behindertenrechtskonvention kleine Fortschritte. Zum Beispiel ist die Eingliederungshilfe nun an personenbezogenen Leistungen ausgerichtet. Die Europäische Richtlinie zur digitalen Barrierefreiheit wurde umgesetzt und das Wahlrecht auf Personen mit Intelligenzminderung erweitert. Auch die Zahl der Kinder und Jugendlichen im Regelschulsystem hat zugenommen, allerdings ohne dass sich die Zahl der Förderschüler wesentlich verringert hätte. Dennoch ist die soziale Teilhabe am familiären und außerfamiliären Leben für Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen weiterhin deutlich erschwert.

Inklusive Gesundheitsversorgung fehlt.

Im Gesundheitssystem lassen sich Fortschritte erkennen: Es gibt medizinische Zentren für Menschen mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen (MZEB), Erleichterungen bei langfristiger Heilmittelversorgung und die Übernahmemöglichkeit von Assistenz-Kosten bei Krankenhausaufenthalten.

Nach wie vor sind wir aber von einer inklusiven Gesundheitsversorgung weit entfernt. So bestehen immer noch erhebliche Barrieren im baulichen, technischen und kommunikativen Bereich – Stichwort leichte Sprache – sowie in mangelnder Unterstützung bei der Gesundheitssorge. Menschen mit Pflegebedürftigkeit oder schweren psychischen Erkrankungen haben wenig Chancen, eine angemessene medizinische Rehabilitation zu erhalten. Nur 13 Prozent der Menschen mit Beeinträchtigungen schätzen ihren Gesundheitszustand als sehr gut oder gut ein, während es bei Menschen ohne Beeinträchtigungen 60 Prozent sind.

Corona beeinträchtigt Teilhabe.

Menschen mit Behinderungen brauchen deutlich häufiger und spezielle Leistungen der Gesundheitsversorgung. Deshalb sind sie besonders stark von Einschränkungen der Corona-Pandemie betroffen. Das reicht von der Inanspruchnahme von Ärzten einschließlich Leistungen in MZEB oder Sozialpädiatrischen Zentren, Frühförderung und Funktionstraining bis hin zu Heilmitteln in Schulen, Kitas und Heimen, in denen Therapeuten trotz dringlicher Bedarfe der Zutritt verwehrt worden ist.

Politik und Praxis müssen Teilhabe und Infektionsschutz gleichberechtigt berücksichtigen.

Die Folgen haben die Betroffenen großenteils als gravierend beschrieben. Viele Menschen mit Beeinträchtigungen fühlten sich bezüglich ihrer Gefahrenlage unsicher und gleichzeitig unzureichend bei Schutzmaßnahmen, Test- und Impfstrategien berücksichtigt. Dies hat ihre Teilhabe unverhältnismäßig stark beeinträchtigt. Besonders betroffen sind Familien mit zu Hause lebenden, heranwachsenden oder erwachsenen Menschen mit Behinderungen. Gerade sie waren durch pandemiebedingte Einschränkungen der Gesundheitsversorgung sowie fehlende Unterstützung durch primäre und sekundäre soziale Netzwerke häufig belastet und überfordert.

Erst jetzt lassen sich die gravierenden negativen Folgen der Pandemie auf die Entwicklung und psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen einigermaßen einschätzen. Die Auswirkungen sind sozial ungleich verteilt. Besonders Familien, die ohnehin über wenige Ressourcen verfügen und sich in prekären Lebenslagen befinden, sind betroffen. Insgesamt haben Menschen mit Behinderungen und ihre Familien beklagt, dass die Politik gerade ihre Situation „gar nicht auf dem Schirm“ gehabt habe.

Digitalisierung nutzen.

Die Erfahrungen vor, während und nach der Pandemie müssen aufgearbeitet werden. Dies gilt sowohl im Hinblick auf die Sicherstellung der dringlichen gesundheitsbezogenen Versorgungsleistungen als auch auf die Sicherung der Teilhabe sowie für die Vermeidung von Rückschritten in der Inklusion. Teilhabesicherung und Infektionsbekämpfung müssen politisch und praktisch gleichberechtigt berücksichtigt werden. Dabei sollten die Möglichkeiten der Digitalisierung genutzt werden. Voraussetzung ist aber, dass die Hard- und Software barrierefrei gestaltet ist und allen Betroffenen in geeigneter Form zur Verfügung steht.

Menschen mit Beeinträchtigungen und deren Angehörige müssen zudem die notwendige Nutzungskompetenz erwerben können und Unterstützung bei der Anwendung erhalten. Die Politik muss sich gerade auch in Pandemiezeiten am Prinzip der Gleichstellung von Behinderten auf allen gesellschaftlichen Ebenen (Disability Mainstreaming) orientieren. Die dringlichen Bedarfe der Menschen mit Behinderungen müssen durch fortlaufend angepasste Maßnahmen zum Gesundheitsschutz sichergestellt werden, sodass eine möglichst weitgehende Inklusion stattfinden kann.

Matthias Schmidt-Ohlemann ist Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) und Landesarzt für Körperbehinderte in Rheinland-Pfalz.
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