Thema des Monats

Mal Action, mal Chillen

Jungen klettern, rennen, raufen und kennen keinen Schmerz – solche Rollenbilder bestimmen auch heute noch oft die gesundheitliche Entwicklung. Wenn sie aber die Balance zwischen Schutz und Risiko finden, wachsen Jungen gesünder auf. Ralf Ruhl beschreibt, wie Eltern, Gesellschaft und Gesundheitssystem dabei helfen können.

Ole winkelt seinen Arm an und hält ihn gespannt seinem Vater hin: „Fühl mal, Papa“, ruft er, „Stark, was? Bald bin ich groß.“ „Echt kräftig“, antwortet der Vater seinem achtjährigen Sohn, drückt seinen Daumen und Zeigefinger in den Bizeps und nickt ihm anerkennend zu. Seine Mutter lächelt und streichelt ihm über den Kopf. „Ole war heute mit Sven im Fitnessstudio“, erklärt sie. Er wollte das unbedingt, weil ihn in der Schule jemand als „Mickermacker“ bezeichnet hatte. Das Studio ist in der Schule erst vor kurzem eingerichtet worden. „Ist eigentlich nur ein Raum mit ein paar Geräten“, erläutert der 16-jährige Sven, „aber dafür kostet es nichts und ist an den Schultagen für zwei Stunden nachmittags geöffnet.“ Es sei oft gut besucht, meint er, manche Gruppen kämen täglich.

„Boah, das stinkt da oben wieder!“ Die 14-jährige Lisa poltert die Treppe herunter. „Kannst du nicht wenigstens das Fenster aufmachen, wenn du schon alles mit deinem After-Shave einnebelst?“ Fragend hebt die Mutter die Augenbrauen. „Hab mir die Haare rasiert“, sagt Sven. Auf den erstaunten Blick hin antwortet er: „Ja, überall.“ Und grinst seine Schwester an. „Die Mädels stehen drauf.“

Körperbild ist fremdbestimmt.

Was hat diese kleine Familienszene mit Gesundheit zu tun? Eine ganze Menge. Denn sie zeigt: Körperkult und Bodyshaming sind längst auch bei Jungen angekommen. Zumindest die Angst vor letzterem: Ole will nicht mickrig sein, groß will er sein und Muskelmasse aufbauen. Sein Bruder will bei den Mädchen gut ankommen, beliebt sein, also rasiert er seine Körperbehaarung und setzt auf ein durchtrainiertes Äußeres. Selbstverständlich macht es den beiden Jungs Spaß, ihre Muskeln zu spüren und auszuprobieren, wie viele Wiederholungen sie mit der 20-Kilogramm-Langhantel schaffen. Aber das Bild, welcher Körper gut aussieht, wer also von „den anderen“ positiv angesehen wird, bestimmen sie nicht selbst.

Im November 2022 wird der fünfte Männergesundheitsbericht der Stiftung Männergesundheit erscheinen. Er widmet sich den jungen Männern und deren Gesundheit. Erstmalig ist dafür eine eigene Studie aufgelegt worden, und zwar eine wissenschaftlich fundierte, interdisziplinäre Umfrage mit 3.000 Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter zwischen 16 und 28 Jahren. Sie liefert Informationen zu der Frage, wie es um die körperliche und psychische Gesundheit von jungen Männern im Vergleich zu jungen Frauen bestellt ist.
 
 Weitere Informationen zum Männergesundheitsbericht 2020

Zunächst aber die positive Nachricht: Den Jungen geht es grundsätzlich gut. Nach der KIGGS-Studie des Robert-Koch-Instituts zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland schätzen 96 Prozent ihren Gesundheitszustand als „sehr gut“ oder „gut“ ein. Ihre Eltern sehen das sogar noch ein bisschen besser. Und das, obwohl chronische Krankheiten laut einer Expertise der Berliner Charité für das Bundesgesundheitsministerium bei ihnen in fast allen Altersgruppen doppelt so häufig vorkommen wie bei Mädchen. Häufiger diagnostizieren Kinderarztpraxen ebenfalls akute Bronchitis, Asthma, Allergien, Halsschmerzen, motorische Entwicklungsstörungen und – sogar dreimal so häufig wie bei Mädchen – die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS). Auch bei Sprach- und Sprechstörungen liegen Jungen vorn. Über 60 Prozent der von der AOK im Jahr 2020 für Kinder bis 14 Jahre finanzierten Heilmittelverordnungen gehen an Jungen. Vor allem im Bereich Sprachtherapie unterscheidet sich die Versorgung zwischen Jungen und Mädchen deutlich: So erhielten laut AOK-Heilmittel-Informationssystem beispielsweise 214 von 1.000 AOK-versicherten sechsjährigen Jungen im Jahr 2020 eine Sprachtherapie, aber nur 144 Mädchen dieses Alters.

Jungensprechstunden sind selten.

Dennoch gebe es für Jungen keine angemessene gesundheitliche Versorgungsstruktur, bemängelt Dr. Bernhard Stier, Beauftragter für Jungenmedizin und Jungengesundheit des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte Deutschland. „Mädchensprechstunden in Kinderarztpraxen gibt es häufig, Jungensprechstunden eher selten“, sagt er. Die Gründe dafür sind vielfältig. Vielerorts würde sich ein solches Angebot nicht lohnen, weil die Jungen von sich aus nicht kämen. „Jungen machen sich durchaus Sorgen um ihre Gesundheit, halten aber Beschwerden erst einmal aus.“ Erst auf Drängen, meist der Mütter, würden sie dann die Sprechstunde aufsuchen.

Thomas Holstein-Diepold, Kinderarzt in Northeim, bestätigt das: „Oft bringen die Mütter ihre Söhne in die Praxis, vor allem zu den U- und J-Untersuchungen.“ Die Termine werden unterrichtsfreundlich vor allem nachmittags vergeben. Die mütterliche Sorge gelte meist der „normalen Entwicklung“ ihres Sprösslings, insbesondere in Bezug auf Körpergröße und Wachstum, seltener wegen eines möglichen Übergewichts. Sobald der Arzt merkt, dass der Junge herumdruckst oder sich nicht wohlfühlt, schickt er die Mutter hinaus. „Das Schamgefühl ist einfach sehr hoch“, sagt er. Hier werde ein Zwiespalt deutlich: Die Mutter ist zu Hause die erste Ansprechperson für gesundheitliche Themen. Denn sie hat sich normalerweise um die Erstversorgung und um Krankheiten gekümmert. Der Grund liegt in der üblichen Aufteilung der Arbeiten: Der Mann geht seinem Beruf außerhalb des Hauses nach, die Frau arbeitet in Teilzeit, entsprechend ist sie häufiger und länger anwesend und logischerweise die Ansprechpartnerin, wenn es Probleme gibt. Andererseits ist sie eben eine Frau, mit ihr kann sich der Junge geschlechtlich nicht identifizieren.

Schambesetzte Themen ansprechen.

Holstein-Diepold bittet die Jungen und Eltern, getrennt einen Fragebogen auszufüllen. „Da geht es auch um heiße Themen wie Drogenkonsum, das Verhältnis zu Eltern und Geschwistern oder die Schule.“ Er ist immer wieder überrascht, wie ehrlich die Jungen antworten. „Oft sind sie froh, wenn sie allein mit dem Doc sprechen dürfen.“ Dann spürt er, dass er auch ein Rollen-Modell für sie ist, insbesondere mit der Art und Weise, in der er gesundheitliche und schambesetzte Themen anspricht. Ein wichtiger Schlüssel sei dabei das Körperbild. „Bin ich zu klein, muss ich die Schambehaarung sofort wegrasieren, ist mein Penis zu klein, wird er noch wachsen – diese Fragen muss ich ernst nehmen. Also den Jungen damit ernst nehmen, nicht altväterlich oder schulterklopfend daherkommen.“

Das Gewicht, vor allem das Übergewicht, wird für Jungen zunehmend zum Thema. Holstein-Diepold lässt sie erst einmal aussprechen, worum es ihnen überhaupt geht. Daraus ergeben sich Ziele, die von den Jungen selbst formuliert werden. Er unterstützt, wenn sie unrealistisch sind, wie beispielsweise zehn Kilo abzunehmen. Erste Schritte und Verhaltensänderungen werden gemeinsam beschlossen, ein Zeitplan aufgestellt. Ein weiterer Termin wird anberaumt, um zu schauen, was sich verändert hat, was nicht und warum nicht. „Da kommen die Jungen dann von sich aus, auch ohne Begleitung.“

Expertise und Empathie sind gefragt.

Eine solche einfühlsame, aber auch klare Art führt zu guten Erfolgen. Für Stier ist es ein ärztlicher Kunstfehler, bei Bauchschmerzen nicht das Genital in die Untersuchung mit einzubeziehen. So konnte er schon mehrfach – auch schmerzhafte – Veränderungen oder sogar Entzündungen im Genitalbereich erkennen und behandeln. „Die Eltern wussten oft nichts davon, die Scham war offenbar zu groß. Wird das Krankheitsbild nicht erkannt, ist die Gefahr falscher oder unzureichender Behandlung gegeben.“

Prävention fängt in der Familie an: Gerade für Ernährung und Bewegung wird dort der Grundstock mit den Gewohnheiten gelegt.

Mit mehr Einfühlsamkeit und Klarheit allein bessert sich jedoch die Versorgungslage nicht. Expertise und Empathie für die Jungen sind gefragt. „Dazu muss der Kinder- und Jugendarzt allerdings erst einmal erkennen, dass es von der Jungenseite her einen Wunsch nach spezialisierter medizinischer Betreuung gibt“, so Stier. „Die Frage ist also, wie wir die Jungen dazu bringen, sich mehr um ihre Gesundheit zu kümmern und gleichzeitig die Angebotsstrukturen für Jungenmedizin erweitern.“ Der Bedarf sei jedenfalls sehr groß. „Über 70 Prozent der Studierenden der Medizin sind Frauen“, bemerkt Stier. „Insbesondere im Bereich der Kinder- und Jugendmedizin sind überwiegend Ärztinnen tätig.“ Für viele Jungen könnte es problematisch werden, wenn sie keinen männlichen Ansprechpartner für ihre gesundheitlichen Fragen haben. Scham ist hier ein Thema, ebenso der kulturelle und religiöse Hintergrund. Grundsätzlich sind aber Wissen und Zuwendung maßgebend dafür, an wen Jungen sich bei gesundheitlichen Fragen wenden.

Vorsorge-Gap ist medizinisch nicht begründbar.

Die Untersuchung J1 gehört zum Katalog der Krankenkassen. Die J2, für Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren gedacht, ist hingegen eine freiwillige Leistung. „Damit kann es passieren“, sagt Stier, „dass ein Jugendlicher mit 14 Jahren zuletzt einen Arzt oder eine Ärztin sieht und dann erst wieder als Mann mit über 40 zum Check-Up.“ Für Mädchen und Frauen setzen die Früherkennungsprogramme viel eher an. Für sie gibt es quasi durchgängig kostenlose Angebote zur medizinischen Betreuung, auch wenn keine Krankheitsanzeichen vorliegen. Ein solcher „Vorsorge-Gap“ bei Jungen und Männern ist medizinisch nicht begründbar. So finden sie nach der Pubertät weniger Ansprechpartner mit spezifischen Kenntnissen. Das kommt ihrer ohnehin eher verdrängenden Einstellung zu gesundheitlichen Problematiken entgegen. Nicht ausreichende Betreuungsstrukturen bedingen somit, dass Jungen und Männer seltener zur Früherkennung gehen und den Arzt erst dann aufsuchen, „wenn es wirklich weh tut“, so Stier.

Väter dienen als Vorbilder.

Über Gesundheit wird in der Familie von Sven und Ole selten gesprochen, eher schon mal über Krankheit. Da offenbare sich ein klassisches männliches Verständnis von Gesundheit, meint Professor Dr. Kurt Miller, früherer Ordinarius der Urologie an der Berliner Charité: „Da wird der Arzt als Reparateur gesehen und der Körper quasi als Maschine. Wenn etwas nicht mehr funktioniert, soll es wieder heil gemacht werden.“ Das bekommen Jungen von ihren Vätern vorgelebt.
 
Svens Vater erinnert sich, wie peinlich es ihm selbst war, als er vor den Kindern von seiner Frau eher zufällig auf das Thema Vorsorge angesprochen wurde. „Ich bin richtig rot geworden“, meint er, „wusste gar nicht, was ich sagen sollte.“ Als er von der Untersuchung zurückkam, habe ihn sein älterer Sohn sogar darauf angesprochen. Er habe etwas von „mehr Bewegung“ und „gesünderer Ernährung“ genuschelt. „Prävention fängt in der Familie an“, sagt Miller. „Gerade für Ernährung und Bewegung wird der Grundstock mit den Gewohnheiten der Familie gelegt.“ Was die Eltern vorleben und vorgeben, wird von den Kindern übernommen. Das ist für sie normal, sie kennen ja nichts anderes. Insofern seien Eltern Vorbilder, für die Jungen vor allem die Väter. „Gutes Zureden hilft nichts, wenn die Eltern selbst nicht mitmachen. Einem 15-Jährigen zu sagen, dass er sehr wahrscheinlich in 30 Jahren gesundheitliche Probleme bekommen wird, wenn er sich nicht häufiger bewegt, hat keinen Sinn, das kommt nicht an.“

Bewegung stärkt das Selbstbewusstsein.

Dabei ist Bewegung durchaus ein „Jungsding“. Bis zum Schuleintritt spielen zwei Drittel der Kinder täglich im Freien, oft über mehrere Stunden, so die Elternbefragung der KIGGS-Studie. Hier ist die Geschlechterverteilung noch nahezu gleich. Später ändert sich das Bild: Über 85 Prozent der elf- bis 13-jährigen Jungen sind sportlich aktiv, bei den Mädchen dieser Altersgruppe sind es gut 79 Prozent. Bei den 14- bis 17-Jährigen sehen die Zahlen etwas schlechter aus, hier sind es bei den Mädchen nur noch knapp über 75 Prozent, bei den Jungen gut 84 Prozent. Allerdings sind die Jungen in der Wahl der Angebote einseitiger: 51 Prozent spielen Fußball, 15 Prozent schwimmen und zwölf Prozent betreiben Kampfsport. Bei den Mädchen stehen Gymnastik und Tanz mit knapp 30 Prozent an erster Stelle, danach folgen Turnen mit 20 Prozent und Schwimmen mit 17 Prozent.

Der Wechsel von Anspannung und Entspannung führt zu verbesserter Selbstwahrnehmung und damit zu Resilienz.

„Physical Inactivity ist das neue Rauchen“, sagt Miller. Sport und Bewegung im Kindes- und Jugendalter seien sehr wichtig. Zum einen werde dort der Grundstock für das Verhalten im Erwachsenenleben gelegt, zum anderen werden Skelett- und Muskelsystem gestärkt. „Die Kinder entwickeln Spaß an der Bewegung, erleben sich als körperlich leistungsfähig. Das führt ganz nebenbei zu einem besseren Selbstbewusstsein“, so der Mediziner.
 
Bei Sven ist das deutlich zu bemerken. „Seit er in der ersten Mannschaft spielt, geht er anders, aufrechter und bestimmter“, sagt sein Vater. Der steht immer noch gern am Spielfeldrand, hat früher selbst Fußball gespielt und feuert an. Was seinem Sohn manchmal peinlich ist. „Aber wir haben über den Sport immer auch Gesprächsthemen, selbst wenn die Stimmung zwischen uns sonst mal nicht so gut ist“, ergänzt der Vater. Auch wegen des Sports hat Sven seine Freundin gefunden. Oder besser sie ihn. „Sie stand nach dem Spiel noch da und hat mir eine Flasche Wasser zugeworfen“, erzählt Sven. So kamen sie ins Gespräch. „Das gibt mir schon richtig Power.“

Soziale Unterschiede in der Prävention berücksichtigen.

Allerdings haben nicht alle Jungen die gleichen Möglichkeiten und Zugänge zu Sportangeboten. „Da gibt es große Unterschiede, abhängig vom sozialen Milieu“, sagt Miller. Nach der Langzeitstudie KIGGS sind sozial benachteiligte Gruppen deutlich zu wenig aktiv. Hierzu gehören neben finanziell schlecht gestellten Familien auch Kinder von Zuwanderern und aus bildungsfernen Schichten.
 
Laut Miller sind die Unterschiede zwischen benachteiligten Gruppen und Kindern aus der gebildeten Mittelschicht sogar deutlich höher als die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen. Kostenlose Angebote und leicht zu erreichende, stets geöffnete und nicht zuletzt auch gepflegte Anlagen sind wichtige Elemente der Prävention. Denn wer will schon im Müll spielen oder mit dem Ball über Flaschenscherben laufen?
 
Aber das ist nicht alles. „Viele Jungen sind über die klassischen Angebote der Sportvereine nicht zu erreichen“, sagt Gunter Neubauer. Der Diplompädagoge arbeitet als Organisationsberater und ist geschäftsführender Gesellschafter des Instituts SOWIT in Tübingen. „Nicht alle Jungen brauchen das gleiche. Es gibt immer mehr, die sich zwar gerne körperlich mit anderen messen, aber den ständigen Konkurrenzkampf eher scheuen.“
 
Das klingt zwar klar, aber auf den ersten Blick befremdlich. Schließlich gelten Jungen als risikofreudig, raufen gerne, sind in Gruppen aktiv und betreiben vor allem Mannschaftssport. Dementsprechend sind Stürze, Sportverletzungen und Unfälle bei Jungen die häufigsten Gründe für Arztbesuche und signifikant häufiger als bei Mädchen. Das zeigt die europäische Injury Database für die Unfallprävention. Demnach waren mit über 57 Prozent Jungen stärker von Sportverletzungen betroffen als Mädchen, mit über 51 Prozent waren die meisten davon Stürze. Das sei, so Neubauer, ein Alarmzeichen. Denn Brüche und Stürze seien ein Hinweis auf eine Überforderung.

Alte Leitbilder halten lange vor.

Viele Jungen zeigen demnach ein hohes Risikoverhalten. „Risiko bedeutet zunächst einmal die großräumige Aneignung der Umgebung“, sagt Neubauer. Also Exploration und Erweiterung des eigenen Umfeldes. Dabei gehen sie über Grenzen: über die eigene Straße, in ein anderes Wohngebiet, über die Brücke und den Hügel hinauf. Sonst kommt man ja auch nicht weiter. Das klingt zunächst sympathisch. Doch was beim Klettern über Zäune noch nach klassischem Abenteuer riecht, hat beim Selfie auf dem Strommast oder beim Roofing schon deutlich den Geschmack von Gefahr. „Ja, das machen vor allem Jungen, aber eben längst nicht jeder Junge“, verdeutlicht Neubauer.
 
Er sieht das Problem, dass Jungen hier individuell als „Täter an ihrer Gesundheit“ gesehen werden. „Von außen scheint es, als verhielten sie sich falsch.“ Dabei sei es nötig, zuerst einmal zu schauen, wie die Gesellschaft überhaupt Jungen wolle. Er wirft einen Blick in die Geschichte: „Noch im Kaiserreich wurde Jungen vor allem Härte abverlangt. Härte gegen andere und gegen sich selbst.“ Das sei eine paramilitärische Erziehung gewesen damals, noch deutlicher im Nationalsozialismus. „Davon sind wir glücklicherweise weit entfernt, aber diese Leitbilder sind auch nicht komplett aus der Welt“, so Neubauer. Diese Tradition könne man nicht innerhalb von zwei oder drei Generationen abstreifen und ein völlig neues Leitbild erfinden. „Heute wollen wir Männer, die psychisch stabil sind, leistungsstark, durchsetzungsfähig, mobil und am besten immer einsatzbereit.“ Das gilt am Arbeitsmarkt, im Werbefernsehen, bei der Suche nach der Partnerin. Für Jungen bedeute das, dass sie viel aushalten müssen, meint Neubauer, „vor allem die Anforderungen der Erwachsenen und der Gleichaltrigen“. Tränen und Schmerzen würden daher immer noch nicht ins männliche Lebenskonzept passen. Bei Krankheit komme schnell der Vorwurf der „Männergrippe“, bei einem aufgeschlagenen Knie der Spruch: „Stell dich nicht so an“, wenn sie raufen und sich dabei wehtun: „Es sind eben Jungs.“ Auch heute muss ein Junge offenbar eher robust sein.

Entspannung erlernen.

Wer aber nicht getröstet wurde, wie soll der an seine Kinder weitergeben, wie man tröstet? Wer mit seinem Schmerz und dem Überforderungsgefühl nicht ernst genommen wurde, wie soll der erwarten, bei Depressionen Hilfe zu finden? Hier sieht Neubauer wesentliche Gründe für Männer, psychische Probleme nicht zu erkennen und eher aggressiv nach außen zu verlagern, etwa auch gewalttätig zu werden. Und eben erst dann zum Arzt zu gehen, wenn es weh tut. Aber dann kann es zu spät sein. Hinzu kommen neue Anforderungen. Familienkompatibel sollen Männer sein, zärtlich, für Frau und Kinder da, partnerschaftlich, nicht so egoistisch. „Das steht schon in Spannung mit den klassischen Anforderungen“, so Neubauer, „und auch das müssen Jungen erst einmal aushalten.“

Was kann helfen? Fürsorge und Selbstfürsorge. Alexander Bentheim, Pädagoge und Leiter des Projekts „Soziale Jungs Hamburg“, organisiert Praktika in Kitas, Altenheimen und weiteren sozialen Einrichtungen, betreut am „Boys Day“ Gruppen und sieht sich dabei eher als Partner der Jungen, weniger als Partner der Schulen und Behörden. „Nur wer sich selbst wahrnimmt, kann auch andere wirklich wahrnehmen und für sie da sein“, sagt er. Daher gehören Körperübungen, das Erspüren von Spannungen, das Erlernen von Entspannung, für ihn zum Programm des „Boys Day“ dazu. „Das ist aktive Stressbewäl­tigung, das sollte immer Bestandteil der Angebote sein.“

Verlässlichkeit geht vor Leistung.

Wie für Neubauer geht es auch ihm um eine „balancierte Männlichkeit“: „Mal ist Auspowern angesagt, mal Chillen. Wichtig ist der Wechsel von Anspannung und Entspannung.“ Das führe zu verbesserter Selbstwahrnehmung und damit zu Resilienz. Selbstwahrnehmung heißt auch, überhaupt erst einmal über alltägliche Routinen zu sprechen. Wie der Morgen beginnt, was es zum Frühstück gibt, ob man morgens oder abends duscht, ob man sich schon rasiert. Damit wird Alltägliches, bisher Unbeachtetes, begrenzt öffentlich. Und zwar von allen, und damit sprechbar. „Gesundheit ist auch soziales Eingebundensein“, sagt Bentheim. Das erleben sie in seinen Gruppen: „Verlässlichkeit ist wichtig, Leistung ist zweitrangig.“ Er freut sich über Berichte aus den Praktika im Kindergarten. „Da erzählen die Jungen, dass die Kinder sie gemocht haben, Vertrauen zu ihnen hatten, sie Nähe zugelassen haben und sie den Eindruck hatten, die Kids haben etwas von ihnen mitbekommen. Sie lernen, wenn sie in Gemeinschaft etwas für andere tun, dann kommt auch etwas zurück. Und das ist äußerst heilsam.“

Am besten gelingt das, wenn Söhne es in der Familie lernen können, wenn sie es vorbildhaft erleben, beim Vater, Großvater oder Bruder. Ole war mächtig stolz, dass er mit Sven ins Fitnessstudio gehen durfte. Er weiß jetzt schon ganz genau, wie alles geht mit den Geräten, ist ja klar. Nächstes Mal will er Hassan mitnehmen. Der ist ein Jahr älter und einen Kopf größer als er, stammt aus Somalia und spricht nur gebrochen Deutsch. „Dann kann ich ihm alles zeigen und erklären. Das versteht er von mir besser als vom Lehrer“, sagt er. Er zeigt damit: Jungengruppen müssen nicht immer organisiert sein. Und soziales Lernen – dazu gehört auch das Gesundheitslernen – geht meist „einfach so“.

Ralf Ruhl ist freier Journalist mit Schwerpunkt auf Männer- und Familienthemen.
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