Bewohner des „White Doves Psychiatric and Destitute Home“ treffen sich zur Morgenandacht. Das Heim nimmt mittellose psychisch kranke Menschen auf.
Gesundheit global

Besuch bei Verlierern der Pandemie

Mit der dritten Welle brachte Indiens Regierung Struktur in die Corona-Bekämpfung. Bei vielen mittellosen, alten und chronisch kranken Menschen kam außer einem Impfangebot jedoch kaum Hilfe an. Die Lücke füllen Nichtregierungsorganisationen wie HelpAge India. Von Martina Merten

Sanathan rutschte ins Nichts ab,

als das Land noch weniger Kapazitäten für Bedürftige hatte als sonst. Anfang Dezember 2021 kämpfte Indiens Regierung gegen die dritte Coronavirus-Welle – voll der Angst, dass diese genauso verheerend enden könnte, wie die zweite Welle zwischen April und Sommer 2020. Damals verzeichnete Indien täglich 400.000 Neuinfizierte und rund 2.000 Tote. Die Regierung versuchte, Krankenhäuser aufzustocken und mehr Intensivstationen aufzubauen, die Kommunikationsmaschinerie in Gang zu halten. Und nicht zuletzt lag das Augenmerk von Premierminister Narendra Modis Krisenstab darauf, 1,3 Milliarden Menschen Zugang zu einer Impfung zu verschaffen.

Auf der Straße gelandet.

Zu diesem Zeitpunkt hatte der 63-jährige diplomierte Medizintechniker seine Arbeit verloren. Seine Frau und sein Sohn hatten ihn verlassen. An Hab und Gut war Sanathan nichts geblieben. Er begann zu trinken, wanderte herum, fand sich auf den Straßen der südindischen Küstenstadt Mangalore wieder. „Sozialarbeiter brachten zwar regelmäßig etwas zu essen. Eine Schlafmöglichkeit gab es für mich aber nicht“, erinnert sich der kleine, drahtige Mann mit dem grauen Schnurrbart. Die wenigen sogenannten Shelter Homes – Übernachtungsplätze der Regierung für Mittellose – waren vollständig belegt.
 
Sanathan hatte Glück im Unglück. Ein Mitarbeiter des „White Doves Psychiatric and Destitute Home“, einer Einrichtung für mittellose und psychisch kranke Menschen in Mangalore, brachte ihn zu dieser Unterkunft. Die Inderin Corrine Antoinette Rasquinha hat das Heim mithilfe von Spendengeldern aufgebaut. Es ist an Sauberkeit, Großzügigkeit und Versorgungsstandard kaum zu überbieten. 136 Menschen haben hier ein Zuhause gefunden – solange es für sie nirgendwo sonst in Indien ein Zuhause gibt. „Die indische Regierung hat versagt, sich während der Pandemie um all diese Menschen zu kümmern“, findet Corrine. Ärzte wollten keine Hilfe anbieten, aus Angst sich mit dem Virus zu infizieren. So zog sich die Mitfünfzigerin Handschuhe und Schutzmaske an, um die vielen Menschen auf der Straße mit Essen und Medizin zu unterstützen.

Strikte Vorschriften im Altenheim.

Auch Ashok Kumar Singh lebt in einem Heim für Menschen, die kein Zuhause haben. Es ist das „DMRC Old Age Home Govinapuri“, ein Altenheim für Männer in Neu-Delhi. Hier, in Indiens Hauptstadt, gibt es viele Heime für mittellose ältere Menschen. An einem solchen Ort inmitten einer Pandemie zu sein, hat Ashok sichtlich gezeichnet. „Seit zwei Jahren dürfen wir dieses Gelände hier nicht verlassen“, erzählt der 61-Jährige mit leerem Blick. Eine verschmutzte, ehemals wohl weiße Stoffmaske bedeckt sein Gesicht. Sein Haar trägt er zu einem kleinen Knoten im Nacken. Um seinen Hals trägt Ashok eine Holzkette. Dabei würde er so gerne nach draußen gehen, sagt Ashok, zum Markt, mit anderen Menschen reden, andere Dinge sehen.

Seit dem Jahr 2000 existiert im indischen Gesundheitsministerium eine „National Technical Advisory Group of Immunization“ (NTAGI). Im Zuge der Pandemie bildeten Mitarbeiter dieser Sondereinheit eine „Covid-19 Working Group“. Vorsitzender der Arbeitsgruppe ist Dr. N.K. Arora. Dem Wissenschaftler zufolge versucht Indien seit Ausbruch der Pandemie, die Internationalen Gesundheitsvorschriften der Weltgesundheitsorganisation umzusetzen, „angepasst an indische Realitäten“. Die Task Force erarbeitete Strategien zur Eindämmung des Virus – auf Ebene der Städte, auf sub-urbaner Ebene und auf Ebene der Dörfer. Als besonders herausfordernd beschreibt Arora die Eindämmung des Virus in den rund 600.000 Dörfern und Gemeinden.

Hilfreich für die Aufklärung und Impfung der Gesamtbevölkerung war das Vorwissen, das die Regierung und internationale Organisationen wie UNICEF und Rotary International im Zuge der Ausrottungskampagne des Poliovirus gewonnen hatten. Dabei war es auch darum gegangen, Ängste und Widerstände gegen die Polio-Impfung durch Aufklärung und Hausbesuche lokaler Impfhelferinnen zu beheben. Inzwischen sind mehr als 60 Prozent der 1,3 Milliarden Einwohnerinnen und Einwohner des Landes vollständig gegen Covid-19 geimpft. Das entspricht 1,85 Milliarden Impfdosen. Seit Beginn der Pandemie im Januar 2020 sind in Indien rund 522.000 Menschen im Zusammenhang mit Covid-19 verstorben. Mehr als 43 Millionen Inder haben sich mit einer der Coronavirus-Varianten infiziert.

Martina Merten

Seine Lebenswelt ist derzeit begrenzt: Das DMRC besteht aus einem großen und vier kleinen Räumen. Im großen Raum, dem Aufenthaltsraum, sitzen alle zwölf Mitbewohner auf einfachen Stühlen. Sie warten darauf, dass der Tag voranschreitet. In drei weiteren Räumen stehen jeweils vier Betten dicht aneinandergereiht. In dem schmalen Regal direkt hinter den Betten liegen einige Plastiktüten mit dem wenigen, was die Bewohner besitzen. Es gibt darüber hinaus noch eine kleine Küche und eine Toilette.

Bis heute, erklärt Rohit Kumar, der die Aufsicht über das Heim innehat, dürfen keine Besucher von außen kommen. Acht Bewohner haben das Heim während der Pandemie verlassen, weil sie es nicht mehr ausgehalten haben, eingesperrt zu sein. „Wir versuchen ihnen zu erklären, warum dies so ist, warum wir strikt sein müssen“, sagt Kumar. Von der Regierung sei bislang noch keine Unterstützung gekommen. Allerdings sind nach Angaben von Kumar alle zwölf Bewohner des DMRC geimpft. Eine Booster-Impfung erfolge auch bald.

Die Pandemie hat viele Schatten auf ein ohnehin gebeuteltes Land geworfen. Während der ersten beiden Corona-Wellen mussten alle ambulanten Arztpraxen schließen, erinnert sich Dr. Ritu Rana. Sie arbeitet als Expertin für Gesundheitsfragen für die Nichtregierungsorganisation HelpAge India. Chronisch Kranke blieben unversorgt, darunter überwiegend ältere Menschen. Der Fokus der Gesundheitsversorgung lag ausschließlich auf der Behandlung von Covid-19-Patienten, auch in Krankenhäusern.

Ambulante Pflege gefragt.

Mohan Raj, Betreiber eines häuslichen Pflegedienstes in Mangalore, erhielt während dieser schlimmen Zeit etliche Hilferufe. „So viele alte Leute waren alleingelassen. Niemand wollte sich kümmern. Wir bekamen täglich etliche Nachfragen nach Hilfskräften“, sagt der Unternehmer.

HelpAge India bietet mittellosen älteren Männern ein Obdach.

Häusliche Pflegekräfte zu finden, war schon zuvor eine große Herausforderung. Pflege wird von einem Großteil der indischen Bevölkerung als Familiensache angesehen. Dabei sind immer weniger Angehörige dazu bereit, wie aus der größten indischen Altersstudie des Internationalen Instituts für Bevölkerungsstudien (International Institute for Population Sciences) hervorgeht. Lediglich die obere Mittelschicht und die wohlhabenden Inder können private häusliche Pflegedienstleistungen bezahlen. In den letzten fünf bis zehn Jahren ist dieser Markt nach Angaben des „Senior Care Industry Reports India 2018“ stark gewachsen. Raj, der zu den kleineren Anbietern in diesem Marktsegment gehört, muss seine Mitarbeiterinnen sogar unter sehr jungen Frauen mit wenig schulischer Bildung fernab von Mangalore suchen, um der Nachfrage nach häuslicher Pflege zu entsprechen.
 
Raj und sein Team, darunter 150 Pflegekräfte und acht Trainer, brachten vielen älteren, pflegebedürftigen Menschen das Essen und Arzneimittel nach Hause. Sein Unternehmen erhielt einen speziellen Pass, um die Menschen in ihren Wohnungen aufsuchen zu können. Vielen älteren Menschen fehlte am meisten die Zuneigung, berichtet Jerardin D’Souza, Gründer der Alzheimer Gesellschaft in Mangalore. Dabei sei die menschliche Zuwendung gerade bei Demenzpatienten besonders wichtig.

Polio-Erfahrungen nutzen.

Um Schwachstellen abzufedern, gab es viele helfende Hände. So bot HelpAge India Unterstützung für Haushalte an. Mitarbeiter riefen ältere Menschen, die sich in Isolation befanden, an und fragten, ob sie Medikamente oder Essen brauchten. Auch startete die Organisation eine Hotline für ältere Menschen, die sich aufgrund der Pandemie mental schlecht fühlten, unter Angst oder Depressionen litten. Organisationen wie Rotary – mit über 44 Clubs und 172.000 Mitgliedern ein in Indien weiträumig engagierter Zusammenschluss von Philanthropen – bildeten kurz nach Beginn der Pandemie eine Covid-19-Task-Force. Aufbauend auf der Erfahrung, die Rotary über die vergangenen 30 Jahre bei der Ausrottung von Polio gesammelt hat, unterstützten Rotarier beim Transport von Covid-19-Impfstoff und beim Werben für die Impfung. Besonders wichtig ist für Deepak Kappor, Vorsitzender des National PolioPlus Committee der Rotarier in Indien, dass sein Netzwerk die Regierung immer wieder auf die Bedürfnisse der vielen mittellosen, kranken und stigmatisierten Menschen hinweist.

Die Recherche wurde durch ein Stipendium des „European Journalism Centre“ mit dem „Global Health Security Call“ ermöglicht. Die Bill & Melinda Gates Stiftung unterstützt das Programm.

Martina Merten ist Global Health-Spezialistin und publiziert regelmäßig über Themen globaler Gesundheit.
Bildnachweis: Martina Merten