Interview

„Krankheit und Pflege nicht dem Kommerz unterwerfen“

Nach mehr als 45 Jahren nimmt Klaus Kirschner Abschied von der Gesundheitspolitik. Einst saß er fast 30 Jahre im Bundestag, nun hört der 80-Jährige auch als stellvertretendes unparteiisches Mitglied des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) auf. Doch Kirschner macht sich weiter Gedanken zur aktuellen Politik und hat klare Forderungen.

Herr Kirschner, Sie beschließen nun endgültig Ihre politische Karriere; Ihre Bundestagszeit beendeten sie sogar schon 2005. Fehlt Ihnen das Mitmischen an vorderster Front manchmal?

Klaus Kirschner: Nach einer so langen Zeit – ich war ja vor meiner Wahl in den Bundestag politisch und gewerkschaftlich sehr aktiv – kann ich nicht loslassen. Der Krieg in der Ukraine, die Erderwärmung, die zu hohen Eigenanteile in der stationären Pflege, die Versäumnisse in der Pandemie und viele andere Dinge treiben mich um. Ja, ich habe 2005 entschieden, dass ich im Bundestag aufhöre. Es war mir wichtig, dass ich das selbst bestimme und nicht andere.

Wie kam es, dass Sie als gelernter Werkzeugmacher Politik zu Ihrem Beruf gemacht haben?

Kirschner: Ich war unter anderem Ortsvereins- und Kreisvorsitzender der SPD, war Gemeinderat und Betriebsrat. Da mischt man hautnah mit. In den 70er-Jahren war ich zwei Mal Landtags-Zweitkandidat. Den Schritt in den Bundestag hatte ich nicht geplant. 1976 hörte unsere damalige Bundestagsabgeordnete im Wahlkreis auf und sie meinte, ich solle kandidieren. Ich konnte mir das zuerst nicht vorstellen, habe es dann aber getan. Meine ersten Parlamentsschritte machte ich im Jugendhilfe- und im Petititonsausschuss. Nach eine paar Wochen habe ich den SPD-Fraktionsvositzenden Herbert Wehner um den Wechsel in den Arbeits- und Sozialausschuss mit seinen Zuständigkeiten für die Betriebsverfassung, die Renten- und Krankenversicherung gebeten. Das war ganz mein Metier. Peu à peu bin ich dann immer mehr in die Gesundheitspolitik reingerutscht. Später gab es dann den eigenständigen Gesundheitsausschuss.

Von 1987 bis 1990 waren Sie Vorsitzender der Enquete-Kommission für eine Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung. Was bedeutete diese Arbeit für Sie?

Kirschner: Für mich war und ist diese Phase ganz klar das Highlight in meiner Parlamentszeit, weil sich hier viel bewegen ließ. Die Kommission bestand ja zur Hälfte aus Abgeordneten und aus der gleichen Zahl unabhängiger Wissenschaftler. Unsere zentrale SPD-Forderung war ein gleiches Kassenwahlrecht für alle Versicherten, was dann auch 1992 in Lahnstein beschlossen wurde. Die längst überholten Unterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten wurden damit beseitigt. Angestellte konnten seit den 30er-Jahren ihre Krankenkasse wählen, während Arbeiter in eine Pflichtkasse kamen, in der Regel in die AOK beziehungsweise in eine Betriebs- oder Arbeiterersatzkasse. Und zum ersten Mal wurde auf unseren Vorschlag hin der sogenannte Risikostrukturausgleich eingeführt. Das entsprach dem Minderheitenvotum der Kommission. Dahinter stand die Erkenntnis, dass Menschen der unteren Sozialschichten kränker sind, mehr Ausgaben verursachen und geringere Entgelte erhalten. Kassen wie die AOK waren deshalb viel stärker belastet. Das war die Sozialreform, die mich so richtig beflügelt hat.

Was sind die größten Unterschiede zwischen der GKV heute und der GKV in früheren Jahren?

Kirschner: Wie gesagt, die Wahlfreiheit der Versicherten gab es nicht und auch keinen Finanz- und Morbiditätsausgleich. Was mir auffällt: Die Krankenkassen sind heute sehr bürger- und versichertennah. Da hat sich viel positiv entwickelt. Zum Glück haben wir heute auch nicht mehr die fürchterlichen Auseinandersetzungen über Leistungskürzungen und Zuzahlungen wie etwa in den 2000er-Jahren.

Welche Reformen sollten dringend angegangen werden?

Kirschner: Ich fände es wichtig, einen vollen Finanzkraft- und Morbiditätsausgleich wie er in der gesetzlichen Krankenversicherung existiert, zwischen gesetzlicher und privater Kranken- und Pflegeversicherung einzuführen. Man könnte mit der Pflegeversicherung beginnen. Dort haben wir den gleichen Leistungskatalog sowohl in der gesetzlichen als auch in der privaten Pflegeversicherung. Dieses Prinzip muss dann in einem weiteren Schritt auf die Krankenversicherung übertragen werden. Das wäre eine saubere Lösung, um die Finanz- und Versichertenprivilegien der PKV zu beenden. Was ich für notwendig erachte ist eine bessere Durchgängigkeit zwischen ambulanter und stationärer Versorgung. Auch sollten die Unterschiede in der Bezahlung der Pflegekräfte in der Altenpflege und der Akutpflege im Krankenhaus beseitigt werden. Dringend notwendig ist zudem die Stärkung der Patientenrechte.

Mit Ulla Schmidt gab es von 2001 bis 2009 neun Jahre lang eine Gesundheitsministerin der SPD. Wie blicken Sie auf diese Zeit?

Kirschner: Da gab es wichtige Reformen. Damit meine ich nicht die Leistungskürzungen und höheren Zuzahlungen der Versicherten, sondern die Organisationsreformen, unter anderem mit der Gründung des GKV-Spitzenverbandes, für den ich Errichtungsbeauftragter war. Das war ein Meilenstein und ein großer Erfolg. Ich habe damals Wert darauf gelegt, dass die einzelnen Kassenarten zusätzlich ihren eigenen Verband haben, damit die Politik nicht den totalen Durchgriff bekommt.

Kann SPD-Mann Karl Lauterbach etwas von dieser Zeit lernen?

Kirschner: Ich bin nicht dazu da, Karl Lauterbach Ratschläge zu geben. Es wird allerdings spannend, welches Gesetz als Lösung für die GKV-Finanzprobleme beschlossen wird. Meiner Meinung nach gibt es ein großes Einsparpotenzial im Pharmabereich. Ich halte es für falsch, dass die Unternehmen für ein neues patentgeschütztes Medikament im ersten Jahr den Preis selbst bestimmen und erst danach gilt der mit den Krankenkassen ausgehandelte Preis. Zudem halte ich die teilweise extremen Preise für einige Medikamente für absolut unethisch.

Was besorgt Sie darüber hinaus am meisten?

Kirschner: Mit großer Sorge beobachte ich die permanente Kommerzialisierung des Gesundheitswesens. Diese zeigt sich in der Privatisierung von Krankenhäusern oder auch dem Aufkauf von Medizinischen Versorgungszentren durch Kapitalgesellschaften. Krankheit und Pflege gehören nicht dem Kommerz unterworfen. Ich hoffe, dass Lauterbach stark genug ist, um diese Entwicklung umzukehren. Es ist Aufgabe der Vertreterinnen und Vertreter der sozialen Selbstverwaltung, also von Gewerkschaften und Sozialverbänden, diese fatale Entwicklung viel stärker öffentlich zu thematisieren. Es darf nicht sein, dass Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen dem Zwang unterworfen werden, ordentliche Dividenden auszuschütten.

Müsste die Finanzverantwortung der Länder zentraler Punkt einer Klinikreform sein?

Kirschner: Auf jeden Fall. Die Länder zahlen für Investitionen im Krankenhaussektor bei Weitem nicht das, was sie müssten. Dadurch fehlen jedes Jahr viele Milliarden Euro. Dasselbe gilt auch für die stationäre Pflege. Das bekommen die Pflegebedürftigen dann in Rechnung gestellt. Das ist ein Skandal. Zur Reform insgesamt: Die Einstufung in Krankenhäuser der Grundversorgung, die nicht in jeder Kleinstadt aber in zumutbarer Entfernung liegen, sowie in Häuser der Zentral- und Maximalversorgung hat sich bewährt.

Sie haben schon die Eigenanteile von Pflegebedürftigen in Heimen angesprochen. Wird hier genug getan, um Betroffene vor finanzieller Überforderung zu schützen?

Kirschner: Nein, es wird bei weitem nicht genügend getan. Der Grundgedanke der Pflegeversicherung war ja, dass damit die Sozialhilfeabhängigkeit weitestgehend vermieden wird. Die Pflegeversicherung sollte analog zu anderen Bereichen das Notwendige übernehmen. Für Eigenanteile sollte meiner Meinung nach eine monatliche Obergrenze festgelegt werden, die nicht höher als 600 Euro liegt. Sie sollte die Kosten für Unterkunft und Verpflegung abdecken und nicht zum Teil deutlich über 2.500 Euro liegen. Deshalb bin ich für eine Vollversicherung. Und: Der Gesetzgeber muss endlich dafür sorgen, dass die Leistungsentgelte jährlich erhöht werden.

Thorsten Severin führte das Interview. Er ist Redakteur der G+G.
Bildnachweis: axentis.de/Georg J. Lopata