Vorsorgeleistungen

Potenziale für die Prävention

Darmspiegelung, Impfungen, Gesundheits-Check-up oder Zahnprophylaxe: Die Krankenkassen finanzieren Früherkennung und Vorsorge, um Krankheiten rechtzeitig zu entdecken oder sogar zu verhindern. Wie Menschen im Alter ab 55 Jahren in Sachsen-Anhalt diese Leistungen nachfragen und wie sich die Inanspruchnahme verbessern lässt, zeigt eine aktuelle Studie. Von Ilona Hrudey und Svenja Walter

Das Durchschnittsalter der Bevölkerung nimmt in Sachsen-Anhalt kontinuierlich zu: Im Jahr 2020 kamen auf 100 erwerbsfähige Einwohnerinnen und Einwohner bis zu einem Alter von 65 Jahren 40 ältere Menschen ab 65. Dieses Verhältnis wird bis 2035 voraussichtlich auf 59 zu 100 ansteigen. Risikofaktoren wie starkes Übergewicht, Tabak- und Alkoholkonsum tragen zusätzlich dazu bei, dass die Sterblichkeit bei den über 65-Jährigen in Sachsen-Anhalt höher als im Bundesdurchschnitt ist. Dabei sind Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen die häufigsten Todesursachen. Die regelmäßige Inanspruchnahme von Vorsorge- und Früherkennungsleistungen wie Impfungen und Zahnvorsorge (Primärprävention) sowie der allgemeinen Gesundheitsuntersuchung „Gesundheits-Check-up“ und Krebsfrüherkennungsuntersuchungen (Sekundärprävention), leistet einen wichtigen Beitrag zur Gesunderhaltung der alternden Bevölkerung und zur Entlastung des medizinischen Versorgungssystems. Zu den Teilnahmeraten sowie Gründen und Barrieren der Inanspruchnahme dieser Leistungen ist speziell für Sachsen-Anhalt jedoch noch wenig bekannt.

Studie bildet Nachfrage ab.

An dieser Stelle setzt die Studie „Prävention im Alter Sachsen-Anhalt“ (PrimA LSA) an. Um aktuelle Aussagen zur Inanspruchnahme treffen zu können, bildet sie die Teilnahmeraten an den Vorsorge- und Früherkennungsleistungen ab, analysiert Gründe und Barrieren für die Inanspruchnahme und leitet Potenziale für eine informierte sowie gesteigerte Inanspruchnahme von Vorsorge- und Früherkennungsleistungen bei Menschen ab 55 Jahren in Sachsen-Anhalt ab. Dafür fand eine schriftliche Befragung von Einwohnerinnen und Einwohnern statt, an der 954 der insgesamt 3.665 angeschriebenen Personen teilnahmen. Die Ergebnisse wurden mittels leitfadengestützter Interviews mit einem Teil der Befragten und weiteren Interviewpartnern der Zielgruppe vertieft. Zudem untersuchten die Forschenden mithilfe von Online-Fokusgruppendiskussionen die ärztlichen Sichtweisen. Einzelne Aussagen aus diesen Interviews und den Online-Fokusgruppen sind in diesem Beitrag pseudonymisiert zitiert. Demgegenüber steht eine Analyse des Angebots und der Qualität von digitalen Informationsmaterialen am Beispiel der Darmkrebsfrüherkennung. Die reale Inanspruchnahme der Leistungen wird im weiteren Verlauf der Studie mit Hilfe von Abrechnungsdaten analysiert.

Potenziale vonr Stefanie March, Gesundheitswissenschaftlerin

„Informationen gezielt aufbereiten“

Objektiv, aktuell, evidenzbasiert und barrierefrei sollten Gesundheitsinformationen sein, meint Stefanie March. Die Gesundheitswissenschaftlerin hat mit ihrem Projektteam Materialien zum Thema Darmkrebs-Früherkennung ausgewertet und sieht Verbesserungsbedarf. Zum G+G-Interview

In der Studie zeigt sich, dass die selbstberichtete regelmäßige Inanspruchnahme einzelner Leistungen, wie Impfungen und der Zahnvorsorge, nach Aussagen der Teilnehmenden in städtisch und ländlich geprägten Regionen Sachsen-Anhalts deutlich über dem Bundesdurchschnitt liegt. Dennoch ergeben sich mit Hinblick auf die Bedarfe unterschiedlicher Zielgruppen innerhalb der Bevölkerung ab 55 Jahren (beispielsweise nach Geschlecht und Berufstätigkeit) einige Handlungsfelder zur Weiterentwicklung von Präventionsangeboten.

Zwei Drittel der Frauen gehen zur Mammografie.

Bei den verschiedenen Krebsfrüherkennungsuntersuchungen halten sich die Befragten nach eigenen Aussagen weniger häufig an die empfohlenen Untersuchungsrhythmen als bei Impfungen oder der Zahnvorsorge (siehe Grafik „Nachfrage bleibt weit unter den Empfehlungen“). Jeweils etwa zwei Drittel der Frauen aus den städtisch und den ländlich geprägten Regionen nehmen die Brustkrebsfrüherkennung mittels Mammografie regelmäßig im zweijährigen Turnus in Anspruch. Das ist im Vergleich zum bundesweiten Durchschnitt etwas weniger (unter 50- bis 69-Jährigen rund 70 Prozent). An der Gebärmutterhalskrebs- sowie der Prostatakrebsfrüherkennung nehmen mit jeweils etwa 50 Prozent nahezu genauso viele der über-55-jährigen Frauen beziehungsweise Männer aus Sachsen-Anhalt turnusgemäß teil wie im bundesweiten Durchschnitt. Bei diesen geschlechtsspezifischen Leistungen zeigen sich nur geringfügige regionale Unterschiede.

Grafik: Selbstberichtete, regelmäßige Inanspruchnahme von Vorsorge- und Früherkennungsleistungen in der Altersgruppe 55+ in Sachsen-Anhalt (Erhebung im Balkendiagramm)

Bei der Krebsfrüherkennung bleibt die ältere Bevölkerung in Sachsen-Anhalt nach Ergebnissen der Studie „Prävention im Alter Sachsen-Anhalt“ deutlich hinter dem empfohlenen Untersuchungsrhythmus zurück. So nehmen nach eigener Auskunft lediglich 50 Prozent der Frauen und 43 Prozent der Männer in städtischen Regionen eine Darmspiegelung turnusgemäß in Anspruch. In ländlichen Regionen ist die Quote noch niedriger. Besser sieht es hingegen bei der Zahnvorsorge aus: Hierbei halten sich rund 90 Prozent der Befragten an die Empfehlungen. 

Quelle: PrimA LSA, 2022

Dagegen werden das Hautkrebsscreening und die Darmspiegelung zur Krebsfrüherkennung deutlich regelmäßiger von Frauen aus den städtisch geprägten Regionen in Anspruch genommen als von den Männern und allgemein den Einwohnern ländlich geprägter Regionen Sachsen-Anhalts (Differenzen von mehr als zehn Prozent). Die regelmäßige Teilnahme bei der Darmspiegelung in den ländlich geprägten Regionen ist mit 31 beziehungsweise 38 Prozent weitaus niedriger als im Bundesvergleich (55 Prozent turnusgemäße Teilnahme). Den Test auf okkultes Blut im Stuhl mit einem zweijährigen Untersuchungsrhythmus nehmen Männer aus ländlich geprägten Regionen mit rund 40 Prozent deutlich häufiger regelmäßig wahr als Männer aus den städtisch geprägten Regionen (rund 25 Prozent).
 
Wie auch deutschlandweit nimmt die turnusgemäße Teilnahme bei den Krebsfrüherkennungsuntersuchungen bei Männern mit steigendem Alter zu. Sie bleibt jedoch unterhalb der Teilnahmeraten der Frauen. Herr I. macht in einem Interview für die Studie deutlich: „[…] früher haben wir uns über Sex unterhalten, jetzt mehr über Vorsorge“. Ab 85 Jahren sinkt die regelmäßige Teilnahme der Befragungspersonen an den verschiedenen Untersuchungen. Das ist bei der Mammografie und der Koloskopie unter anderem auf die offiziellen Empfehlungen und Altersbegrenzungen zurückzuführen.

Rund ein Drittel verzichtet auf Gesundheits-Check-ups.

Etwas höher als bei den meisten Krebsfrüherkennungsuntersuchungen sind die selbstberichteten Teilnahmeraten beim Gesundheits-Check-up. Jeweils etwas mehr als 60 Prozent der Befragten nehmen die Ganzkörper-, Blut- und Urinuntersuchung in den städtisch und den ländlich geprägten Regionen regelmäßig im zwei- beziehungsweise dreijährigen Abstand in Anspruch. In der PrimA LSA-Erhebung zeigen sich keine Teilnahmeunterschiede zwischen den Geschlechtern oder den Regionen Sachsen-Anhalts. Die selbstberichtete, regelmäßige Inanspruchnahme zeigt mit Blick auf die Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen unter der alternden Bevölkerung Sachsen-Anhalts Entwicklungspotenzial.
 
In den vertiefenden Interviews wurden mögliche Ursachen für die ausbaufähige Teilnahmerate an den Gesundheitsuntersuchungen deutlich: Viele der Über-55-Jährigen nehmen ohnehin aufgrund chronischer Erkrankungen quartalsweise Laboruntersuchungen in Anspruch und stehen so unter regelmäßiger (haus-)ärztlicher Kontrolle. Gleichzeitig erscheinen den Interviewten die im Rahmen des Gesundheits-Check-ups untersuchten Laborwerte nur bedingt aussagekräftig: „[…] wenn man da wirklich […] was feststellen will, ist das [Blutbild] zu klein […]“ (Frau R., Interview).

Gute Nachfrage bei der Zahnvorsorge.

Eine gute Zahn- und Mundgesundheit trägt bis ins hohe Alter nicht nur zum Wohlbefinden bei, sondern hat auch Auswirkungen auf den gesamten Körper. Um Zähne und Zahnfleisch so lange wie möglich gesund zu erhalten, ist der regelmäßige Zahnarztbesuch unumgänglich. Nahezu alle Befragten geben an, regelmäßig (mindestens einmal im Jahr) an der Zahnvorsorgeuntersuchung teilzunehmen.

Grafik: Vorsorge und Früherkennung nach Leistung, Inhalt, anspruchsberechtigter Gruppe und Untersuchungsrhythmus

Quellen: Kassenärztliche Bundesvereinigung, Bundesgesundheitsministerium (2021)

Die Rate zur selbstberichteten Inanspruchnahme von jeweils etwa 90 Prozent ist dabei unabhängig vom Geschlecht oder der Region etwa gleich hoch und fällt ab dem 85. Lebensjahr auf jeweils rund 80 Prozent. Damit nehmen die Befragten in Sachsen-Anhalt nach eigenen Aussagen insgesamt häufiger entsprechend den Empfehlungen an der zahnärztlichen Kontrolle teil als im bundesweiten Vergleich. Allerdings haben einige der Befragten bei ihrer Antwort möglicherweise eher an eine zahnärztliche Behandlung per se gedacht und weniger an eine Zahnprophylaxe.
 
Mit Blick auf die Entwicklung des zahnärztlichen Versorgungssystems in Sachsen-Anhalt könnten sich die regelmäßigen (präventiven und kurativen) Zahnarztbesuche mittelfristig rückläufig entwickeln. Bereits 60 Prozent der Zahnmedizinerinnen und -mediziner in Sachsen-Anhalt sind über 55 Jahre alt. Mehrere Hundert von ihnen erreichen in den nächsten vier Jahren das Renteneintrittsalter – in vielen Fällen ohne Nachfolge. Es ist offen, ob die gute Inanspruchnahme der Zahnvorsorge auch bei verschlechterter Versorgungssituation konstant bleibt.

Informationsdefizite beim Impfangebot.

Die Ständige Impfkommission empfiehlt Erwachsenen neben den Standard-Impfungen (Auffrischung von Diphtherie, Tetanus und Keuchhusten) zudem ab 60 Jahren altersspezifische Impfungen gegen Pneumokokken, Gürtelrose und Influenza. In den städtisch geprägten und in den ländlich geprägten Regionen Sachsen-Anhalts nehmen die Befragten die empfohlenen Impfungen jeweils in etwa gleich häufig in Anspruch, es zeigten sich keine deutlichen regionalen Unterschiede. Die selbstberichtete Inanspruchnahme der Tetanusimpfung liegt bei Frauen und Männern in den städtischen und ländlichen Regionen jeweils zwischen 88 und 93 Prozent. Die Covid-19-(Erst-)Impfung nahmen nach eigenen Aussagen jeweils etwa 90 Prozent der Befragten in den städtisch und ländlich geprägten Regionen in Anspruch (Erhebung im April 2021). Dagegen ließen sich je Region lediglich zwei Drittel der Befragten jemals gegen Keuchhusten und gegen Pneumokokken impfen.
 
Bei der Teilnahme an diesen beiden Impfungen gibt es deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern: So geben in den städtisch und ländlich geprägten Regionen jeweils mehr Frauen als Männer an, die Keuchhusten- beziehungsweise die Pneumokokken-Impfung jemals in Anspruch genommen zu haben. Nur jeweils ein Drittel der Befragten ließ sich darüber hinaus jemals gegen Gürtelrose impfen – in den städtisch geprägten Regionen sogar nur etwa 22 Prozent der Männer.

  • Verbundpartner
    Institut für Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung (ISMG) der Medizinischen Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg & Fachbereich Soziale Arbeit, Gesundheit und Medien der Hochschule Magdeburg-Stendal, Standort Magdeburg
  • Projektleitungen
    PD Dr. Enno Swart, Dr. Christoph Stallmann (beide ISMG), Prof. Dr. Stefanie March (Hochschule Magdeburg-Stendal)
  • Laufzeit 1.8.2020 bis 30.9.2022
  • Finanzierung
    Europäischer Fonds für regionale Entwicklung, Land Sachsen-Anhalt, Teilprojekt im Forschungsverbund Autonomie im Alter
  • Methodik
  1. Schriftliche Befragung von 3.665 Einwohnerinnen und Einwohnern ab 55 Jahren in Magdeburg, Halle (Saale) (städtisch geprägte Regionen), Sangerhausen und Wanzleben-Börde (ländlich geprägte Regionen) zur selbstberichteten Inanspruchnahme von Vorsorge- und Früherkennungsleistungen, Gründen, Barrieren und weiteren Einflussfaktoren der Inanspruchnahme (April bis Juni 2021)
  2. 18 Telefon-Interviews mit 55- bis 75-Jährigen aus Magdeburg, Halle (Saale), Sangerhausen und Wanzleben-Börde zur Erfassung der individuellen Sichtweisen (Mai bis Juli 2021)
  3.  Zwei Online-Fokusgruppendiskussionen mit vier Allgemeinmedizinerinnen und -medizinern sowie drei weiteren Fachärztinnen und -ärzten aus dem nördlichen Sachsen-Anhalt zur Erhebung der ärztlichen Sichtweise auf Gründe und Barrieren der Inanspruchnahme und mögliche Maßnahmen für eine gesteigerte/ informierte Inanspruchnahme (Oktober 2021)
  4. Analyse von Abrechnungsdaten zur Abbildung der tatsächlichen Inanspruchnahme von Vorsorge- und Früherkennungsleistungen in Sachsen-Anhalt (November 2021 bis voraussichtlich August 2022)
  5. Systematische Evaluation von digitalen Informationsmaterialien am Beispiel der Darmkrebsfrüherkennung (Zeitraum: Dezember 2020 bis Juli 2021)
  6. Settingbezogene Befragung in Alten- und Service-Zentren der Stadt Magdeburg zur Wahrnehmung, Nutzung und Bewertung von Gesundheitsinformationen (Mai 2022)

Diese eher geringe Inanspruchnahme einzelner Impfungen scheint vor allem auf Informationsdefizite bezüglich der altersspezifischen Impfempfehlungen sowie deren Nutzen und Risiken zurückzugehen. So berichtet beispielsweise Frau M. im Interview: „Gürtelrose bin ich nicht geimpft. Also weiß ich nicht, ob das nun auch unbedingt notwendig ist. […] Weiß ich nicht, ob man sich da impfen lassen sollte oder nicht.“ Diese Informationsdefizite zeigen sich auch darin, dass 26 Prozent der Befragten, die sich nicht regelmäßig gegen Influenza impfen lassen (n=202), als Begründung anführten, dass sie sich (trotz entsprechendem Alter) nicht der Risikogruppe zugehörig fühlen.

Bonusprogramme erhöhen die Inanspruchnahme.

Die Nachfrage nach Vorsorgeleistungen wird oftmals mit sehr individuellen Faktoren begründet. Dazu gehören ein generelles Interesse an Gesundheit oder eigene Vorerkrankungen, aus denen eine regelmäßige Inanspruchnahme medizinischer Versorgung hervorgeht. Kommen „die Einschläge immer näher“ (Herr Dr. L., Kardiologe, Online-Fokusgruppendiskussion) – erkranken also Menschen aus dem sozialen Umfeld –, führt dies ebenfalls dazu, dass die eigene Gesundheit an Bedeutung gewinnt. Anreize von Seiten des Versorgungssystems begünstigen die Motivation, Vorsorgeuntersuchungen wahrzunehmen. Nach Aussagen der Studienteilnehmenden sowie der befragten Ärztinnen und Ärzte fördern vor allem Bonusprogramme, gezielte ärztliche Erinnerungen oder physisch und telefonisch gut erreichbare Praxen eine stetige Beteiligung an Vorsorge und Früherkennung.

Kurative Behandlung hat häufig Vorrang.

Im Umkehrschluss führen schwer erreichbare Praxen und lange Wartezeiten sowohl auf einen Termin als auch im Wartezimmer dazu, dass medizinische Versorgung nur wahrgenommen wird, wenn sie subjektiv notwendig erscheint. Studienteilnehmende und Ärzte aus den Fokusgruppen betonen den Vorrang der kurativen Behandlung vor Prävention durch Vorsorge- und Früherkennungsleistungen. Herr Dr. H., Allgemeinmediziner, macht in den Online-Fokusgruppendiskussionen deutlich: „Aber ich habe manchmal das Gefühl, ich bin nur noch Gesundheitsverwalter, komme gar nicht hinterher damit, das Eigentliche zu machen, was wir machen müssen. Weil es immer noch mehr Patienten gibt, die gar keine Versorgung haben. Und dann machen wir wenigstens das Nötigste. Und dann die Vorsorge; ob man da überhaupt noch dran denkt im Alltag, das ist dann schon schwierig.“

Die Teilnehmenden berichten zudem, dass sie medizinische Versorgung sowie Früherkennung nicht in Anspruch nehmen, wenn sie keine gesundheitlichen Beschwerden haben. Ein subjektiv guter Gesundheitszustand hält demnach von der Inanspruchnahme von Vorsorge und Früherkennung ab. Informationsdefizite über die Leistungen, deren Untersuchungsrhythmen, Nutzen und Risiken stellen über alle Vorsorge- und Früherkennungsleistungen hinweg weitere grundlegende Barrieren der Inanspruchnahme dar. Insbesondere bei Krebsfrüherkennungsuntersuchungen kommt hinzu, dass Angst vor einem positiven Befund besteht. Rund zehn Prozent der Befragten (n=229), die nicht an Krebsfrüherkennungsuntersuchungen teilnehmen, verdrängen derartige Themen daher so lange wie möglich.

Allgemeinmediziner als Türöffner.

Allgemeinmediziner sind niedrigschwellig die erste Anlaufstelle bei gesundheitlichen Fragen und Unsicherheiten. Sie nehmen aber auch zum Beispiel im Rahmen der Hausarztzentrierten Versorgung eine wegweisende Rolle im Behandlungsprozess ein. In den Interviews betonten die Befragten das uneingeschränkte Vertrauen in die Kompetenz, die Informationen und die Empfehlungen von (Allgemein-)Medizinerinnen und -Medizinern. Diese bedeutende Funktion ließe sich künftig stärker für den Bereich Prävention nutzen. Durch gezielte Erinnerungen, Empfehlungen und Überweisungen an weitere Fachärzte könnten die Vorsorge und Früherkennung systematisiert werden, „[…] dass da einer das so zusammenhält alles“ (Frau S., Interview). Dies setzt neben strukturellen Veränderungen im Versorgungssystem (zum Beispiel Erhöhung der Arztdichte) voraus, dass Prävention einen ähnlichen Stellenwert wie die kurative Behandlung einnimmt. Neben Abrechnungsmöglichkeiten benötigen Ärztinnen und Ärzte zeitliche Kapazitäten, um Patienten für Themen der Vorsorge und Früherkennung zu sensibilisieren.

Frauen motivieren Männer zur Vorsorge.

Auch wenn die Befragung insgesamt gute Inanspruchnahme-Raten bei Vorsorge- und Früherkennungsuntersuchungen ergeben hat, erleben die befragten niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte Männer als Gruppe mit ausgeprägten Risikofaktoren. „Männer gehen nicht so häufig zum Arzt. Männer sind dicker, rauchen mehr, trinken mehr, haben häufiger KHK, die nehmen Check-Up-Untersuchungen sowieso seltener wahr […]“ (Herr Dr. K., Urologe, Online-Fokusgruppendiskussion). Zwar erwiesen sich die interviewten, insbesondere die berufstätigen Männer privat und beruflich als sehr aktiv. Sie agieren im Versorgungssystem jedoch eher passiv, was die Terminvereinbarung und -wahrnehmung zur Vorsorge und Früherkennung betrifft.

Grafik zur Impfquote: Sebstberichtete Inanspruchnahme (jemals) von Impfungen in der Altersgruppe 55+ in Sachsen-Anhalt (Erhebung im Balkendiagramm)

Während rund 90 Prozent der für die Studie „Prävention im Alter Sachsen-Anhalt“ Befragten sich nach eigener Auskunft gegen Covid-19 und Tetanus impfen lassen haben, bleiben bei Gürtelrose und Pneumokokken große Lücken. So gaben nur 29 Prozent der Frauen und 22 Prozent der Männer aus städtischen Regionen an, die empfohlene Gürtelrose-Impfung in Anspruch genommen zu haben. In ländlichen Regionen waren es 32 beziehungsweise 33 Prozent.

Quelle: PrimA LSA, 2022

In der Studie PrimA LSA stellten sich Frauen nicht nur bezogen auf die eigene Inanspruchnahme von Vorsorge- und Früherkennungsleistungen als überdurchschnittlich heraus. Sie motivieren auch ihr soziales Umfeld. In Partnerschaften zeigen Frauen besonderes Engagement: „[…] Meinen Mann schleppe ich dann mit. Der würde da nicht auf den Gedanken kommen. Den melde ich dann einfach mit an […]“ (Frau B., Interview). Damit sind Frauen nicht nur eine aktive Ziel- und Anspruchsgruppe von Vorsorge- und Früherkennungsleistungen, sondern fungieren auch als Multiplikatorinnen.

DDR-Sozialisation führt zu höherer Impfquote.

Etablierte Untersuchungsintervalle sind bei allen Vorsorge- und Früherkennungsleistungen Anlass zur stetigen Teilnahme. Vor allem Leistungen, deren Inanspruchnahme seit Kindheitstagen Gewohnheit ist, werden bis ins hohe Erwachsenenalter als wichtig erachtet. In Sachsen-Anhalt beeinflusst die DDR-Sozialisation nach eigenen Aussagen der Interviewten bis heute insbesondere die Inanspruchnahme von Impfungen. Das macht sich in einer im Bundesvergleich höheren Impfquote bemerkbar.

Daneben ist im Zusammenhang mit der Präventionssozialisation jedoch auch das Geschlecht von Bedeutung. Im gynäkologischen Bereich werden Frauen früher in Bezug auf die Teilnahme an Krebsfrüherkennungsuntersuchungen sozialisiert als Männer: „Wenn ich die Patienten ab vierzehn, fünfzehn sehe […], baut [man] in der Zwischenzeit einen Patientenkontakt auf und hat zu einigen […] sehr, sehr, sehr guten Kontakt. Und da ist es natürlich auch einfacher, sie für bestimmte Präventionsmaßnahmen weiterhin zu motivieren […]“ (Frau Dr. H., Gynäkologin, Online-Fokusgruppendiskussion). Möglicherweise begünstigt dies auch – über den gynäkologischen Bereich hinaus – die im Vergleich zu Männern eigenverantwortliche, frühere, aktivere und kontinuierlichere Inanspruchnahme.

Einladungsverfahren fördert die Teilnahme.

Im Rahmen des Mammografie-Screenings sind Einladungsschreiben mit festgesetzten Terminen bereits eine etablierte Methode. Die Einladungen tragen zur kontinuierlichen Wahrnehmung der (unter anderem aufgrund von Schmerzen bei der Untersuchung eher unbeliebten) Früherkennungsleistung bei. Dabei veranlassen insbesondere die persönliche Ansprache sowie die Verbindlichkeit des Termins zur Inanspruchnahme: „Ich sage immer, ich warte, bis ich eine Vorladung kriege“ (Frau S., Interview).

Erinnerungen, Empfehlungen und Überweisungen könnten Vorsorge und Früherkennung systematisieren.

Organisierte Screeningprogramme sind damit eine wichtige Chance, um Versicherte auf ihren Anspruch aufmerksam zu machen und zur Teilnahme zu veranlassen. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat die Weiterentwicklung der Darmkrebs- und Gebärmutterhalskrebsfrüherkennung zu organisierten Screeningprogrammen als gesundheitspolitische Ziele festgehalten. Dementsprechend sind seit 2019 für die Darmkrebsfrüherkennung und seit 2020 für die Gebärmutterhalskrebsfrüherkennung standardisierte Einladungs- und Informationsverfahren für die Anspruchsberechtigten vorgesehen – anders als beim Mammografie-Screening jedoch ohne festgesetzten Termin und zentrale Anlaufstelle. Die Umsetzung dessen durch die gesetzlichen und privaten Krankenkassen scheint jedoch noch ausbaufähig – so berichtete nur eine der elf interviewten Frauen von derartigen Einladungen zur Gebärmutterhalskrebsfrüherkennung. Die Gynäkologin Frau Dr. H. macht im Rahmen der Online-Fokusgruppendiskussion deutlich, dass „[…] ein Bruchteil der Patientinnen wirklich informiert“ ist.

Informationen zielgruppenspezifisch gestalten.

Wenn Versicherte die Vorsorge- und Früherkennungsleistungen nicht wahrnehmen, liegt das nach Auskunft der Befragten oft auch daran, dass der kostenlose Anspruch auf die einzelnen Leistungen nicht bekannt ist. Gesundheitsedukation über verschiedene Medien, die von der Zielgruppe ab 55 Jahren vorrangig genutzt werden (zum Beispiel Fernsehen, Zeitungen, öffentliche Kampagnen), könnten dafür gezielter eingesetzt werden. Informationsmaterialien im Internet oder in den Praxen setzen gezieltes Interesse und Hintergrundwissen voraus, über das nur ein Teil der Zielgruppe verfügt. Viele der Studienteilnehmenden wollen nach eigenem Bekunden nicht selbst nach Gesundheitsinformationen suchen. Umso gewinnbringender erscheint der unaufgeforderte Versand (postalisch und/oder digital) adäquater Gesundheitsinformationen und -materialien an alle Versicherten durch die jeweiligen Krankenkassen.

Bei den Materialien bedarf es nach Meinung der Studienteilnehmenden und der befragten Ärzte zudem zielgruppenspezifischer Anpassungen. Das gegenwärtige Informationsmaterial regt nicht dazu an, bestehende Wissenslücken gezielt zu schließen, da die Inhalte entweder zu kleinteilig und komplex oder insgesamt zu unverständlich sind. Auch praktische Aspekte, wie die Zuständigkeit der verschiedenen ärztlichen Fachrichtungen für bestimmte Vorsorge- und Früherkennungsuntersuchungen, wären aus Sicht der Studienteilnehmenden interessant. Neben diesen subjektiven Anpassungspotenzialen zeigten sich in einer objektiven systematischen Evaluation von digitalen Informationsmaterialien zur Darmkrebsfrüherkennung weitere verbesserungswürdige Qualitätsbereiche (siehe Interview „Informationen gezielt aufbereiten).

Zugangsbarrieren abbauen.

Die ausgewählten Handlungsfelder geben Hinweise für die Weiterentwicklung von Vorsorge- und Früherkennungsangeboten sowie deren Inanspruchnahme. Diese können beispielsweise auf der Ebene der Gesundheitspolitik, des Gesundheitssystems (Krankenkassen und Arztpraxen) sowie in einzelnen Settings (Schulen und Betriebe) etabliert werden.
 
Ziel sollte es sein, Zugangsbarrieren zur medizinischen Versorgung zu minimieren, individuelle Informationsdefizite in der Bevölkerung durch zielgruppengerechte Information zu schließen und Ärztinnen und Ärzte in ihrer besonderen Aufklärungsfunktion zu stärken und zu unterstützen.

Unter Mitarbeit von PD Dr. Enno Swart, Dr. Christoph Stallmann und Prof. Dr. Stefanie March (Projektleitungen) sowie Claudia Hasenpusch und Henriette Faßhauer (wissenschaftliche Mitarbeiterinnen).

Ilona Hrudey ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt PrimA LSA am Institut für Sozialmedizin und Gesundheitssystem­forschung der Universität Magdeburg.
Svenja Walter ist ebenfallls als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt PrimA LSA am Institut für Sozialmedizin und Gesundheitssystem­forschung der Universität Magdeburg tätig.
Bildnachweis: istock/scyther5, Hochschule Magdeburg-Stendal