Das Leben mit Sohn Isajah übt Mercy Azubike in realistischem Szenario.
Pilotprojekt

Gut gerüstet für den Alltag

In einer Wohngemeinschaft in Trier erlernen Eltern von schwerstpflegebedürftigen Kindern, was sie für deren Betreuung zu Hause brauchen. Das Projekt „Ambulante Brückenpflege“ erleichtert so den Übergang aus dem Krankenhaus in die eigene Wohnung. Von Otmar Müller

Die Wochen in der Klinik

haben Mercy Azubike gezeichnet: „Das Leben hat uns mit voller Wucht ins Gesicht geschlagen. Ich war total verzweifelt und hatte kein bisschen Kraft mehr.“ Erst vor wenigen Stunden ist die junge Frau aus Kaiserslautern in der Wohngemeinschaft des Vereins „Nestwärme“ angekommen. Jetzt steht sie in der großen, aber dennoch gemütlichen Küche und erzählt der Pflegefachkraft Anne Heinz ihre Geschichte. Es duftet nach Kaffee und endlich nicht mehr nach Krankenhaus. Mercy Azubike scheint zum ersten Mal seit Längerem zur Ruhe zu kommen.
 
Mercy und ihr Mann Michael hatten sich auf ihr drittes Kind Isajah so sehr gefreut. Die Eltern haben bereits zwei gesunde Kinder, einen kleinen Sohn und eine begabte Tochter, die davon träumt, Sängerin zu werden. Nichts deutete in der Schwangerschaft auf Probleme hin oder dass ihr drittes Kind schwer krank sein würde. Doch bei der Geburt kam es plötzlich zu Problemen. Das Kind habe durch einen Sauerstoffmangel unter der Geburt schwere Schäden erlitten, erzählt Azubike.

Kinderkrankenschwester Lydia Rinke (r.) leitet Mercy Azubike in der Pflege an.

Den Moment, als klar wurde, dass Isajah lebenslang beeinträchtigt sein wird, beschreibt der Vater so: „Es war, als ob mir der Boden unter den Füßen weggerissen wurde. Ich spürte meine Beine nicht mehr.“ Viel mehr erzählt der junge Mann, der in Kaiserlautern bei den amerikanischen Streitkräften arbeitet, nicht. Über seine Gefühle spricht er nicht so gerne. „So sind die Männer eben“, sagt seine Frau lachend. Doch das Lächeln verschwindet schnell von ihrem Gesicht, als sie weiter erzählt. „Wir hatten nur noch einen einzigen Gedanken: Isajah soll das schaffen, er soll leben. Und wir schafften das dann auch irgendwie.“ Im Krankenhaus war sofort klar, dass Isajah nicht nur in der Klinik, sondern auch zu Hause auf eine intensive Pflege angewiesen sein wird.

Lernen in familiärer Atmosphäre.

Benötigen schwer kranke Kinder nach einem Aufenthalt auf der Intensivstation dauerhaft Pflege, steht den Eltern ein schwerer Weg bevor. Damit das Kind zu Hause leben kann, müssen die Eltern zuerst die notwendigen Kenntnisse für die Intensivpflege erlernen. Gerade im Umfeld einer Intensivstation ist das eine große Herausforderung und führt zu unnötig langen Klinikaufenthalten.

Der in Trier ansässige Verein Nestwärme hat mit dem Pilotprojekt „Ambulante Brückenpflege“ vor vier Jahren ein alternatives Angebot für betroffene Eltern und Kinder geschaffen. „Die Idee ist aus der Nachfrage von Familien entstanden“, berichtet Elisabeth Schuh, 2. Vorsitzende und Geschäftsführerin des Vereins. Bevor die Familien nach dem Klinikaufenthalt des Kindes in die eigenen vier Wände zurückkehren, lernen die Eltern in der Trierer Wohngemeinschaft, in der bis zu fünf Familien mit schwerstpflegebedürftigen Kindern oder Frühgeborenen Platz haben, die Rund-um-die-Uhr-Pflege in einem realistischen Szenario. In familiärer Atmosphäre wird den Eltern die Möglichkeit gegeben, die Pflege ihres Kindes an der Seite erfahrener Pflegefachkräfte zu erlernen. So können sie sich Schritt für Schritt auf eine Pflege in der häuslichen Struktur vorbereiten.

Jede Familie hat in der Wohngemeinschaft ihr eigenes barrierefreies Zimmer, das mit einem Kinderpflegebett ausgestattet ist. Jeweils zwei Familien teilen sich ein Bad. Alles ist bewusst wie im häuslichen Umfeld gehalten: So gibt es beispielsweise keine Technik­leisten für Sauerstoff, Druckluft und Beatmungsgerät, wie man es aus dem Krankenhaus kennt, sondern normale Steckdosen für mobile Geräte.

Pflegeerfahrung lebensnah vermitteln.

„Allein in Deutschland leben über eine Million Familien, die ein chronisch krankes oder behindertes Kind zu Hause pflegen und betreuen. Schätzungsweise 50.000 Kinder sind von einer lebensverkürzenden Erkrankung betroffen“, macht Schuh das Ausmaß deutlich. Schwer kranke Kinder seien ganz besonders auf eine vertrauensvolle und tragfähige Beziehung zu ihren Eltern angewiesen, erklärt die Diplom-Psychologin weiter. „Ein dauerhaft krankes Kind zu Hause zu versorgen, ist ein Fulltime-Job für die Eltern, der sie physisch und psychisch an ihre Grenzen bringt – und leider oft auch an den Rand der Gesellschaft.“

Ein dauerhaft krankes Kind zu versorgen, ist ein Fulltime-Job für die Eltern.

Häufig bestünden gerade beim Übergang vom Krankenhaus zurück in die eigene Wohnung noch viele Unsicherheiten, die aus Unerfahrenheit und Unkenntnis herrühren. „Die Eltern kennen die Bedürfnisse ihres Kindes noch nicht genau und haben auch keinerlei Rüstzeug für die Betreuung zu Hause“, so Schuh weiter. Deshalb ist das zentrale Ziel des Projekts, den Eltern die Pflegeerfahrung so praktisch und lebensnah wie möglich zu vermitteln, damit diese selbstbewusster und selbstständiger mit den Anforderungen der Intensivpflege zu Hause umgehen können.

Kühler Kopf in Extremsituationen.

Mit einem Angebot wie der Brückenpflege kann den Eltern ihre Angst und Sorge um das Kind genommen werden. Beim Verein Nestwärme haben sie erstmals die Chance, in Ruhe und in einer familiären Atmosphäre unter fachlicher Anleitung ihr Kind mit seinen besonderen Bedürfnissen besser verstehen zu lernen. Diese Sicherheit, die die Eltern zunehmend gewinnen, wirkt sich positiv und stabilisierend auf die gesamte Familie aus. Die in der Wohngemeinschaft gewonnenen Erfahrungen können sie später zu Hause anwenden und behalten auch in Extremsituationen einen kühlen Kopf.

Die ganze Familie im Blick behalten.

Eine systematische Auswertung der Arbeit in der Brückenpflege macht deutlich, wie wichtig es ist, das pflegebedürftige Kind und gleichermaßen die pflegenden Eltern in den Blick zu nehmen. Daher fordert das Beratungsangebot in der Wohngemeinschaft des Vereins Nestwärme von den Pflegefachkräften weit mehr als die verordnete Behandlungspflege. Als examinierte Kinderkrankenschwester mit über zehn Jahren Erfahrung in der ambulanten Kinderintensivpflege hat Anne Heinz viele Familien kennengelernt und viele Kinder gepflegt. Sie hat erlebt, wie zunächst intakte Beziehungen an den Unsicherheiten und Belastungen zerbrechen und wie den Beteiligten nach und nach der Blick für jeden Einzelnen mit seinen ganz eigenen Problemen verloren geht.

„Die ganze Familie im Blick zu behalten, ist eine zentrale Aufgabe der Brückenpflege, denn jedes Familienmitglied erlebt seine persönliche Situation und hat andere Bedürfnisse“, erklärt die examinierte Fachpflegekraft. „Werden hier keine individuellen Lösungen gefunden, kann sich weder der Einzelne, auch nicht das pflegebedürftige Kind, noch das Familiensystem im weiteren Sinne gesund entwickeln.“

Vertrag sorgt für Verbindlichkeit.

Die AOK Rheinland-Pfalz/Saarland stand dem Projekt von Anfang an positiv gegenüber und hat durch speziell darauf abgestimmte vertragliche Vereinbarungen eine Verbindlichkeit geschaffen. „Gerade an der Schnittstelle zwischen stationärer und ambulanter Versorgung hakt es oft.

Deshalb ist die Brückenpflege mit ihrem tollen Unterstützungsangebot für die betroffenen Familien so wichtig“, sagt Dr. Martina Niemeyer, Vorstandsvorsitzende der AOK Rheinland-Pfalz/Saarland. Das Projekt ist deshalb auch eins von über 100 Leuchtturmprojekten der AOK-Initiative „Stadt. Land. Gesund“. Diese Projekte haben aus AOK-Sicht das Potenzial, Lücken in der Gesundheitsversorgung zu schließen.

Otmar Müller ist freier Journalist und hat in Köln ein Medienbüro mit dem Schwerpunkt Gesundheitspolitik.
Bildnachweis: nestwärme e. V./Esther Jansen