Thema des Monats

Viel Klein-Klein nach Lahnstein

Vor 30 Jahren ermöglichte ein parteiübergreifender Kompromiss in Lahnstein das Gesundheitsstrukturgesetz. Diese Reform stellte damals die Weichen für den Wettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung. Für einen derart großen Wurf fehlen heute die Konzepte, der Mut und das Bemühen um einen breiten politischen Konsens, resümiert Prof. Dr. Klaus Jacobs.

Wer mit Gesundheits- und Pflegepolitik zu tun hat, kann ein Lied davon singen: Ein Gesetz folgt gewöhnlich dem nächsten. Auch wenn es in der Vergangenheit nicht immer so hyperaktiv zuging wie unter Gesundheitsminister Jens Spahn, scheint es bei der Organisation und Finanzierung der Gesundheits- und Pflegeversorgung offenbar ständig etwas gesetzlich zu stärken, zu verbessern, weiterzuentwickeln oder neu zu ordnen zu geben, wenn man den ambitionierten Namen der zahlreichen Reformgesetze der letzten Jahrzehnte glauben darf. Allerdings sind die meisten dieser Gesetze schon nach wenigen Jahren wieder vergessen.

Doch in der langen Geschichte der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gibt es ein Reformgesetz, an das sich viele noch nach Jahrzehnten erinnern. Die Rede ist vom Gesundheitsstrukturgesetz (GSG), das der Bundestag vor 30 Jahren verabschiedet hat. Es ist bis heute mit dem Namen Lahnstein verbunden. In dieser kleinen Stadt am Rhein fanden im Herbst 1992 die entscheidenden Sitzungen statt, die schließlich zur Verabschiedung des GSG führten.

Synonym für eine erfolgreiche Reform.

Warum ist Lahnstein bis heute geradezu ein Synonym für eine erfolgreiche Strukturreform der GKV geblieben, wie es sie seither in vergleichbarer Form nicht wieder gegeben hat? Was waren damals die wesentlichen Erfolgsfaktoren? Lassen sich hieraus für die Politik vielleicht sogar Lehren hinsichtlich künftiger Strukturreformen ableiten? Schließlich gilt es als unstrittig, dass die Gesundheits- und Pflegeversorgung sowohl im Hinblick auf ihre Organisation als auch auf ihre Finanzierung dringend struktureller Reformen bedarf.

Beginnen wir beim Rückblick auf Lahnstein mit den zentralen Inhalten des GSG (siehe Kasten „30 Jahre Lahnstein: Kernpunkte der Gesundheitsreform“). In Bezug auf die Ausgabenseite lassen sich die Maßnahmen als Mixtur aus klassischer Kostendämpfung und strukturellen Weichenstellungen bezeichnen. Zur ersten Kategorie zählen etwa die Ausweitung von Arzneimittel-Zuzahlungen, die Budgetierung von Honoraren und Verordnungen sowie Zulassungsbeschränkungen gegen die damals als problematisch empfundene „Ärzteschwemme“. Struktureller Natur waren dagegen Reformmaßnahmen wie die Abkehr vom Selbstkostendeckungsprinzip im Krankenhaus, die Öffnung der Krankenhäuser für ambulante Operationen, die dauerhafte Zulassung der früheren DDR-Polikliniken oder die Stärkung des Hausarztprinzips. Hieran konnte der Gesetzgeber bei späteren Reformen anknüpfen.

Organisationsstrukturen erneuert.

Im Mittelpunkt des GSG stand aber ohne jeden Zweifel die Reform der Organisationsstrukturen der GKV mit zwei zentralen Neuerungen: Einführung der weithin unbeschränkten freien Wahl der Krankenkasse sowie eines bundesweiten Risikostrukturausgleichs zwischen allen Kassen. Dabei lässt sich aus heutiger Sicht kaum noch ermessen, wie weitreichend diese Reformschritte damals waren, denn die freie Kassenwahl ist längst eine Selbstverständlichkeit geworden. Das war vor 30 Jahren aber keineswegs der Fall. Vielmehr reichte der Ursprung der bis Lahnstein geltenden berufsständischen Gliederungsprinzipien der GKV noch zurück in deren Gründungszeit unter Bismarck. Arbeiter waren mit wenigen Ausnahmen der Pflichtkasse ihres Arbeitgebers zugeordnet: einer Betriebs- oder Innungskrankenkasse, der Knappschaft oder der örtlichen AOK. Angestellte konnten daneben auch eine Ersatzkasse wählen, allerdings nicht jede. Dies lässt der Name „Techniker“ noch heute erkennen, denn diese Kasse stand damals nur Angehörigen technischer Berufe offen.

Gravierende Beitragssatzunterschiede.

Die unterschiedlichen Wahlrechte von Arbeitern und Angestellten waren im ausgehenden 20. Jahrhundert aber nicht nur gesellschaftspolitisch überholt. Sie führten aufgrund der mit ihnen verbundenen Selektionswirkungen in Bezug auf Einkommen, Alter und Krankheitslast der Versicherten zu gravierenden Beitragssatzunterschieden zwischen lediglich acht bis zu weit über 16 Prozent. Dass eine mit guten Erfolgsaussichten verbundene Klage gegen die Benachteiligung von Arbeitern beim Bundesverfassungsgericht lag, erhöhte den Reformdruck auf die Politik.

Zum Erfolgsrezept von Lahnstein gehörte die Absicht, eine Reform im Interesse der Versicherten zu gestalten.

Wie sich die Politik damals entschied, lässt sich am gegenwärtigen Zustand der GKV ablesen: Heute gibt es weder eine Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten in Bezug auf die Kassenwahl, noch haben einzelne Kassen die Möglichkeit, bestimmte Gruppen von Mitgliedern abzulehnen. Allerdings war diese Entscheidung damals alles andere als unstrittig. Insbesondere die Krankenkassen und ihre Verbände waren erbitterte Gegner der freien Kassenwahl und stellten ihre institutionellen Interessen über das Wahlrecht der Versicherten.

Weichenstellung für den Wettbewerb.

Bei der Einführung der freien Kassenwahl ging es zunächst um die Beseitigung der längst nicht mehr zeitgemäßen Ungleichbehandlung von Arbeitern und Angestellten. Für alle Beteiligten war aber klar, dass damit zugleich eine Grundsatzentscheidung zugunsten einer wettbewerblich ausgerichteten GKV verbunden war. Ein GKV-weiter Risikostrukturausgleich sollte hierfür hinreichend ausgewogene Bedingungen schaffen und verhindern, dass sich die Krankenkassen vorrangig um junge und einkommensstarke Versicherte kümmern.

Funktion und Funktionsweise des Risikostrukturausgleichs hatten Wissenschaftler zuvor ausgiebig analysiert. Eine vom Bundestag eingerichtete Enquete-Kommission zur Strukturreform der GKV befürwortete diesen Ausgleichsmechanismus ebenso wie der Sachverständigenrat Gesundheit. Im Unterschied zu dem zuvor in der Krankenversicherung der Rentner praktizierten vollständigen Ausgabenausgleich orientiert sich der Risikostrukturausgleich an Durchschnittsausgaben der Versicherten. Deshalb haben alle Kassen einen Anreiz, ihre tatsächlichen Ausgaben möglichst gering zu halten. Dieses Grundprinzip des Risikostrukturausgleichs hat sich trotz seiner späteren Weiterentwicklung – insbesondere die 2009 zusammen mit der Einführung des Gesundheitsfonds erfolgte direkte Morbiditätsorientierung – bis heute nicht verändert.

Das Erfolgsrezept von Lahnstein.

Über die Inhalte des GSG hinaus ist aus heutiger Sicht von Interesse, wie diese weitreichende Strukturreform überhaupt gelingen konnte. Hartmut Reiners hat die Entstehungsgeschichte des GSG mehrfach beschrieben. Dass er damals als Fachbeamter des Landes Brandenburg in Lahnstein mitbeteiligt war, verweist bereits auf einen ganz wesentlichen Erfolgsfaktor: die frühzeitige Einbindung der Länder, und zwar unabhängig von ihrer parteipolitischen Färbung. Brandenburg hatte damals – wie heute – eine SPD-geführte Landesregierung, während die SPD auf Bundesebene Anfang der 1990er-Jahre in der Opposition war. Aber weil die christlich-liberale Bundesregierung von Helmut Kohl keine Mehrheit im Bundesrat hatte, war sie bei zustimmungspflichtigen Gesetzen auf das Zustandekommen einer „faktischen Großen Koalition“ angewiesen. Horst Seehofer, im Mai 1992 Bundesgesundheitsminister geworden, war hierzu ebenso bereit und entschlossen wie Rudolf Dreßler, der damalige stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion.

Im Herbst 1992 verständigten sich die Regierungskoalition aus Union und FDP mit der SPD-Opposition und den Bundesländern in Lahnstein auf das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG), das 1993 in Kraft trat. Die zentralen Inhalte:
 

  • Budgetierung der Ausgaben für Krankenhausleistungen, ärztliche und zahnärztliche Behandlung, Arznei- und Heilmittel sowie der Verwaltungskosten der Krankenkassen; Anbindung der einzelnen Budgets an die Einnahmeentwicklung der Krankenkassen;
  • steigende Zuzahlungen der Versicherten bei Zahnersatz, Arznei- und Heilmitteln; nach Packungsgröße gestaffelte Zuzahlungen für Medikamente;
  • Ausschluss kieferorthopädischer Behandlungen für Erwachsene und bestimmter Zahnersatz-Versorgungsformen aus dem GKV-Leistungskatalog;
  • Steuerung der Arztzahlen durch verschärfte Bedarfsplanung und Zulassungsbeschränkungen;
  • Organisationsreform der Krankenkassen: unter anderem Einführung des Wettbewerbs durch freie Kassenwahl für alle Versicherten und neue Entscheidungsstrukturen in der gemeinsamen Selbstverwaltung;
  • Einführung des kassenartenübergreifenden Risikostrukturausgleichs (RSA);
  • geplante Einführung einer Positivliste für Arzneimittel, die allerdings nach Inkrafttreten der Reform aufgegeben wurde;
  • Verzahnung der ambulanten und stationären Versorgung durch ambulantes Operieren;
  • Aufhebung des Selbstkostendeckungsprinzips im Krankenhaus und Einführung eines neuen Entgeltsystems mit Fallpauschalen und Sonder­entgelten.

Quelle: AOK-Bundesverband – 1993: Gesundheitsstrukturgesetz (GSG)

Damit sind die wesentlichen Zutaten für das Gelingen einer Reform benannt, an die es sich auch noch eine Generation später zu erinnern lohnt: aktueller Handlungsdruck, ausgearbeitete Elemente eines zukunftsorientierten Reformkonzepts sowie nicht zuletzt eine breite Sachkoalition auf Bundes- und Landesebene, die zum gemeinsamen Handeln entschlossen war, und zwar ohne dabei große Rücksicht auf die Interessen der zahlreichen Lobbyverbände zu nehmen. Auch das gehörte zum Erfolgsrezept von Lahnstein: die feste Absicht, eine Reform im primären Interesse der Versicherten zu gestalten.

Folgen für die Kassenlandschaft.

Für die Krankenkassen hatte das GSG massive Auswirkungen. Doch obwohl sie und ihre Verbände vehement gegen die Einführung der freien Kassenwahl opponiert hatten, gab es nach der Verabschiedung des GSG kein großes Wehgeschrei. Stattdessen wurden alle Hebel in Bewegung gesetzt, sich gedanklich und organisatorisch auf die neue Wettbewerbswelt einzustellen. Das galt in besonderer Weise für die AOKs. Sie waren zuvor reine Zuweisungskassen, während sich die Ersatzkassen schon immer als Wahlkassen verstanden hatten und zunächst keinen besonderen Anpassungsdruck verspürten. Auf jeden Fall kam der Krankenkassenmarkt gehörig in Bewegung, wie allein die Entwicklung der Anzahl der Kassen deutlich macht (siehe Grafik „Lahnstein-Folge: Zahl der Krankenkassen sinkt“). Während es unmittelbar vor Lahnstein noch 1.223 selbstständige Kassen gab – davon allein 744 Betriebskrankenkassen und 289 AOKs –, hatte sich diese Zahl nur fünf Jahre später bereits mehr als halbiert und war zehn Jahre später auf rund ein Drittel gesunken. Auch seither hat sich die Anzahl der Kassen weiter verringert und Anfang 2022 erstmals die 100-Kassen-Grenze unterschritten, darunter noch elf AOKs.

Auf der Kassenseite gab es als Antwort auf Lahnstein noch eine zweite bemerkenswerte Reaktion, und zwar programmatischer Natur. Nach der Devise „Wenn wir die freie Kassenwahl schon nicht verhindern konnten, wollen wir den dadurch ausgelösten Wettbewerb wenigstens produktiv nutzen“ hatte eine Arbeitsgemeinschaft aller Verbände der Krankenkassen bereits 1994 eine Schrift mit dem Titel „Solidarische Wettbewerbsordnung als Grundlage für eine zukunftsorientierte gesetzliche Krankenversicherung“ veröffentlicht.
 
Darin wird die wettbewerbliche Vertragspolitik der Kassen zur Verbesserung von Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung als Kernbereich des mit dem GSG ausgelösten Kassenwettbewerbs identifiziert. Zwar sei ein einheitlicher Rahmen in Gestalt von einem einheitlichen Leistungskatalog und Mindestqualitätsstandards erforderlich, doch sollten innerhalb dieses Rahmens auf der Suche nach optimalen Vertrags­lösungen eigenständige Wege beschritten werden.

Stillstand im Vertragswettbewerb.

Die Politik hat die solidarische Wettbewerbsordnung jedoch niemals konsequent weiterentwickelt. Um den durch die Lahnstein-Beschlüsse ausgelösten Kassenwettbewerb auf die Verbesserung von Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung auszurichten, hätte dem Instrument des Selektivvertrags Vorrang gegenüber dem – überdies nach Sektoren getrennten – Kollektivvertragsregime eingeräumt werden müssen.

Das Grundprinzip des Risikostrukturausgleichs hat sich bis heute nicht verändert.

Zwar kann in einigen Versorgungsbereichen die vertragswettbewerbliche Steuerung nicht funktionieren, weil bestimmte angebots- oder nachfrageseitige Voraussetzungen dafür fehlen. Dies gilt etwa für ländlich strukturierte Räume, in denen es nicht genügend Anbieter von Versorgungsleistungen gibt. Oder im Fall von demenziell erkrankten Pflegebedürftigen, die nicht in der Lage sind, gemäß ihren Bedürfnissen zwischen alternativen Versorgungsformen zu wählen, die ihnen mit speziellen Versorgungstarifen angeboten werden. Aber weder lebt die überwiegende Mehrheit der Versicherten auf dem „platten Land“, noch ist sie generell unfähig, zwischen unterschiedlichen Versorgungsangeboten zu wählen, sofern es genügend Transparenz über die jeweiligen Folgen gibt. Gleichwohl spielt der Kassenwettbewerb bei der Versorgungssteuerung programmatisch heute praktisch keine Rolle mehr. Dass Versicherte zwischen alternativen Versorgungsmodellen wählen und damit ihre Präferenzen offenbaren können, kommt in den reformpolitischen Konzepten der politischen Parteien nirgends vor.

Gut gemeint, schlecht gemacht.

Das Ende 2003 verabschiedete GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) enthielt im Vergleich mit der übrigen Gesetzgebung nach Lahnstein noch die meisten strukturellen Reformelemente mit vertragswettbewerblicher Perspektive. Bei seinem Zustandekommen gibt es durchaus Ähnlichkeiten zum Gesundheitsstrukturgesetz: Auch das GMG wurde in einer breiten Sachkoalition aus Bundesregierung (Rot-Grün mit Gesundheitsministerin Ulla Schmidt) und Opposition (Union mit Horst Seehofer) unter unmittelbarer Beteiligung der Länder ausgehandelt.
 
Die Beteiligten beschlossen damals unter anderem, die Hausarztzentrierte Versorgung als selektivvertragliche Angebotsoption einzuführen. Darüber hinaus machten sie die gleichfalls selektivvertragsbasierte Integrierte Versorgung durch eine pragmatische Pauschalbereinigung der Kollektivvergütungen zumindest vorübergehend gangbar („Anschubfinanzierung“). Außerdem führten sie die ambulante Versorgung im Krankenhaus für hochspezialisierte Leistungen und die Behandlung seltener Erkrankungen auf selektivvertraglicher Basis ein. Aus diesem Leistungsbereich hat sich später die Ambulante spezialfachärztliche Versorgung entwickelt, allerdings als ordnungspolitischer Fremdkörper in einer vertragsfreien Ausgestaltung („Wer kann, der darf“). Für alle drei genannten vertragswettbewerblichen Vorhaben des GMG lautete das Urteil: gut gemeint, aber schlecht gemacht. Es war einer Kombination aus konzeptionellen Defiziten und mangelndem Mut geschuldet, dass der Vertragswettbewerb auch durch das GMG keine echte Chance bekam, sich als wirksames Steuerungskonzept zu beweisen.

Lahnstein bleibt unerfülltes Versprechen.

Die skeptische Sicht auf vertragswettbewerbliche Versorgungsgestaltung gewann in der Folgezeit immer mehr die Oberhand, sodass Lahnstein bis heute ein unerfülltes Versprechen geblieben ist. Dass der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn im Frühjahr 2019 bei der Vorlage seines Entwurfs für das Faire-Kassenwahl-Gesetz, das später zum Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz mutierte, einen expliziten Bezug zu Lahnstein herstellte, mutete geradezu wie ein Treppenwitz an. Ausgerechnet der für seinen umfassenden Regelungsanspruch in Gestalt gesetzlicher Detailvorgaben bekannte Jens Spahn hatte mit Vertragswettbewerb zu keinem Zeitpunkt seiner Ministerzeit etwas am Hut. Der im Kontext von Lahnstein häufig verwendete Begriff des Selbststeuerungspotenzials der GKV kam im aktiven Wortschatz von Jens Spahn nicht vor.

Balkendiagramm: Lahnstein-Folge: Zahl der Krankenkassen sinkt

Das Gesundheitsstrukturgesetz mit der 1992 in Lahnstein beschlossenen, ab 1996 ermöglichten freien Kassenwahl veränderte die Kassenlandschaft von Grund auf. Der Wettbewerb zog in die Sozialversicherung ein. Die Zahl der Krankenkassen sank daraufhin von 1.223 im Jahr 1992 auf 97 im Jahr 2022.

Quellen: Bundesgesundheitsministerium, GKV-Spitzenverband

Das gilt aber ebenso für seinen Nachfolger Karl Lauterbach. Auch die Ampel-Koalition bewegt sich in puncto konsistenter Strukturen der Versorgungssteuerung weitgehend im ordnungspolitischen Nirwana. Sonst würde im Koalitionsvertrag kaum innerhalb desselben Satzes angekündigt, die Attraktivität von bevölkerungsbezogenen Versorgungsverträgen (Gesundheitsregionen) zu erhöhen und den gesetzlichen Spielraum für Verträge zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern auszuweiten, um innovative Versorgungsformen zu stärken. Regionale Einheitsversorgung geht mit Wettbewerb um Versorgungsinnovationen nicht zusammen – es sei denn, es würde an einheitliche Gesundheitsregionen im ländlichen Raum und an innovativen Versorgungswettbewerb in Agglomerationen gedacht. Doch wer die gesundheitspolitisch Verantwortlichen kennt, weiß, dass ihnen eine derart differenzierte Sicht völlig fremd ist.

Dreiklang an Voraussetzungen fehlt.

Lahnstein hat vor drei Jahrzehnten gezeigt, dass für eine echte Strukturreform ein stimmiges Reformkonzept, politischer Mut und eine breite Mehrheit in Bund und Ländern erforderlich sind. Dieser Dreiklang an Reformvoraussetzungen ist heute nicht im Entferntesten gegeben. Obwohl viele Konzepte vorliegen, geht die Politik ihre Umsetzung nicht mutig an, von einem erkennbaren Bemühen um die Herstellung einer breiten Mehrheit in Bund und Ländern ganz zu schweigen.

Das gilt für die dringend anstehende Krankenhausstrukturreform, die durch die Einsetzung einer Expertenkommission unnötig auf die lange Bank geschoben wird. Das gilt auch für zukunftsweisende Reformen der solidarischen Finanzierung der GKV. Die Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten beim Krankenversicherungsschutz wurde vor 30 Jahren als nicht mehr zeitgemäß empfunden. Warum gilt dies nicht längst auch für die gleichfalls fragwürdige Ungleichbehandlung von Arbeitnehmern, Beamten und Selbstständigen? Die Ampel-Regierung tabuisiert diese Thematik. Das zeigt, dass der Schutz von institutionellen Interessen und der Erhalt von Privilegien weiterhin Vorrang gegenüber einer Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts genießen dürften. Anderswo mag es Zeitenwenden geben, hier nicht.

Problembewusstsein entwickeln.

Für andere Strukturreformen fehlen derzeit aber nicht nur politischer Mut und ein breites Reformbündnis, sondern ein hinreichend ausgeprägtes Problembewusstsein sowie ein stimmiges Konzept. Das gilt insbesondere für konsistente Strukturen der Versorgungssteuerung, einschließlich der gezielten Einbindung des Krankenkassenwettbewerbs, dessen Grundlagen vor 30 Jahren in Lahnstein gelegt wurden.

  • Dieter Cassel, Klaus Jacobs, Christoph Vauth, Jürgen Zerth (Hrsg.): Solidarische Wettbewerbsordnung. Genese, Umsetzung und Perspektiven einer Konzeption zur wettbewerblichen Gestaltung der GKV. Medhochzwei, Heidelberg 2014.
  • Franz Knieps, Hartmut Reiners: Gesundheitsreformen in Deutschland. Geschichte – Intentionen – Kontroversen. Hogrefe, Bern 2015.
  • KomPart-Verlag (Hrsg.): Die Reformfibel 2.0. Handbuch der Gesundheitsreformen bis Ende 2017. KomPart, Berlin 2018.

Damals hätte sich wohl kaum jemand vorstellen können, dass konkrete Aufgaben der Versorgungsgestaltung – zum Beispiel die Verminderung von Wartezeiten auf Facharzttermine – auch noch eine Generation später GKV-weit einheitlich durch bundesgesetzliche Detailvorgaben adressiert und nach dem Gießkannenprinzip üppig finanziert würden. Oder dass es für Versorgungsinnovationen ein zentrales bürokratisches Förderregime gibt, bei dem neben zwei Bundesministerien auch die Institutionen der Versorgungssektoren vertreten sind, deren starre Grenzen im Patienteninteresse gerade „innovativ“ überwunden werden sollen.

Insoweit ist von der durch Lahnstein ausgelösten Aufbruchstimmung nicht viel übriggeblieben. Doch wer weiß? Vielleicht tut sich ja noch einmal ein ähnliches sozialgeschichtliches Fenster auf wie im Jahr 1992. Immerhin hat Lahnstein gezeigt, dass so etwas grundsätzlich möglich ist. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

Klaus Jacobs ist Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO).
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