Fehler im Finanzausgleich gehen zulasten vulnerabler Gruppen.
Risikostrukturausgleich

Unwucht im System

Für die Gesundheitsversorgung von pflegebedürftigen Menschen und anderen vulnerablen Gruppen erhalten die Krankenkassen zu wenig Geld aus dem Gesundheitsfonds. Ein Gutachten macht deutlich, wie sich der Risikostrukturausgleich verbessern ließe. Von Änne Töpfer

Obwohl der Gesetzgeber

den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) gerade erst 2020 angepasst hat, gibt es weiter Schwachstellen und Reformbedarf: Die Mittel aus dem Gesundheitsfonds fließen nicht dahin, wo sie am dringendsten benötigt werden. Das belegt ein Gutachten des Forschungsinstituts für Medizinmanagement und des Lehrstuhls für Medizinmanagement der Universität Duisburg-Essen. Demnach besteht eine systematische Unterdeckung der Gesundheitsausgaben für Menschen, die Leistungen der Pflegeversicherung, Arbeitslosengeld II (ALG-II) oder Erwerbsminderungsrente erhalten beziehungsweise von der Zuzahlung befreit sind (sogenannte Härtefälle).
 
Die größte Unterdeckung ergibt sich bei Pflegebedürftigen mit 86,2 Prozent, gefolgt von den zuzahlungsbefreiten Versicherten (89 Prozent), den Erwerbsminderungsrentnern (90,5 Prozent) sowie den ALG-II-Beziehenden (95,3 Prozent). Damit erhalten die Kassen für die Versorgung von pflegebedürftigen Versicherten im Durchschnitt 1.685 Euro weniger als sie ausgeben. Bei zuzahlungsbefreiten Versicherten sind es 1.038 Euro, bei Erwerbsminderungsrentnern 829 Euro und bei ALG-II-Beziehenden 123 Euro.

Gerechtigkeitslücke schließen.

Professor Jürgen Wasem vom Lehrstuhl für Medizinmanagement der Universität Duisburg-Essen und Mitautor der Studie, sagte bei der Präsentation des Gutachtens: „Alle vier untersuchten Versichertengruppen können über die bei den Krankenkassen vorliegenden Daten im Morbi-RSA berücksichtigt werden. Damit ließe sich deren systematische Unterdeckung vollständig ausgleichen und die Performance des RSA insgesamt verbessern.“ Die entstandene Gerechtigkeitslücke kritisierte Jens Martin Hoyer, stellvertretender Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes und für Finanzen zuständig. „Vulnerable Versichertengruppen werden bei den Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds systematisch schlechter gestellt. Umgekehrt sind junge, gesunde Versichertengruppen nach wie vor finanziell überkompensiert“, so Hoyer. Die „Unwucht im Zuweisungssystem“ setze erhebliche Anreize für Krankenkassen, sich stärker um jüngere, kostengünstigere Versicherte zu kümmern als um vulnerable und sozial benachteiligte Menschen.

Anreize zur Risikoselektion.

Das bestätigt auch das aktuelle Gutachten: „Mit Blick auf das zentrale Ziel des RSA, Risiko­selektion zu vermeiden, erscheint dies unerwünscht, zumal die Merkmale in den administrativen Daten der Kran­ken­kassen vorhanden und diese Versichertengruppen daher leicht identifi­zierbar sind.“

Zudem hätten unter­schiedliche Verteilungen solcher unterdeckten Versichertengruppen Auswir­­kungen auf den Kassenwett­bewerb: „Krankenkassen mit überproportionalen Anteilen an solchen Versichertengruppen erfahren ceteris paribus Nachteile gegenüber Krankenkassen mit unterdurchschnittlichen Anteilen an den Versichertengruppen“, ist im Gutachten zu lesen.

Daten übermitteln.

Die AOK setzt sich dafür ein, den RSA auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse weiterzuentwickeln. Der Wissenschaftliche Beirat zur Weiterentwicklung des RSA müsse die benannten Schwachstellen bei der Berücksichtigung vulnerabler Gruppen im Rahmen seiner für 2024 geplanten Evaluation untersuchen und der Ampelkoalition auf dieser Basis konkrete Vorschläge für die Weiterentwicklung machen. „Dazu braucht es allerdings noch in diesem Jahr einen gesetzlichen Auftrag an die Wissenschaftler“, betont AOK-Vize Jens Martin Hoyer. Zusätzlich müsse festgelegt werden, dass die bei den Krankenkassen vorhandenen Daten zu den relevanten vulnerablen Gruppen schnellstmöglich an das Bundesamt für Soziale Sicherung übermittelt werden, damit die Gutachter den gesetzlichen Untersuchungsauftrag erfüllen können. „Dafür sollte ein bereits laufendes Gesetzgebungsverfahren genutzt werden. Geeignet wäre aus unserer Sicht das Krankenhauspflegeentlastungsgesetz“, so Hoyer.

Änne Töpfer ist verantwortliche Redakteurin der G+G.
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