Familiengesundheit

Kinder im Seelenschatten

Im Alltag mit einem psychisch kranken Elternteil erleben Kinder ein Wechselbad der Gefühle. Ihre Nöte bleiben meist verborgen. Dabei tragen sie ein erhöhtes Risiko, später selbst zu erkranken. Welche Hilfen den Familien zur Verfügung stehen, beschreibt Ralf Ruhl.

Loretta hat heute viel zu tun. Sie steht um sechs Uhr auf, richtet das Frühstück für sich und ihren Bruder Niko. Ganz besonders achtet sie darauf, dass sie auch Teller, Besteck und Kaffeepott für ihre Mutter hingestellt hat. „Ich will alles richtig machen, damit Mama schnell wieder gesund wird“, sagt sie. Sie schaut nach, ob Niko alles Nötige in seine Kindergartentasche gepackt hat, und legt seine Jacke zurecht. Erst danach kümmert sie sich um ihre Schultasche und ihr Pausenbrot, weckt den Bruder und passt auf, dass er sich auch die Zähne putzt. Bevor die Kinder die Wohnung verlassen, steckt Loretta den Einkaufszettel ein. Dann bringt sie Niko in die Kita und macht sich auf den Weg zur Schule.

Mama ist oft traurig.

Eine Menge Arbeit für eine Achtjährige. Arbeit, die eigentlich ein Erwachsener verrichten oder zumindest beaufsichtigen müsste. Am Abend zuvor hat ihr Vater mit ihr und Niko gesprochen. Darüber, dass Mama wieder so oft traurig ist. Dass das eine Krankheit ist. Dass Mama kaum aufstehen mag und wohl in der nächsten Zeit höchstens für sich selbst sorgen kann. Loretta kennt das schon: „Mama sagt dann, die schwarze Decke kommt herunter.“ Sie ist morgens ganz leise, damit ihre Mutter nicht aufwacht. Nach der Schule schaut sie in ihr Zimmer, fragt, ob sie etwas braucht, setzt ein fröhliches Gesicht auf. Wenn die Tür zufällt, erschrickt sie und entschuldigt sich. „Manchmal meine ich, dass das nicht mehr aufhört. Und dass es sogar schlimmer wird mit Mama.“ Deshalb will sie besonders lieb sein. Zwar betont ihr Vater immer wieder, dass sie nicht schuld sei, dass niemand schuld sei, es sei eben eine Krankheit. Aber trotzdem fühlt sie sich oft schuldig.

Ein Viertel der Psychiatrie-Patienten hat Kinder.

Über drei Millionen Kinder in Deutschland leben mit einem psychisch kranken Elternteil zusammen, schätzt Professorin Sabine Wagenblass. Sie lehrt an der Hochschule Bremen im Studiengang Soziale Arbeit und ist Expertin für Kinder psychisch erkrankter Eltern und „Frühe Hilfen“. Die Zahlen beruhen auf Befragungen in Psychiatrischen Kliniken. Etwa 20 bis 25 Prozent der erwachsenen Patienten dort haben Kinder. Eine genaue Statistik gibt es nicht. Am häufigsten sind Depressionen.

Hebammen, Kinderärzte oder Familienhelferinnen sind oft die ersten, die Auffälligkeiten in Familien bemerken.

Die Kinder dieser Eltern sind täglich mit den Symptomen der Krankheit konfrontiert. Sie tragen ein hohes Risiko, selbst zu erkranken. Viele von ihnen werden chronische, vorübergehende oder wiederkehrende psychische Erkrankungen entwickeln. Dies sei insbesondere dann der Fall, wenn die Kinder in ein Wahnsystem eingebaut würden. Aber auch die Überforderung der Eltern mit den alltäglichen Aufgaben und häufiger Streit in der Partnerschaft seien Gründe hierfür.

Wagenblass betont: „Jede psychische Erkrankung, auch innerhalb des gleichen Formenkreises, ist anders. Auch jedes Kind ist einzigartig. Eine bestimmte Reaktion auf die Erkrankung eines Elternteils ist nicht vorherzusagen. Manche verhalten sich wie ein Sonnenschein, andere sind hochirritiert, wiederum andere werden unsichtbar. Hier gibt es ein Rollenmodell, das vier verschiedene Reaktionsweisen unterscheidet: Heldinnen und Helden, Clowns, schwarze Schafe, unsichtbare Kinder.“

Kinder können kein Urvertrauen aufbauen.

Am deutlichsten wird das im Umgang mit Babys. Ein Säugling, der hilflos auf die Welt kommt, ist darauf angewiesen, dass Mutter und Vater ihn versorgen, seine Bedürfnisse bemerken und seine Gefühle beantworten – die Grundlage für eine sichere Bindung. Genau das sei bei psychisch kranken Eltern jedoch nicht immer gegeben, so Wagenblass. „Ein Baby versucht immer, ein emotionales Echo bei seinen Eltern hervorzurufen. Wird das nicht beantwortet, wird es möglicherweise resignieren, wird sich vielleicht als ungewollt erleben.“

Werden die Äußerungen des Kindes falsch interpretiert, nehmen Mutter oder Vater sein Schreien oder Quengeln gar als feindselig wahr, wirkt sich dies wieder anders auf die Entwicklung seines Selbst aus. Ebenfalls erlebt hat die Professorin, dass psychisch erkrankte Eltern mit Säuglingen eher objekthaft umgehen, so als hätten die Kinder kein eigenes Fühlen oder Wollen. Der Blickkontakt sei reduziert, die Mütter oder Väter würden weniger lächeln und seltener mit ihrem Kind sprechen. Auch positive Körperkontakte wie Streicheln, Herzen oder Umarmen würden von vielen Müttern als anstrengend erlebt und seien daher weniger häufig. „Psychisch kranke Eltern können sich oft ihrem Kind nicht ausreichend empathisch zuwenden“, sagt Wagenblass. Das führe zu unsicheren oder desorganisierten Bindungen, das Urvertrauen werde nicht aufgebaut. „Das Beobachten der Interaktion und Kommunikation zwischen Kindern und Eltern ist daher die Voraussetzung für jede Intervention oder Behandlung.“

In der Kita werden Verhaltensauffälligkeiten sichtbar.

Kleinkinder beginnen zu laufen, die Welt zu begreifen, sich ihre Umwelt zu erobern und zu erproben, was sie schon können. Dazu brauchen sie die Rückversicherung, dass Mama oder Papa da ist. Ohne diesen „Blick nach hinten“ können sie nicht lernen, ihre Emotionen zu regulieren. Insbesondere depressive Mütter können sich aber nur schwer dazu aufraffen, mit dem Kind zu spielen oder gar auf den Spielplatz nach draußen zu gehen.

Psychisch kranke Eltern sind sehr mit sich selbst beschäftigt und können ihren Kindern die nötige Wertschätzung oft nicht geben.

In der Kindertagesstätte sind viele Jungen und Mädchen zum ersten Mal von ihren Eltern für mehrere Stunden getrennt. Neu sind für sie das Gebäude, die Erzieherinnen, die anderen Kinder und nicht zuletzt die Möglichkeiten zu spielen, sich auszuprobieren und zu bewegen. Dabei müssen sie Regeln lernen, die anders sind als zu Hause, müssen kommunizieren lernen und sich anpassen. Das ist für jedes Kind stressig. Für ein Kind, das sich nicht sicher sein kann, im Elternhaus eine ausgleichende, beruhigende und geborgene Atmosphäre vorzufinden, gilt das umso mehr. In der Kita werden Verhaltensauffälligkeiten daher sichtbar, oft auch zum ersten Mal.

Kranke Eltern entwickeln negatives Selbstbild.

Niko kommt nach Hause. Das heißt, er tobt herein, wirft seine Tasche in die Ecke und fordert lautstark Aufmerksamkeit. Er rennt ins Zimmer seiner Mutter und will ihr zeigen, dass er gut balancieren kann. Als sie ihn nur müde anschaut, wirft er die Tür zu und tritt gegen den Schrank. Sein Vater schimpft nicht, sondern nimmt ihn mit nach draußen, lässt sich die neu erworbenen Fähigkeiten seines Sohnes zeigen. „Aber immer schaffe ich das nicht, ich brauche auch mal Ruhe, und dann werde ich schon mal laut“, sagt er. Das meint er nicht beschönigend, es klingt eher resigniert. „Es ist alles so viel. Manchmal meine ich, dass ich kein guter Vater bin.“

Ähnliches sagt seine Frau auch über sich selbst. „Ich werde meinen Kindern nicht gerecht, das weiß ich. Sie brauchen so viel mehr, als ich geben kann. Und sie haben ja auch ein Recht darauf. Aber wenn ich daran denke, sehe ich schon wieder den schwarzen Vorhang kommen.“ Dies sei kein Einzelfall, meint Wagenblass. „Ein hoher Prozentsatz psychisch Kranker hält sich für schlechte Eltern. Ein solches negatives Selbstbild macht es dann zusätzlich schwer, gute Erlebnisse mit den Kindern als etwas zu erfahren, wozu man selbst beigetragen hat.“

Scham ist ein großes Problem.

Loretta ist an diesem Abend traurig. Erst auf langes, einfühlsames Nachfragen rückt sie damit heraus, was sie bedrückt: Sie hätte gern ihre Freundinnen zum Spielen eingeladen. Aber sie traut sich nicht. Zum einen will sie ihre Mutter nicht belasten. Zum anderen schämt sie sich, weil sie spürt, dass ihre Mutter nicht so vorzeigbar ist wie die der anderen, sich nicht so kümmern kann, keinen Kuchen backt oder Kakao anbietet. „Scham ist für viele Kinder psychisch kranker Eltern ein großes Problem“, so Wagenblass. Dies sei insbesondere der Fall, wenn mit der psychischen Erkrankung ein sozialer Abstieg verbunden sei. „Wer nicht Vollzeit arbeiten kann, verdient weniger. Wer oft krankheitsbedingt fehlt, läuft Gefahr weniger erfolgreich zu sein oder gar seine Stelle zu verlieren.“

Cover des Buches

Eine Buchreihe rund um „Papas Seele hat Schnupfen“ für Kinder zwischen vier und acht Jahren hat Claudia Gliemann im Monterosa-Verlag veröffentlicht. Ein Buch aus der Reihe trägt den Untertitel „Ein Muffin für Nele“ und beschäftigt sich mit der Welt der Psychiatrie.

Hinzu kommen eine CD sowie ein Arbeitsheft und ein Schulkonzept. Die Deutsche Depressionsliga konnte durch Förderung des AOK-Bundesverbandes Lizenzausgaben diverser Materialien erwerben und stellt diese Schulen und sozialen Einrichtungen kostenfrei zur Verfügung.

In der Geschichte geht es um Nele, deren Eltern in einem Zirkus arbeiten. Das ist ein wunderbares Leben, bis ihr Vater von Tag zu Tag trauriger wird und eines morgens nicht einmal mehr aufstehen will. Nele wird selbst traurig und wütend, hat Schuldgefühle, fragt sich, ob Papa wegen ihr krank geworden ist. Sie spricht mit dem „Dummen August“, ihrem vertrauten erwachsenen Freund, darüber. Sie finden am Ende einen Weg, mit der Krankheit umzugehen und wieder Farbe und Fröhlichkeit in ihr Leben zu bringen. Damit geht Gliemann auf viele Fragen ein, die ihr Kinder während ihrer von der AOK und der Deutschen Depressionsliga geförderten Lesereise stellen. „An den Lesereisen finde ich gut, dass betroffene und nicht betroffene Kinder die Geschichte gemeinsam mit den Lehrkräften und Schulsozialarbeiterinnen hören“, sagt sie. Psycho-Edukation, also die Aufklärung über die Krankheit, ist nicht nur für die direkt Betroffenen wichtig, sondern auch für ihr Umfeld. „Nach der Lesung unterhalte ich mich mit den Kindern darüber, dass die Seele genauso krank sein kann wie der Körper, und komme mit ihnen über das Thema ins Gespräch.“ Im gemeinsamen Austausch gehen sie der Frage nach, was der Unterschied zwischen Traurigkeit und Depression sein könnte. Wichtig ist ihr dabei auch zu betonen, dass die Kinder keine Schuld an der Erkrankung ihres Elternteils haben.

Ralf Ruhl

Dann kann sich die Abwärtsspirale drehen: Mit Geldproblemen droht die Kündigung der Wohnung, Umzug in ein anderes Stadtviertel, für die Kinder Verlust von Freunden und der bekannten Umgebung. Und das macht ihnen Angst. „Deshalb ist es so wichtig, mit den Kindern zu sprechen, ihnen zu erklären, dass es eine Krankheit ist“, sagt Wagenblass. Viele Kinder fragen sich, ob sie ebenfalls so erkranken, ob sie sich anstecken können. Aus Interviews mit Erwachsenen, die ihre Kindheit mit psychisch kranken Eltern verbrachten, weiß sie, dass diese besonders unter Unsicherheit und der dadurch bedingten Desorientierung litten. Die Eltern waren für sie eben keine Stütze. „Hinzu kommt die Angst, ob die Mutter oder der Vater noch lebt, wenn sie aus der Schule nach Hause kommen.“ Immerhin zehn Prozent der psychisch kranken Eltern planen ihren Tod. Auch mit der Begründung, dass es den Kindern dann besser ginge.

Betreuungskreis erweitern.

Dies alles aufzufangen, damit ist eine Kleinfamilie überfordert. Umso wichtiger ist es, die Gruppe der Betreuungspersonen zu erweitern. In jeder Kommune in Deutschland gibt es inzwischen ein „Netzwerk Frühe Hilfen“. Mit der Unterstützung früh zu beginnen, ist besonders wichtig. Immerhin 15 Prozent der Kinder mit einem psychisch kranken Elternteil sind laut Statistischem Bundesamt unter drei Jahre alt. Etwa zehn bis 15 Prozent der Frauen erkranken nach der Geburt – meist des ersten Kindes – an einer sogenannten Wochenbett-Depression. In Risikogruppen, zu denen vor allem junge, wenig gebildete, alleinstehende Frauen sowie Frauen mit Gewalterfahrung gehören, steigt die Rate auf 35 bis 50 Prozent.

Hier setzen die Frühen Hilfen an. Hebammen, Kinderärzte bei den Vorsorge-Untersuchungen oder Familienhelferinnen sind oft die ersten, die Auffälligkeiten in Familien bemerken. Sie versuchen dann, die Eltern dazu zu bewegen, Unterstützung und Hilfe anzunehmen. Doch das ist meist nicht leicht, sind damit doch Ämterwege verbunden und insbesondere die Angst vor dem Jugendamt als „Kinderwegnehmamt“ ist groß. Außerdem fürchten die Eltern eine Stigmatisierung. „Hier ist viel schwierige Überzeugungsarbeit zu leisten“, so Wagenblass.

Eltern brauchen verbindlichen Ansprechpartner.

Die Qualität der Frühen Hilfen ist in den jeweiligen Kommunen unterschiedlich. Das hängt mit der Finanzierung zusammen, mit der Organisation, mit der Kooperation der einzelnen Akteure im Netzwerk. Bei verschiedenen Stellen Anträge auf Unterstützung einzureichen, überfordert viele der Familien, die ohnehin stark belastet sind. So sind Leistungen, die sie benötigen, in verschiedenen Sozialgesetzbüchern niedergeschrieben und normiert: Gesundheitswesen (SGB V), Angebote der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII), Rehabilitation und Teilhabe für von Behinderung bedrohte Menschen (SGB IX) und sehr häufig auch Leistungen der Arbeitslosenhilfe nach SGB II oder der Sozialhilfe (SGB XII). Deshalb fordert das Nationale Zentrum Frühe Hilfen in einem Eckpunktepapier „interdisziplinär gestaltete Hilfen aus einer Hand. Die Eltern brauchen einen verbindlichen Ansprechpartner“.

Ehrenamtliche bieten ein Stück Normalität.

Dies gilt selbstverständlich nicht nur für die finanziellen Belange, sondern für die Koordination der verschiedenen Hilfen in einer Familie. So hat Niko jetzt über ein Patenprogramm der Frühen Hilfen seiner Heimatstadt einen Betreuer gefunden, der einmal in der Woche drei Stunden lang mit ihm etwas unternimmt. „Wir waren im Schwimmbad, oft sind wir auf dem Spielplatz und manchmal kicken wir auch“, sagt er.

Kinder fühlen sich oft schuldig an der Krankheit ihrer Eltern.

Solche Programme gibt es an vielen Orten. Sie bieten dem Kind ein Stück Normalität jenseits der belasteten Familiensituation. Eine Zeit, die nur ihm gehört, in der eine Person nur für das Kind da ist. Meist werden hierfür Ehrenamtliche gesucht, weil das Geld spart und weil nicht ausreichend Fachpersonal vorhanden ist. Wie die Menschen geschult werden, ob sie Supervision und Anleitung haben und in welchem Umfang, wie sie eingebunden sind in Hilfegespräche mit Jugendamt, Psychotherapeuten, Familienhebamme und vielleicht auch noch einem gesetzlichen Betreuer – das ist örtlich sehr unterschiedlich und für die Familie nicht zu durchschauen. Auch deshalb ist die Forderung nach einer Ansprechperson so wichtig.

Das ganze Familiensystem ist betroffen.

Zu den Institutionen, die mit dem psychisch kranken Elternteil befasst sind, gehört insbesondere auch die Klinik, in der die Mutter oder der Vater behandelt wurde. Hier übt Wagenblass deutliche Kritik: „Es ist immer noch nicht allgemeiner Standard, dass bei der Aufnahme nach der familiären Situation gefragt wird.“ Das deutsche Gesundheitssystem ist sehr auf die Behandlung des einzelnen Patienten ausgerichtet. „Hier ist aber das ganze Familiensystem betroffen, und oft wissen die behandelnden Ärzte und Psychiater nicht, ob die Person, der sie gegenübersitzen, Kinder hat.“ In dieser Situation ist das Klinik-Entlassungsmanagement gefordert. Der Übergang in eine gute ambulante Versorgung ist nicht nur für die Patientin wichtig, sondern genauso für Kinder und Partner. „Der Blick auf das System Familie ist nicht überall vorhanden“, so Wagenblass. „Auch die Ressourcen sind oft leider unzureichend.“ So müssen Kinder und Jugendliche an vielen Orten länger als ein halbes Jahr auf einen Therapieplatz warten.

Studie zum Umgang mit der Krankheit.

Die Bundesregierung hat erkannt, dass hier Handlungsbedarf besteht. Im Koalitionsvertrag erklären die Ampel-Parteien: „Wir unterstützen die Kinder von psychisch, sucht- oder chronisch kranken Eltern.“

So fördert der Innovationsfonds der Bundesregierung das Projekt „Chimps-Net“ (Children of mentally ill parents network) mit insgesamt 6,8 Millionen Euro. Der Verbund arbeitet versorgungsorientiert mit über 20 Partnern, vor allem Kliniken, in allen Bundesländern. Partner sind auch Krankenkassen, unter anderem die AOK Hessen und die AOK Baden-Württemberg. Federführend ist Professorin Silke Wiegand-Grefe vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.

Wenn Kinder lernen zu unterscheiden, wann die Depression spricht und wann ihre Mutter, können sie die Krankheit akzeptieren und wieder handlungsfähig werden.

Das Programm richtet sich an Familien mit mindestens einem erkrankten Elternteil und mindestens einem Kind von drei bis 18 Jahren. In dieser Studie lernen die Teilnehmenden sowohl online als auch in Präsenztreffen den Umgang mit der Krankheit. Für einige der bis zu acht Termine werden Kinder und Eltern getrennt, andere finden für die ganze Familie statt. Psychologen zeigen, wie die Erwachsenen, aber auch die Kinder besser stressvolle Situationen bewältigen können. Dazu gehören Ablenkung, kreative Tätigkeiten und Bewegung. Sie üben mit den Kindern auch „die Krankheit zu sehen“. Die Kinder lernen zu unterscheiden, wann die Depression spricht und wann ihre Mutter. So können sie die Krankheit akzeptieren und wieder handlungsfähig werden. Bei nachgewiesenem Erfolg und entsprechender Kosteneffektivität soll das Konzept bundesweit in die Regelversorgung übernommen werden.

Männer bleiben oft außen vor.

„Das System Familie in den Blick zu nehmen, ist für die Herausbildung der Resilienz der Kinder ungemein wichtig“, sagt Wagenblass. Doch beschäftigt sich die Forschung hauptsächlich mit den Müttern. „Die Väter sind ein blinder Fleck“, meint Männerberater Thomas Scheskat. Er hat viele Jahre lang im Psychologischen Dienst eine Station im Maßregelvollzugszentrum Niedersachsen geleitet. Die soziale Rolle der Väter sei sehr unterschiedlich. Vor allem in einer Partnerschaft zur psychisch kranken Mutter würden sie kaum als eigenständige Person gesehen. „Dabei sind sie co-krank“, sagt Scheskat. Insbesondere ambulante gemeindenahe Angebote, die sie in ihrer Belastung sehen und unterstützen, seien auf- und auszubauen.

„Da gibt es bisher kaum etwas.“ Und jedes Sprechen über sich selbst, die eigenen Probleme und Bewältigungsstrategien entlaste nicht nur den Einzelnen, sondern das ganze System und damit auch die Kinder. Scheskat plädiert vor allem für Gruppenangebote im Bereich der Selbsthilfe, am besten mit professioneller Anleitung. Denn oft seien die Väter selbst entweder an einer Überlastungsschwelle oder ebenfalls psychisch krank. „Dann muss auch eine Einweisung in eine Klinik schnell möglich sein.“

Väter sind eine wichtige Ressource.

Dass Männer wesentlich seltener als Frauen in den psychiatrischen Einrichtungen vorstellig werden, hat mit ihrem Selbstbild und der Funktion, die ihnen die Gesellschaft zuschreibt, zu tun. „Sich als schwach, als weniger leistungsfähig anzuerkennen, gehört ganz sicher nicht dazu“, so Scheskat. Männer würden sich dementsprechend seltener als depressiv bezeichnen und ihnen würde auch von Ärztinnen seltener diese Diagnose gestellt. „Da ist dann eher von Burnout die Rede. Das lässt sich besser mit dem Bild des tatkräftigen Arbeitsmannes vereinbaren.“ Dazu passend greifen Männer eher zu Suchtmitteln, vorrangig Alkohol als vermeintlichem Problemlöser. „Dann wird vielleicht die offensichtliche Sucht bearbeitet, die psychische Erkrankung, die möglicherweise dahintersteckt, aber nicht gesehen.“

  • Chimps-Net
  • Deutsche Depressionsliga: Papas Seele hat Schnupfen
  • Frühe Hilfen
  • Reinhold Schone, Sabine Wagenblass: Wenn Eltern psychisch krank sind. Kindliche Lebenswelten und institutionelle Handlungsmuster. Juventa 2010.
  • Angela Plass, Silke Wiegand-Grefe: Kinder psychisch kranker Eltern. Entwicklungsrisiken erkennen und behandeln. Beltz 2012.

Die Väter seien für die Kinder einer psychisch erkrankten Frau eine wichtige Ressource. „Wenn Mama nicht da sein kann, ist Papa für die Kinder der wesentliche Ansprechpartner.“ Viele psychisch kranke Mütter gelten jedoch als alleinerziehend, leben von ihren Partnern getrennt. Diese Gruppe von Vätern sei bisher kaum untersucht worden, so Scheskat. „Dabei können sie ihre Kinder oft besonders gut unterstützen, weil sie nicht so stark mit dem belasteten Alltag verbunden sind. Für manche Kinder ist ein Papa-Wochenende wie Urlaub, in dem sie normal sein können und für das, was sie tun und wie sie sind, wertgeschätzt werden.“ Denn diese Wertschätzung können psychisch kranke Eltern, die sehr mit sich selbst beschäftigt sind, oft nicht geben.

Austausch im Rahmen einer Gruppe.

Kinder ernst nehmen und wertschätzen, ist auch das Credo von Claudia Gliemann. Mit ihrer von der AOK und der Deutschen Depressionsliga unterstützten Lesereise zu der Buchreihe „Papas Seele hat Schnupfen“ (siehe Kasten „Kinderbücher fördern das Gespräch über die Krankheit“) tourt die Autorin, Verlegerin und Singer-Songwriterin durch Schulen in Deutschland und veranstaltet Lesungen für Erwachsene auf Kongressen und Fachtagen zum Thema „Kinder psychisch kranker Eltern“. Sie liest auch in Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen. „Wenn Eltern und Kinder sich die Lesung gemeinsam anhören, ist das immer eine sehr besondere Atmosphäre“, sagt Gliemann. Der große Vorteil: „Jeder hört, wie es dem anderen geht. Und danach können sie sich darüber austauschen, was sie gehört haben, wie es ihnen damit ging und auch generell, wie es ihnen geht. Am besten im Rahmen der Gruppe.“

Besser zueinander gefunden haben am Wochenende auch Loretta, Niko und ihr Papa. Oma ist gekommen, hilft im Haushalt und ist einfach da. So können Vater und Kinder einen Ausflug unternehmen. Sie sammeln Kastanien, Blätter und Stöcke. Am späten Nachmittag sitzen sie bei Kakao und Keksen im Wohnzimmer und basteln mit den gefundenen Sachen Mobilés. Zusammen mit Mama. Sie tun das, was Eltern und Kinder in diesem Alter oft tun. Ganz normal.

Ralf Ruhl ist freier Journalist mit Schwerpunkt auf Männer- und Familienthemen.
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