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Auflagen für Cannabis-Verordnungen

Krankenkassen dürfen die erstmalige Verordnung von Cannabis zur Behandlung von schwerwiegenden Erkrankungen nur dann genehmigen, wenn der Arzt dafür eine umfassende Einschätzung abgegeben hat. Diese muss aber plausibel und nachvollziehbar sein. Das hat das Bundessozialgericht klargestellt. Von Anja Mertens

Urteile vom 10. November 2022
– B 1 KR 28/21 R
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B 1 KR 21/21 R
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B 1 KR 19/22 R
,
B 1 KR 9/22 R –

Bundessozialgericht

Wie viele Heilpflanzen

hat auch Cannabis zwei Gesichter. Es kann süchtig machen, aber auch Schmerzen lindern. Wegen der Suchtgefahr wurde Cannabis bisher sehr restriktiv gehandhabt. Eine gewisse Lockerung erfolgte durch das 2017 in Kraft getretene Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften (Paragraf 31 Absatz 6 So­zialgesetzbuch V). Danach können Ärzte Cannabis verordnen. Voraussetzung ist eine „schwerwiegende Erkrankung“, deren Behandlung mit Cannabis eine begründete Erfolgsaussicht verspricht. Gibt es andere Therapien, muss es Gründe geben, warum diese nicht angewendet werden können. Auch muss die Krankenkasse die erstmalige Verordnung genehmigen. Um diese Voraussetzungen gab es immer wieder Streit. Nun hat das Bundessozialgericht (BSG) in vier Fällen höchstrichterlich entschieden.

Mitteilung des Arztes an Kasse genügt.

Zunächst stellte das BSG klar, dass der Kasse für die Genehmigung keine bereits ausgestellte ärztliche Verordnung vor­liegen muss. Es genüge, dass der Arzt den Inhalt der geplanten Verordnung mit­teile. Auch reiche es aus, wenn der Versicherte seiner Kasse eine entsprechende Erklä­rung des Arztes übermittle. Diese müsse die Arzneimittelbezeichnung, die Verordnungsmenge, die Gebrauchsanweisung mit Einzel- und Tagesdosis sowie die Form der Anwendung enthalten.

Der Anspruch auf Cannabis bestehe nur zur Behandlung einer schwerwiegenden Erkrankung. Diese müsse lebensbedrohlich sein oder die Lebensqualität des ­Patienten auf Dauer nachhaltig beeinträchtigen, sodass er nicht mehr seine Grundbedürfnisse erfüllen, soziale Beziehungen aufrechterhalten sowie am Erwerbs- und Gesellschaftsleben teilnehmen könne. Entscheidend seien Funk­tionsstörungen und -verluste, Schmer­zen, Schwäche und Hilfebedarf bei den Verrichtungen des täglichen Lebens. Bei einem Grad der Schädigung (GdS) von 50, könne von einer schwerwiegenden Erkrankung ausgegangen werden. Auch wenn die Auswirkungen keinen GdS von 50 erreichten, könne eine Cannabis-Verordnung im Einzelfall in Betracht kommen, wenn weitere Erkrankungen vorliegen oder die Auswirkungen die Teilhabe am täglichen Leben besonders einschränken. Bei Multimorbidität sei auf die Gesamtauswirkungen der Erkrankungen abzustellen.

Sind die hohen Anforderungen erfüllt, darf eine Kasse die ärztliche Einschätzung nur noch auf Plausibilität überprüfen.

Auch setze die Genehmigung einer Cannabis-Verordnung voraus, dass bei dem Patienten keine andere allgemein anerkannte Behandlung möglich sei, die dem medizinischen Standard entspricht. Dies könne darin begründet sein, dass es eine solche Therapie entweder nicht gebe, nach Einschätzung des Arztes bei dem Patienten nicht angewendet werden könne oder erfolglos gewesen sei.

Ärzte müssen umfassend begründen.

Diese Einschätzung müsse der Arzt aber ausführlich begründen. Dabei habe er den Krankheitszustand zu dokumentieren und die mit Cannabis zu behandelnden Erkrankungen einschließlich ihrer Symptome und des Behandlungsziels darzustellen. Hierbei müsse er schon durchgeführte Standardtherapien sowie deren Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und dabei aufgetretene Nebenwirkungen aufzeigen. Auch müsse er verfügbare Standardtherapien, deren zu erwartenden Erfolg und die zu erwartenden Nebenwirkungen darstellen sowie etwaige Nebenwirkungen einer Standardbehandlung den möglicherweise schädlichen Auswirkungen einer Can­nabis-Therapie gegenüberstellen.
 
Das BSG betonte aber auch, dass der Arzt eine Einschätzungsprärogative habe. Kassen dürften die begründete Einschätzung des Arztes nur daraufhin überprüfen, ob die Angaben vollständig und plausibel seien. Eine tiefergehende Prüfung sei wegen der ärztlichen Einschätzungsprärogative nicht zulässig. Dies gelte auch im Fall einer vorbestehenden Suchtmittelabhängigkeit. Ob diese eine Kontraindikation für die Behandlung mit Cannabis darstelle, müsse der Arzt abwägen und in seiner begründeten Einschätzung darlegen. Habe er dies getan, dürfe die Kasse die Genehmigung nur in begründeten Ausnahmefällen verweigern. Hierfür sei sie darlegungs- und beweispflichtig. Die Einschätzungsprärogative des Arztes dürfe nicht unter­laufen werden.

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In Betracht kämen deshalb in erster Linie nichtmedizinische Gründe, etwa die unbefugte Weitergabe des verordneten Cannabis an Dritte. Ein Vorkonsum und eine Cannabisabhängigkeit berechtigten Kassen grundsätzlich nicht dazu, die Genehmigung zu verweigern. Ferner müsse die Behandlung mit Cannabis eine nicht ganz entfernt lie­gende Aussicht auf eine spürbar positive Auswirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome bieten. An die Prognose seien aber nur geringe Anforderungen zu stellen. Es ge­nüge, dass die Behandlung im Ergebnis mehr nutzt als schadet.

Nur Anspruch auf das günstigste Mittel.

Zugleich stellte das BSG fest, dass der Arzt bei der Auswahl der Darreichungsform und der Verordnungsmenge das allgemeine Wirtschaftlichkeitsgebot beachten müsse. Bei voraussichtlich gleicher Geeignetheit von Cannabis­blüten, Cannabisextrakten und Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon bestehe nur ein Anspruch auf eine Versorgung mit dem kostengünstigsten Mittel. Die Kasse sei berechtigt, trotz Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen die Genehmigung der beabsichtigten Verordnung zu verweigern und auf eine günstigere, voraussichtlich gleich geeignete Darreichungsform zu verweisen. Der Arzt habe bei der Auswahl von Darreichungsform und Menge insoweit keinen Einschätzungsspielraum.

Anja Mertens ist Rechtsanwältin im Justiziariat des AOK-Bundesverbandes.
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