Thema des Monats

Keine Angst vor heißen Eisen

Zahlreiche Gesetze und Verordnungen hat das Gesundheitsministerium im ersten Jahr der Ampelregierung produziert. Doch auf den Großbaustellen im Gesundheitssystem ist wenig vorangekommen. Für das zweite Jahr der Regierungszeit fordert AOK-Politikchef Kai Senf sichtbaren Fortschritt bei der Klinik- und Pflegereform sowie eine nachhaltige Sanierung der Kassenfinanzen.

Am 6. Dezember 2022 ruft Gesundheitsminister Professor Karl Lauterbach eine „Revolution“ aus: Eine große Krankenhausreform soll auf Grundlage der Vorschläge der „Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“ das Fallpauschalen-System überwinden und ökonomische Fehlanreize abbauen. Wenige Tage später folgen weitere Ankündigungen: Als in einer Welle von Atemwegserkrankungen Versorgungsprobleme in der Pädiatrie auftreten, verspricht der Minister rasche Gegenmaßnahmen. Die Ausgabenbegrenzung bei Kinderärzten und -kliniken soll aufgehoben, zusätzliche Honorarkräfte in Kinderkliniken vollständig bezahlt werden.

Den Engpässen bei einem Teil der patentfreien Arzneimittel sagt Karl Lauterbach ebenfalls den Kampf an. Auch hier kündigt er an, zeitnah mit gesetzlichen Maßnahmen für mehr Transparenz, robustere Lieferketten und eine Stärkung des europäischen Produktionsstandortes zu sorgen. Mehr Versorgungssicherheit bei patentfreien Arzneimitteln ist das erklärte Ziel.

„Wir haben es mit der Ökonomisierung auch in der Arzneimittelversorgung mit patentfreien Medikamenten übertrieben“, so die Einschätzung des Ministers. Daher soll die „Discounter-Politik“ der vergangenen Jahre beendet und bei Kinderarzneimitteln, Antibiotika und Krebsmedikamenten kräftig an der Preisschraube gedreht werden, um die Pharmahersteller auf den Absatzmarkt Deutschland zu locken.

Kaum Veränderungen erreicht.

Die forschen Pläne zum Jahresende vermitteln das Bild eines standhaften, planvollen und durchsetzungsfähigen Ministers, der in der Krise schnell und entschlossen die richtigen Dinge anpackt, gleichzeitig aber auch die Dauerbaustellen im Gesundheitssystem im Auge behält und mit klarem Konzept notwendige Strukturreformen umsetzt. Doch entspricht dieses Bild der Wirklichkeit?

Zum Ende des Jahres 2022 hat das Gesundheitsministerium eine Bilanz mit dem Titel „Erstes Jahr in der 20. Wahlperiode“ zusammengetragen. Neben zahlreichen Beratungen mit wichtigen gesundheitspolitischen Akteuren werden dort – Stand Ende November – 48 Verordnungen und zwölf Gesetze aufgelistet. Für zwölf Monate sind das beachtliche Zahlen, und sicherlich haben der Minister und sein Team eine gewaltige Arbeitslast gestemmt. Aber bei der Frage, welche großen Veränderungen erreicht wurden, sieht die Bilanz trüber aus. Grundlegende politische Entscheidungen sind ausgeblieben. Zudem gab es Mängel in der Kommunikation und in der Steuerung der politischen Abstimmungsprozesse. Dies ist zuallererst der politischen Entscheidungsebene anzulasten. Sie hat sich mit Pandemie-Themen beschäftigt, ist aber bis zum Herbst 2022 bei im Koalitionsvertrag bereits als eilbedürftig eingestuften gesundheitspolitischen Großvorhaben in der Umsetzung kaum vorangekommen. Bei drei grundlegenden Reformen wurde wertvolle Zeit vertan.

Krankenhauskommission geht zu spät ans Werk.

Die zur Vorbereitung der großen Krankenhausreform im Koalitionsvertrag vereinbarte Expertenkommission wurde erst sechs Monate nach Amtsantritt der Bundesregierung auf den Weg gebracht. Zudem wurde die Kommission mit weiteren politischen Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag beladen, indem sie Vorschläge für kurzfristige Fördermaßnahmen in der Geburtshilfe, in der stationären Kinder- und Jugendmedizin und bei der Ambulantisierung von Klinikleistungen erarbeiten musste. Dies hat nicht nur das Aufgabenpaket vergrößert, sondern die Kommission bei der Erarbeitung eines Reformkonzeptes aus einem Guss politisch eingeengt. Vor allem aber wurde damit viel kostbare Zeit für die wichtigste Strukturreform im Gesundheitswesen in dieser Wahlperiode verschenkt. Die komplizierten und sicher langwierigen Verhandlungen zwischen Bund und Ländern konnten daher erst in diesem Jahr starten.

Gesetz stopft Finanzlöcher nur notdürftig.

Eine weitere Großbaustelle ist die Finanzierung der Krankenkassen. Bereits im Frühjahr hatte der Gesundheitsminister angekündigt, zeitnah einen „wohlüberlegten Gesetzentwurf“ zur Sanierung der Kassenfinanzen vorzulegen. Bis Ende Juli musste sich das Gesundheitswesen gedulden, bis ein in der Bundesregierung abgestimmter Gesetzentwurf vorlag und zumindest einigermaßen Verbindlichkeit darüber bestand, was zur Stabilisierung der Finanzen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) geplant ist.

Aus der Koalition kamen wenig Impulse für die Weiterentwicklung des Gesundheitswesens.

Obwohl bereits im Koalitionsvertrag als dringlich eingestuft, bestimmten Ankündigungsschleifen, voreilige Referentenentwürfe und Unklarheiten bezüglich der Absprache von Gesundheits- und Finanzminister die Monate dazwischen. Was Ende Oktober vom ambitionierten Vorhaben der Ampelkoalition übrigblieb, ist bekannt: ein missratenes Gesetz, das die Finanzlöcher nur im Jahr 2023 stopft, zum größten Teil die Beitragszahler zur Kasse bittet und keine Antworten zur Finanzperspektive der GKV in den kommenden Jahren bietet.

Pflegeversicherung ächzt unter steigenden Ausgaben.

Noch schlechter sieht es in der Pflegeversicherung aus. Die Pflegebedürftigen leiden unter rapide steigenden Eigenbeteiligungen. In der stationären Pflege fallen – so die Zahlen von Mitte November 2022 – um durchschnittlich 21 Prozent höhere Eigenanteile an als vor einem Jahr (siehe Abbildung „Reformbaustelle Pflege: Eigenanteile für Heimbewohner“). Die Pflegeversicherung ächzt unter steigenden Leistungsausgaben, Pandemiekosten und unzureichenden Einnahmen. Zum Jahresabschluss 2022 steht ein Defizit von 2,2 Milliarden Euro in der Bilanz. Die Regierung hat in den vergangenen zwölf Monaten keine Schritte unternommen, um die Belastungen der Beitragszahler und Pflegebedürftigen nachhaltig zu senken. Notwendige Beitragsanpassungen hat sie lediglich mit kurzfristigen Bundeszuschüssen, Schulden der Pflegeversicherung und Bilanztricks kaschiert. So hofft die Ampel, sich ohne frisches Geld für die Pflegeversicherung bis zum Sommer 2023 hinüberzuretten. Erst dann soll eine große Pflegereform kommen.

Falsche Priorisierung und hektisches Agieren.

Nicht überall herrschte Stillstand im Jahr 2022. Die Weiterentwicklung des AMNOG-Verfahrens zur Nutzenbewertung bei patentgeschützten Medikamenten, der Preisdeckel zur Dämpfung steigender Arzneimittelkosten, die Beschleunigung der stockenden Verhandlungen von Pflegebudgets in Krankenhäusern und auch die – trotz massiver Bedenken der Krankenkassen – von den Ampelkoalitionären politisch forcierte Einführung einer neuen Personalregelung im Krankenhaus (PPR 2.0) kann der Gesundheitsminister auf der Habenseite verbuchen. Bei den entscheidenden Großbaustellen im Gesundheitswesen ging es aber nicht voran. So wird 2022 als für die Reformen verlorenes Jahr in Erinnerung bleiben – von einer Revolution gar nicht zu reden.
 
Die letzten Monate vor Jahreswechsel waren erkennbar darauf ausgerichtet, diesem Eindruck entgegenzuwirken. Allerdings mit zweifelhaftem Resultat: Auf die falsche Priorisierung folgte nun oft hektisches und nicht abgestimmtes Agieren mit der Tendenz, über das Ziel hinauszuschießen. Exemplarisch dafür steht das Gesetzgebungsverfahren zum Krankenhaus-Pflegeentlastungsgesetz. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wurden Parlament wie Fachleute von den Ministerplänen zur Kinder- und Jugendmedizin, den Tages-DRGs und der Einführung einer sektorengleichen Vergütung überrascht. Eine adäquate fachliche und politische Diskussion zu den folgenreichen Änderungen war unter diesen Umständen nicht mehr möglich.
 
Der Aktionismus zeigt sich aber auch im Umgang mit langfristigen Reformprojekten wie den Vorschlägen der Regierungskommission zur großen Krankenhausreform, die der Gesundheitsminister öffentlich in die Debatte eingebracht hat, ohne die Gesundheitspolitiker in der Ampelkoalition oder die Gesundheitsminister der Länder vorab zu informieren. Diese Alleingänge vergiften den weiteren Entscheidungsprozess, in dem die Mitwirkung der Koalitionsfraktionen und der Bundesländer gefragt ist. Beim ersten Reformgipfel zu Beginn des Jahres haben sich Bund und Länder auf eine enge Zusammenarbeit an einem gemeinsamen Gesetzentwurf verständigt. Diese Absichtserklärung muss von allen Beteiligten mit Leben gefüllt werden.

Vorschläge sind häufig nicht ausgereift.

Oft bleibt auch beim Inhalt unklar, welchen Reifegrad die Vorschläge des Ministers haben, wenn er vor dem Parlament oder gegenüber Journalisten schnelle und umfassende Maßnahmen ankündigt. Handelt es sich um erste Impulse des Ministeriums oder sind die Vorschläge bereits zwischen den Ressorts und mit der Koalition abgestimmt? Die häufig nicht abgestimmten und unklaren Vorstöße – beispielsweise in der Coronapolitik oder bei Maßnahmen zum GKV-Defizit – sorgen nicht nur für Ärger und Konfusion bei politischen Entscheidern und den Betroffenen im Gesundheitswesen. Sie führen auch dazu, dass der Minister im Nachgang zurückrudern muss.

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In der stationären Pflege müssen sich die Pflegebedürftigen immer stärker an den Kosten beteiligen. Laut der Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) lagen die einrichtungseinheitlichen Eigenanteile (EEE) Mitte November 2022 um durchschnittlich 21 Prozent höher als rund ein Jahr zuvor. Damit haben die Pflegebedürftigen im Durchschnitt rund 2.000 Euro pro Monat selbst aufzubringen.

Quelle: WIdO

In dieses Vorgehen reihten sich zuletzt auch die Pläne zur Krisenhilfe für die Kindermedizin und die Eckpunkte für ein Generikagesetz ein. Zwar versprach der Minister, „mit sofortiger Wirkung“ noch in der laufenden Versorgungskrise gegenzusteuern. Doch rasch war klar, dass die angekündigten Maßnahmen, wie zum Beispiel höhere Kassenpreise für Kindermedikamente, noch unausgegoren sind und erhebliche Umsetzungsprobleme aufweisen (siehe Beitrag „Was hilft gegen Lieferengpässe?“ in dieser Ausgabe).

Ampelstörung in der Gesundheitspolitik.

Dass es (noch) nicht rund läuft in der Gesundheitspolitik, ist aber nicht nur dem Gesundheitsminister anzulasten. Die Ampel schaltet gesundheitspolitisch nicht richtig. Die Regierungsfraktionen agieren abwartend und zurückhaltend. Insbesondere die FDP-Gesundheitspolitiker versuchen sich an der Quadratur des Kreises, indem sie einerseits mehr Bundesmittel des Finanzministers für das Gesundheitswesen ablehnen, sich gegen Einsparungen bei Leistungsanbietern und Pharmaindustrie positionieren, gleichzeitig aber Lohnkosten durch höhere Beiträge verhindern wollen. Dementsprechend fehlte der Druck auf die Minister, den Koalitionsvertrag vereinbarungsgemäß umzusetzen und nachhaltige Reformvorschläge auf den Tisch zu legen.
 
Besondere Verantwortung für den holprigen Start in der Gesundheitspolitik trägt aber die Bundesregierung als Ganzes. Zwar hat sie die Folgen von Pandemie und Energiekrise mit Milliardenzuschüssen abgefedert. Aber Hilfsprogramme für Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, einmalige Bonuszahlungen an professionell Pflegende und verbale Wertschätzung für die Beschäftigten des Gesundheitswesens sind nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite steht, welche Priorität Gesundheitspolitik außerhalb der Krisen auf der politischen Agenda der Bundesregierung bekommt. Hier scheint das Kabinett nach zwölf Monaten noch immer nicht in der Regierungsverantwortung angekommen zu sein.
 
Besonders deutlich wurde dies beim gescheiterten Versuch, die Finanzen in der sozialen Kranken- und Pflegeversicherung zu konsolidieren. Eine sachgerechte Beteiligung des Bundes zur Schließung der Finanzierungslücke scheiterte, weil Finanzminister Christian Lindner keine Bundesmittel in Form auskömmlicher Pauschalen für Empfänger von Arbeitslosengeld II (seit 2023 Bürgergeld) oder einer Senkung der Ausgaben durch eine reduzierte Mehrwertsteuer auf Arzneimittel bereitstellen wollte. Damit blieb die Finanzreform lediglich Stückwerk. Auch Arbeitsminister Hubertus Heil steht nicht zu seiner Verantwortung für den Krankenversicherungsschutz von Bürgergeld-Empfängern, um seinen Etat nicht weiter zu belasten. Und Bundeskanzler Olaf Scholz hat den Schutz von Wirtschaft und Verbrauchern vor finanziellen Belastungen in der Wirtschaftskrise zur Chefsache erklärt.

Der Schutz von Beitragszahlern vor weiteren Belastungen ist dagegen nachrangig. Die gesamte Regierungsmannschaft hat wichtige Entscheidungen in der Gesundheitspolitik vor sich hergeschoben – die Frage, wie es mit den Finanzen der Kranken- und Pflegeversicherung weitergehen soll, ins Jahr 2023.

Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag zügig angehen.

Im zweiten Regierungsjahr muss die Ampelkoalition nun das Ruder in der Gesundheitspolitik herumreißen. Zentrale Entscheidungen darf sie nicht länger vertagen. Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag müssen zügig angegangen werden, um noch in dieser Wahlperiode Wirkung zu entfalten. Dazu gehören die nächsten Schritte zur Digitalisierung des Gesundheitswesens, insbesondere zur elektronischen Patientenakte und zum Aufbau einer Digitalagentur, die Ambulantisierung von Klinikleistungen (siehe Beitrag „Dieses Bett bleibt künftig leer“ in dieser Ausgabe), die Reorganisation der öffentlichen Gesundheitsaufgaben, die Reform der Patientenrechte und die Einführung der Gesundheitskioske. Höchste Priorität haben aber die Krankenhausreform, die Sanierung der Kassenfinanzen und die Pflegereform.

Klinikreform-Konzept konsequent umsetzen.

Die Regierungskommission hat ein gutes Konzept zur Modernisierung der Krankenhauslandschaft vorgelegt. Zu den Vorschlägen gehört, Mengenanreize im Fallpauschalen-System durch die Einführung von fallunabhängigen Vorhaltepauschalen zu dämpfen. Die begrenzten Ressourcen sollen zielgenauer verteilt werden. Dabei sind zur qualitätsorientierten Neuaufstellung der Krankenhäuser verschiedene Versorgungsstufen (Level) vorgesehen, die mit Leistungsgruppen hinterlegt werden. Die Bedarfsplanung erfolgt anhand dieser Leistungsgruppen. Nur bedarfsnotwendige Krankenhäuser bekommen Vorhaltepauschalen. Zudem müssen sie verbindliche Strukturvorgaben erfüllen. Klinikfinanzierung und Krankenhausplanung können so, wenn das Konzept konsequent umgesetzt wird, die Modernisierung der Klinikstrukturen unterstützen. Eine Konzentration der Angebotsstrukturen kann dem Personalmangel entgegenwirken und die für Patientinnen und Patienten riskante Gelegenheitsversorgung beenden. Es ist ein unhaltbarer Zustand, dass nach wie vor Tausende von Herzinfarkt-Patienten in Kliniken landen, die keine adäquate Ausstattung für deren Behandlung haben. Auch die Gelegenheitschirurgie beim Brustkrebs muss aufhören.

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Die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) geht immer weiter auseinander. Während im Jahr 2009 die Ausgaben nur um knapp zwei Milliarden über den Einnahmen des Gesundheitsfonds lagen, wird die Differenz im Jahr 2023 nach Hochrechnungen 34,6 Milliarden Euro betragen.

Quelle: GKV-Spitzenverband, Bundesamt für Soziale Sicherung; * Prognose des GKV-Schätzerkreises

Deshalb ist die Verknüpfung von qualitätsorientierter Planung mit der Einführung einer Vorhaltefinanzierung ein guter und wegweisender Ansatz. Mit diesem klugen Reformkonzept hat die Ampelkoalition eine Steilvorlage bekommen, die sie in der Umsetzung jetzt nicht verstolpern darf. Dem Bund muss es gemeinsam mit den Bundesländern gelingen, das aktuell in vielerlei Hinsicht defizitäre System zu einer bedarfsgerechten Kliniklandschaft weiterzuentwickeln. Die Vorschläge dürfen nicht zerredet werden oder parteitaktischen Motiven zum Opfer fallen. Der jahrzehntelange Reformstau im stationären Bereich kann jetzt überwunden werden, wenn alle Beteiligten konstruktiv zusammenarbeiten. Information, Kommunikation, Moderation und am Ende auch Durchsetzungsfähigkeit sind vor allem auf Bundesebene gefragt.

Finanzen der GKV neu ordnen.

„Das Bundesministerium für Gesundheit erarbeitet Empfehlungen für eine stabile, verlässliche und solidarische Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung. Hierbei soll insbesondere auch die Ausgabenseite der gesetzlichen Krankenversicherung betrachtet werden.“ Diese beiden Sätze wurden ins GKV-Finanzstabilisierungsgesetz aufgenommen. Demnach sollen die Empfehlungen bis 31. Mai 2023 vorliegen. Die Ampelkoalition hat sich damit selbst einen gesetzlichen Auftrag erteilt, in diesem Jahr – nun aber auch wirklich – die Finanzen der GKV neu zu ordnen.
 
Mehr als drei Jahre haben Große Koalition und Ampelkoalition die Finanzlöcher in der GKV notdürftig gestopft. Bis weit in den Herbst des Geschäftsjahres der Krankenkassen war jeweils unklar, wie es mit den Finanzen im darauffolgenden Jahr weitergeht und welche Belastungen auf die Beitragszahlenden zukommen. Damit soll, nimmt man die gesetzliche Ankündigung ernst, nun Schluss sein. An diesem Versprechen werden sich der Gesundheitsminister, aber auch die Ampelkoalition insgesamt in diesem Jahr messen lassen müssen. Die strukturelle Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben in der GKV wird in den kommenden Jahren rapide steigen. Für das laufende Jahr wurde, noch vor den Maßnahmen des Finanzstabilisierungsgesetzes, der Fehlbetrag auf 17 Milliarden Euro geschätzt. Mögliche kostensteigernde Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag waren hier nicht eingerechnet. Bleibt eine langfristig wirkende Reform aus, wird sich dieser Fehlbetrag bis zum Ende der Wahlperiode nahezu verdoppeln. Schnelle Lösungen sind gefragt. Sie müssen gleichzeitig dauerhaft tragen.

Ordnungspolitische Grundsatzentscheidungen treffen.

Die Rücklagen der Krankenkassen sind weitgehend aufgebraucht. An der Beitragssatzschraube wurde bereits gedreht. Es ist darüber hinaus kaum zu erwarten, dass ein Finanzloch in diesem Umfang allein durch Wirtschaftlichkeitsreserven im Gesundheitswesen geschlossen werden kann. Dennoch darf der Reformdruck auch hier nicht nachlassen, um das System effizienter zu machen. Um die Finanzen langfristig zu stabilisieren, muss die Bundesregierung auf der Einnahmen- und der Ausgabenseite der GKV ordnungspolitische Grundsatzentscheidungen treffen.
 
Das Verhältnis zwischen staatlicher Finanzierungsverantwortung im Gesundheitswesen und den Aufgaben der Krankenkassen muss neu austariert werden. Dies ist nicht gleichzusetzen mit einer schleichenden Staatsfinanzierung der Gesundheitskosten durch pauschale Finanzspritzen des Bundes. Vielmehr geht es um eine sachgerechte Kompensation der Beiträge für versteckte Kosten der öffentlichen Hand. Mit auskömmlichen Beiträgen für Bürgergeld-Empfänger (zwölf Milliarden Euro), einer reduzierten Mehrwertsteuer auf Arzneimittel (vier bis fünf Milliarden Euro), sachgemäßer Investitionskostenfinanzierung in Krankenhäusern (drei Milliarden Euro) und Gegenfinanzierung diverser versicherungsfremder Leistungen (beispielsweise dem Aufbau und Betrieb digitaler Infrastrukturen oder der Finanzierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben und Organisationen) wäre ein Großteil der Finanzierungslücke in der GKV langfristig geschlossen. Dazu muss die Bundesregierung die notwendigen Finanzmittel im Bundeshaushalt bereitstellen.

Eine ressortübergreifende Entscheidung kann auch nicht warten, bis das BMG im Mai „Empfehlungen“ erarbeitet hat. Im März werden die Eckpunkte für den Bundeshaushalt 2024 diskutiert. Hier muss bereits eine Richtung vorgegeben werden.

Finanzlücke in der Pflegeversicherung schließen.

Die Ausgaben der Pflegeversicherung liegen im Jahr 2023 voraussichtlich um rund drei Milliarden Euro über den Einnahmen. Bis zum Ende der Legislaturperiode fehlen in der Pflegekasse auch ohne die im Koalitionsvertrag bereits festgelegten Leistungsverbesserungen bis zu zehn Milliarden Euro. Die Reform der Pflegeversicherung ist deshalb die dritte große Aufgabe der Ampelkoalition in diesem Jahr. Auch hier hat sie notwendige Gegenmaßnahmen im ersten Regierungsjahr verschleppt. 4,7 Milliarden Euro der pandemiebedingten Aufwendungen der SPV in den Jahren 2020 bis 2022 hat der Bund nicht refinanziert. Mindestens drei Milliarden Euro der Leistungszuschläge zur Begrenzung der stationären Eigenanteile, die die Vorgängerregierung bei ihrer Reform falsch kalkuliert hatte, werden 2023 nicht gegenfinanziert. Haupttreiber sind die Lohnkosten in der Pflege, die mit Einführung der Tarifbindung deutlich angestiegen sind. Die Zahl der Pflegebedürftigen steigt ebenfalls stärker als angenommen.

Bundesmittel im Haushalt einplanen.

Die ausgebliebene Finanzreform hat dazu geführt, dass die Pflegeversicherung im vergangenen Jahr mehrfach nah am Rand der Zahlungsunfähigkeit stand. Nur Notzuschüsse des Bundes und ein Kredit, der 2023 zurückgezahlt werden muss, haben sie über das Jahr gebracht. Von einer „moderaten Beitragssatzanhebung“, wie es im Koalitionsvertrag geheißen hat, kann daher nicht mehr die Rede sein. Die Ampelkoalition muss schnell gegensteuern. Sie hatte dazu in den Koalitionsverhandlungen einige vernünftige Finanzoptionen beschlossen: Um die Löcher in der Pflegekasse zu stopfen, müssen, wie vereinbart, die versicherungsfremden Leistungen vollständig vom Bund refinanziert werden. Rentenbeiträge für Pflegende oder die Ausbildungskosten für Pflegekräfte sind nicht Aufgabe der Pflegebeitragszahler. Auch in der Pflegeversicherung muss der Bund angemessene Beiträge für Bürgergeld-Empfänger zahlen. Zusätzlich sind die pandemiebedingten Kosten der Pflege nachträglich zu erstatten. Bereits im Frühjahr müssen die Maßnahmen zur Stabilisierung stehen und entsprechende Bundesmittel in der ersten Beratungsrunde zum Bundeshaushalt 2024 reserviert sein.
 
Es sind diese drei Vorhaben, die zum Gradmesser für eine erfolgreiche Gesundheitspolitik der Ampelkoalition am Ende der Wahlperiode werden. Gelingt der selbsternannten „Fortschrittskoalition“ ein großer Schritt bei der Modernisierung der Klinik­landschaft und bringt sie die Finanzen der GKV und SPV wieder in Ordnung? Dafür werden in diesem Jahr die entscheidenden Weichen gestellt – oder verpasst! Bundesgesundheitsminister und Ampelkoalition müssen die prioritären Aufgaben jetzt anpacken und Gesetze liefern. Im Vergleich zum Jahr 2022 darf es in diesem Jahr ruhig ein bisschen mehr sein.

Kai Senf ist Geschäftsführer Politik/Unternehmensentwicklung im AOK-Bundesverband.
Oliver Weiss ist Illustrator und Designer.
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