High noon: Das Gesundheitswesen braucht dringend einen Strukturwandel.
Expertise

Hochkomplexer Schönwetterbetrieb

Das Gesundheitswesen ist nicht ausreichend auf Pandemien, den Klimawandel oder andere Krisen vorbereitet. Zu diesem Ergebnis kommt der Sachverständigenrat Gesundheit und Pflege in seinem jüngsten Gutachten. Von Thomas Rottschäfer

Mitte Januar

sitzt Professor Ferdinand Gerlach in der Bundespressekonferenz in Berlin. Gemeinsam mit den Professoren ­Petra Thürmann, Wolfgang Greiner und Gabriele Meyer stellt der bis dato Vor­sitzende des Sachverständigenrates Gesundheit und Pflege (SVR) das Jahresgutachten 2023 vor, das die sieben Gesundheitsweisen kurz zuvor Bundes­gesundheitsminister Professor Karl Lauterbach übergeben haben. Es ist Expertise Nr. 22 in der knapp 38-jährigen Geschichte des Gremiums und das letzte, das unter Gerlachs Vorsitz entstanden ist. Das Thema der 600-Seiten-Expertise: „Resilienz im Gesundheitswesen. Wege zur Bewältigung künftiger Krisen.“
 
Um die Krisenfestigkeit des Gesundheitssystems ist es nach Auffassung des SVR schlecht bestellt. Es sei „weder auf die Folgen des Klimawandels noch auf Pandemien ausreichend vorbereitet“, stellt Gerlach fest. Freundlich im Ton, aber deutlich in der Sache spricht er von einem „hochkomplexen, behäbigen Schön­wettersystem, das unter unzulänglicher Digitalisierung und einem formaljuristisch leerlaufenden Datenschutzverständnis leidet“. Überdies sei die Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern, Kreisen und Kommunen nicht nur im Krisenfall unzureichend koordiniert.

Klimawandel bedroht die Gesundheit.

Die Analysen und Verbesserungsvorschläge der sieben Ratsmitglieder beziehen sich insbesondere auf den Öffent­lichen Gesundheitsdienst, die stationäre und ambulante Akutversorgung sowie die Langzeitpflege. Ihre Empfehlungen übertragen sie zudem auf „die absehbaren Herausforderungen des Gesundheits­systems durch Hitze und weitere Pandemien“. Mit Blick auf den Klimawandel beleuchtet das Gutachten neben den zu erwartenden Gesundheitsproblemen durch Hitzewellen die Gefahr durch neue Infektionskrankheiten.

„In Deutschland werden spezialisierte interdisziplinäre Forschungszentren benötigt, die bereits in Zeiten außerhalb von Pandemien aktiv sind, um Diagnostik, Therapie- und Impfstoffentwicklung voranzutreiben, und dabei Grundlagenforschung mit klinischer Forschung und Versorgungsforschung kombinieren“, heißt es im Gutachten. „Wir haben jetzt schon Keime in der Ostsee, da haben wir niemals gedacht, dass wir die bei uns jemals erleben“, warnt SVR-Mitglied Petra Thürmann. Die Pandemie habe gezeigt, „dass wir infektiologisch in Deutschland nicht gut aufgestellt sind“.

Bundesgesundheitsminister Professor Karl Lauterbach hat zum 1. Februar turnusgemäß einen neuen Sachverständigenrat berufen. Bis auf den Gesundheitsökonomen Professor Jonas Schreyögg handelt es sich um neue Expertinnen und Experten aus Medizin, Ökonomie, Versorgungsforschung und Pflegewissenschaft. Das ist der radikalste Umbruch seit Gründung des Rates 1985. Bisher wurden stets nur zwei oder drei der sieben Ratsmitglieder neu berufen. Das Ausscheiden von gleich sechs Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hat dem Vernehmen nach neben persönlichen Gründen auch mit der fachlichen oder parteipolitischen Orientierung zu tun. Der bisherige Vorsitzende Professor Ferdinand Gerlach hatte bereits im September 2022 sein Ausscheiden angekündigt. Er gehörte dem Rat seit 2007 an, seit 2012 als Vor­sitzender.
 
Mitglieder des neuen Rates:

  • Prof. Nils Gutacker
    Professor für Health Economics an der University of York (Großbritannien)
  • Prof. Dr. med. Michael Hallek
    Direktor der Klinik für Innere Medizin an der Universitätsklinik Köln und Vizedirektor des Centrums für Integrierte Onkologie Aachen-Bonn-Köln-Düsseldorf
  • Prof. Dr. med. Stefanie Joos
    Lehrstuhlinhaberin für Allgemeinmedizin und ärztliche Direktorin des Instituts für Allgemeinmedizin und interprofessionelle Versorgung der Universitätsklinik Tübingen
  • Prof. Dr. PH Melanie Messer
    Professorin für Pflegewissenschaft mit dem Schwerpunkt Klinische Pflege über die Lebensspanne an der Universität Trier
  • Prof. Dr. rer. oec. Jonas Schreyögg
    Wissenschaftlicher Direktor des Hamburg Center for Health Economics (HCHE) an der Universität Hamburg
  • Prof. Dr. med. Jochen Schmitt, MPH
    Direktor des Gesundheitsökonomischen Zentrums an der TU Dresden und Direktor des Zentrums für Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung (ZEGV) am Universitätsklinikum Dresden
  • Prof. Dr. rer. oec. Leonie Sundmacher
    Leiterin des Fachgebiets Gesundheits­ökonomie an der Fakultät für Sport- und Gesundheits­wissenschaften der TU München

Die Ratsmitglieder kommen am 28. Februar zur konstituierenden Sitzung zusammen und wählen aus ihrer Mitte die Vorsitzende oder den Vorsitzenden.

Quelle: bundesgesundheitsministerium.de

Zur Entwicklung einer wirksamen Resilienzstrategie legen die Wissenschaftler der Gesundheitspolitik eine „Multi­stakeholder-Perspektive“ ans Herz, „ein Bündel von Maßnahmen“, das es jetzt „in vielen Gesprächen, Verhandlungen und Prozessen“ zu beraten und umzusetzen gelte. Da Gesundheit von vielen anderen Lebens- und Politikbereichen beeinflusst werde – Umwelt, Arbeit, Wohnungs- und Städtebau, Verkehr, Wirtschaft und Bildung – fordert der Rat eine konsequente Orientierung am Prinzip einer intersektoralen Gesundheitspolitik („Health in all Policies“).

Aus den aktuellen Krisen seien bislang nicht die notwendigen Schlüsse gezogen worden, kritisieren die Gesundheits­weisen. „Die bisherige Selbstwahrnehmung, dass in Deutschland alles gut ­organisiert ist und wir angesichts eines ausdifferenzierten Rettungs- und Gesundheitssystems bestens auch auf ­unvorhergesehene Entwicklungen vorbereitet sind, war und ist trügerisch“, sagt der scheidende Ratsvorsitzende. Im Ergebnis entspreche die Gesundheitsversorgung häufig nicht dem hohen Mittel­einsatz. Das Gesundheitssystem müsse „wie Deutschland insgesamt dringend krisenresistenter und strukturell widerstandsfähiger werden“, bekräftigt der stellvertretende Ratsvorsitzende Greiner.

Im Gutachten plädiert der Rat insbesondere für umfassende Pandemiepläne und – mit Blick auf den Klimawandel – Hitze­aktionspläne, in die alle Versorgungsebenen einbezogen werden müssten. Nötig seien regelmäßige lokale und re­gionale Katastrophenschutzübungen. Greiner fürchtet, dass die in der Sars-CoV-2-Pandemie zutage getretenen Schwächen des Gesundheitssystems allzu schnell wieder verdrängt werden könnten. Es gelte, notwendige neue Strukturen zu schaffen, bevor das Bewusstsein dafür wieder verblasse. Er bezieht das insbesondere auf eine Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, der bislang immer „unter dem Radar“ gewesen sei. So sei es vorstellbar, das im Koalitionsvertrag vorgesehene neue Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit „zu einer Art Bundesdateninstitut“ auszubauen und dort alle wichtigen Gesundheitsdaten zusammenlaufen zu lassen, um auf die nächste ­Krise besser vorbereitet zu sein.
 
Auch in Sachen Lieferketten sei jetzt schnelles Handeln gefordert, sagt ­Greiner. Die Expertinnen und Experten emp­fehlen ein konsequentes Monitoring der Arzneimittelversorgung und statt einer nationalen Lagerhaltung ein in EU-Kooperationen und internationale Zu­sammenarbeit eingebettetes „rollierendes, dezentrales Bevorratungssystem“.

Datennutzung vereinfachen.

Mit der mangelhaften Digitalisierung des Gesundheitswesens beschäftigte sich bereits das Gutachten 2022. Die Medizinerin Thürmann greift das Thema bei der Vorstellung der neuen Expertise erneut auf. Sie fordert mit Blick auf den Stillstand bei der elektronischen Gesundheitsakte: „Wir müssen die verantwortliche Datennutzung zur Verbesserung der Ver­sorgung und der epidemiologischen Lage­analyse dringend vereinfachen.“ Dazu müssten die vorhandenen Möglichkeiten der EU-Datenschutzgrundverordnung endlich auch in Deutschland umgesetzt werden. „Seitenlange Einwilligungserklärungen bieten keine Datensicherheit.“

In der Pandemie sei Deutschland weitgehend im Blindflug unterwegs gewesen und habe sich häufig auf wesentlich bessere Daten zum Beispiel aus Dänemark oder Israel verlassen müssen, bemängelt Thürmann. Die schlechte Datenlage habe auch die Pflege in der Pandemie erheblich beeinträchtigt, ergänzt ihre Ratskollegin Gabriele Meyer. Der Mangel an empirischen Daten betreffe sowohl das Infektionsgeschehen in den Pflegeeinrichtungen als auch die Wirkungs­analyse von Corona-Maßnahmen. Die Pflege müsse dringend enger in die Entscheidungsprozesse im Gesundheitswesen einbezogen werden, insbesondere durch Beteiligung im Gemeinsamen Bundesausschuss, betont die Pflegewissenschaftlerin.

Regionale Gesundheitszentren aufbauen.

Frühere Empfehlungen des Rates für eine grundlegende Neuordnung der statio­nären Versorgung haben inzwischen Eingang in die Vorschläge der Regierungskommission für die Krankenhausreform gefunden. Im aktuellen Gut­achten pointieren die Sachverständigen diese Vorstellungen noch einmal: „Zur Stärkung der strukturellen Resilienz sollten integrierte regionale Gesundheits­zentren als moderne und bedarfs­gerechte Form der Daseinsvorsorge viele Krankenhäuser der Grundversorgung ablösen. Das Leistungsspektrum sollte an die regionalen Bedarfe angepasst werden. Durch den Aufbau regionaler Gesundheitszentren entfallen stationäre Patientenpflegetage, und es werden substanziell personelle Kapazitäten für notwendige stationäre Aufenthalte geschaffen.“

Nicht neu ist die SVR-Feststellung, dass die Krisenvorsorge und der über­fällige Strukturwandel – insbesondere in der Krankenhausversorgung – nicht mangels Erkenntnis, sondern durch „ein Daten- und Umsetzungsdefizit“ behindert werden. Gerlach ist optimistisch: „So viele SVR-Empfehlungen wie nie haben es in den Koalitionsvertrag geschafft. Früher oder später werden sie umgesetzt.“ Sein Vorgänger an der SVR-Spitze, Professor Eberhard Wille, hatte es zum 30. Geburtstag des Rates 2015 ausgerechnet: 50 Prozent der Empfehlungen hatten bis dahin den Sprung in die Versorgungspraxis geschafft. „Eine stolze Quote“, sagt Gerlach bei seiner letzten Pressekonferenz als Gesundheitsweiser.

Thomas Rottschäfer ist freier Journalist mit dem Schwerpunkt Gesundheitspolitik.
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