Krankenhausbehandlung

Kasse muss für Assistenzkräfte zahlen

Schwerstbehinderte Menschen haben bei einem erforderlichen Krankenhausaufenthalt im Ausnahmefall Anspruch auf häusliche Krankenpflege durch ihre selbst angestellten Pflegekräfte. Dies gilt zumindest dann, wenn bei dem Patienten ein besonderer Pflegebedarf besteht. Das hat das Bundessozialgericht entschieden. Von Anja Mertens

Urteil vom 10. November 2022
– B 3 KR 15/20 R –

Bundessozialgericht

Für Menschen mit einer Behinderung

stellt der Aufenthalt in einem Krankenhaus eine nicht zu unterschätzende He­rausforderung dar. Sie können mit der Situation überfordert sein und den Erwartungen an Mitwirkung, Selbstständigkeit und Eigeninitiative eventuell nicht genügen. Verbunden mit dem in Krankenhäusern häufig existierenden Zeitdruck und Personalmangel kann dies die Diagnosestellung und Behandlung erschweren. Deshalb können begleitende Vertrauenspersonen, beispielsweise Kräf­te für die häusliche Krankenpflege, eine wertvolle Hilfe sein. Aber müssen gesetzliche Krankenkassen die Kosten für die häusliche Krankenpflege während eines Klinikaufenthalts tragen? Über diese Frage hatte das Bundessozialgericht (BSG) zu entscheiden.

Betreuungskräfte selbst beschafft.

In dem Fall ging es um einen 1965 geborenen Mann, der seit 2008 an amyotropher Lateralsklerose (ALS) leidet, einer degenerativen Erkrankung des Nervensystems mit fortschreitender Schädigung der Nervenzellen, die für die Muskelbewegungen verantwortlich sind. Er kann sich weder bewegen noch sprechen, liegt in einem Krankenpflegebett und kommuniziert mithilfe eines Augencomputers unter Einsatz von ABC-Tafeln. Die erforder­liche 24-Stunden-Betreuung organisiert er seit November 2012 in Absprache mit seiner Krankenkasse im sogenannten Arbeitgebermodell selbst. Im Mai und Juni 2013 waren fünf Assistenzkräfte bei ihm angestellt, deren Kosten in Höhe von 28,50 Euro pro Stunde für 20,2 Stunden am Tag von der Kasse grundsätzlich zu erstatten waren. Nach einem Atem­notstand lag er vom 11. Mai bis 24. Juni 2013 im Krankenhaus. Seine Assistenzkräfte betreuten ihn während dieser Zeit zunächst in geringem Umfang – ins­besondere für die Dauer des künstlichen Komas – und übernahmen ab dem 7. Juni 2013 die 24-Stunden-Betreuung voll­ständig. Seine Kasse lehnte die Erstattung der in dieser Zeit angefallenen Assistenzkosten in Höhe von rund 20.286 Euro ab.

Begründung: Während eines Klinik­aufenthalts seien die Kosten einer häuslichen Krankenpflege auch beim Arbeitgebermodell nicht erstattungsfähig. Gegen diese Entscheidung klagte der Versicherte und bekam vor dem Sozial- und dem Landessozialgericht Recht. Daraufhin legte die Kasse Revision beim BSG ein, unterlag aber auch dort.

Versicherte haben einen Anspruch darauf, die Kosten für selbst beschaffte Pflegekräfte erstattet zu bekommen, so die obersten Sozialrichter.

Zunächst wiesen die obersten Sozialrichter darauf hin, dass Versicherte einen Kostenerstattungsanspruch für selbst­ beschaffte häusliche Krankenpflege in angemessener Höhe hätten, wenn die Kasse eine Kraft nicht selbst stellen könne oder Grund bestehe, davon abzusehen (Paragraf 37 Absatz 4 SGB V). Grundsätzlich seien Versicherte dabei auf die Inanspruchnahme solcher Pflegedienste beschränkt, die mit der Kasse entsprechende Verträge geschlossen haben (Para­graf 132a Absatz 4 SGB V). Das schließe aber die Organisation der häuslichen Krankenpflege mit selbst beschafften besonderen Pflegekräften nicht aus, wenn die Pflege anders nicht sicherzustellen sei. Dies sei auch in der gesetzliche Krankenversicherung anerkannt.

Besonderer Bedarf anerkannt.

Die Kassen hätten bei einer Krankenhausbehandlung die Kosten der Mitaufnahme von Pflegekräften zu tragen, die von Ver­sicherten zur Sicherstellung ihrer Pflege selbst beschäftigt werden. Dies sei dann der Fall, wenn eine besondere pflegerische und persönliche Betreuung, Hilfe oder Assistenz notwendig sei, die über die Krankenpflege bei stationärer Versorgung hinausgehe (Paragrafen 11 SGB V und 63b SGB XII). Damit sei im Leistungsrecht ein solcher besonderer Betreuungsbedarf anerkannt. Trotz ohne ausdrücklicher gesetzlicher Normierung könne in der Gesamtschau der Regelungen davon ausgegangen werden, dass in Ausnahmefällen auch die Kosten für die von einem Versicherten im Arbeitgebermodell selbst beschäftigten besonderen Pflegekräfte in angemessener Höhe nach Paragraf 37 Absatz 4 SGB V zu erstatten sind.

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Im vorliegenden Fall bestehe unstreitig ein solcher Bedarf, und die Beteiligten hätten hierüber auch Einvernehmen erzielt. Nur weil der behinderte Kläger die häusliche Krankenpflege im Arbeitgebermodell organisiert und selbst Pflegekräfte angestellt habe, verliere die Kasse nicht die Verantwortung für deren Erbringung. Auch wenn die häusliche Krankenpflege nicht als Sachleistung erfolge, gehe aus Paragraf 37 Absatz 4 SGB V hervor, dass die Kassen für die ausreichende Versorgung mit häuslicher Krankenpflege auch dann verantwortlich seien, wenn sich Versicherte die Pflegekräfte dafür selbst beschafft haben. Zu erstatten seien jedenfalls die Aufwendungen der Versicherten, mit denen sie nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus ihre ambulante Krankenpflege aufrechterhalten können. Die Kosten habe die Kasse auch dann zu tragen, wenn ein Versicherter davon wegen einer im Krankenhaus erforderlichen Akutversorgung vorübergehend keinen unmittelbaren Nutzen habe. Reiche allerdings der Bedarf wie hier behinderungsbedingt über die für die stationäre Behandlung erforderliche Krankenpflege hinaus, könne hinsichtlich dieses zusätzlichen Bedarfs auch ein Krankenhaus ein geeigneter Ort für die häusliche Krankenpflege sein (Paragraf 37 Absatz 2 SGB V).

Fragen offen gelassen.

Ob eine Krankenkasse bereits während des Krankenhausaufenthalts eines Versicherten auf die Absenkung aus ihrer Sicht unangemessener Kosten hinzuwirken hat, ließen die obersten Sozialrichter ebenso offen wie die Frage, wie sich gegebenenfalls das Risiko einer unangemessen hohen Betreuung im Verhältnis zwischen Versicherten und Kasse verteile.

Anja Mertens ist Rechtsanwältin im Justiziariat des AOK-Bundesverbandes.
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