Im Notfall fehlt es heute an einer abgestimmten Steuerung der Patientinnen und Patienten in die geeignete Versorgungsebene.
Versorgungsreform

Eigenständigkeit für Notfallzentren

In medizinischen Notfällen ist sektorenübergreifendes Handeln gefragt. Dafür sollen künftig integrierte Leitstellen und Notfallzentren sorgen. Doch das Konzept der Regierungskommission greift zu kurz, sagen Julia Schlüter, Franziska Weigel, Dr. David Scheller-Kreinsen und Dr. Jürgen Malzahn.

In der Notfallversorgung

zeigt sich beispielhaft, welche Probleme der sektorale Aufbau des Gesundheitssystems mit sich bringt. Notaufnahmen und Rettungsdienst sind chronisch überlastet. Es fehlt an einer abgestimmten, einheitlichen Steuerung der Patientinnen und Patienten in die geeignete Versorgungsebene. Dabei liegen Konzepte für eine integrierte Notfallversorgung längst auf dem Tisch: Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und in der Pflege, Krankenkassen, Wissenschaftler und Verbände haben zahlreiche Vorschläge entwickelt (siehe Lese- und Webtipps).

Gesetzgebung lässt Lücken.

Ein von der Vorgänger-Regierung unter Gesundheitsminister Jens Spahn angestoßenes umfassendes Reformvorhaben scheiterte am Widerstand der Länder. Bedingt durch die Corona-Pandemie trat es dann vollständig in den Hintergrund. Lediglich bei der stationären Notfallversorgung hat die Politik im Jahr 2016 mit dem Krankenhausstrukturgesetz erste Reformschritte unternommen. Das Gesetz bietet die Möglichkeit, dass die Kassenärztlichen Vereinigungen an Krankenhäusern Portalpraxen einrichten, um die Notaufnahmen zu entlasten. Außerdem führte der Gesetzgeber das Notfallstufensystem ein. Danach werden Krankenhäuser in Abhängigkeit von den vorgehaltenen Notfallstrukturen in Stufen eingeteilt und erhalten differenzierte Zuschläge. Darüber hinaus sieht das Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) von 2021 eine qualifizierte und standardisierte Ersteinschätzung von Hilfesuchenden am Krankenhaus vor. Der Richtlinienbeschluss ist für Mitte dieses Jahres vorgesehen.

Notaufnahmen und Rettungsdienst sind chronisch überlastet.

Die Probleme der ambulanten Notfallversorgung haben sich trotz der gesetzlichen Neuregelungen nicht geändert. Die Grundsatzfrage lautet weiterhin, ob das System umfassend reformiert und die Verantwortlichkeiten neu verteilt werden sollten oder ob sich die ambulante Notfallversorgung ohne relevante strukturelle Änderungen insbesondere mittels Digitalisierung verbessern lässt.

Kommission legt Empfehlungen vor.

Die Klinikreform – und als Teil davon die Reform der Notfallversorgung – steht weit oben auf der Agenda der Ampel-Regierung. Die von ihr eingesetzte „Kommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“ hat im Februar 2023 ihre vierte Stellungnahme zur Reform der Notfall- und Akutversorgung vorgelegt. Den Rettungsdienst hat sie darin allerdings ausgespart und will ihn später gesondert aufgreifen. Aus Sicht der AOK-Gemeinschaft besteht auch beim Rettungsdienst dringender Reformbedarf, weil Systembrüche an Landes- und Kreisgrenzen die Qualitätssicherung, einen bedarfsgerechten Einsatz von Rettungsmitteln sowie eine wirtschaftliche Preisbildung erschweren.

Organisation

Vorschlag der Regierungskommission: Integrierte Notfallzentren (INZ) sind ein kooperativer Zusammenschluss aus einer Notdienstpraxis der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) im oder am Krankenhaus, einer zentralen Notaufnahme und einem „gemeinsamen Tresen“. Über die Leitung des INZ sollen sich die zuständige KV und das Krankenhaus einigen, andernfalls wird sie vom Krankenhaus übernommen.

Vorschlag der AOK: INZ sind eigenständige, fachlich unabhängige Versorgungseinheiten mit eigenem Personal und eigener apparativer Ausstattung.

Planung der Standorte

Vorschlag der Regierungskommission: INZ werden an jedem Krankenhaus der Notfallstufe 2 und 3 eingerichtet und, wenn regional erforderlich, auch an Kliniken der Stufe 1, oder werden als Medizinische Versorgungszentren mit INZ-Anbindung eingerichtet.

Vorschlag der AOK: INZ werden zwar an Krankenhäusern mit einer Notfallstufe eingerichtet, aber nur an jenen, bei denen bezogen auf die Bevölkerung auch ein Bedarf vorliegt. Die Planung der Standorte übernehmen neu zu gründende „3+1-Gremien“ auf der Landesebene. Planungsgrundlage ist eine Notfallversorgungs-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses, in der die Kriterien für die Bedarfsfeststellung festgelegt werden.

Finanzierung

Vorschlag der Regierungskommission: Die Finanzierung erfolgt innerhalb der bestehenden sektoralen Systeme oder alternativ über ein gemeinsames Budget und eine Vergütung, die die unterschied­lichen Schwere- und Komplexitätsgrade sowie Vorhaltekosten berücksichtigt.

Vorschlag der AOK: Die Finanzierung erfolgt über ein Notfallver­sorgungsbudget mit einem neu zu entwickelnden Vergütungssystem, das Preis- und Steuerungselemente enthält.

Quelle: AOK-Bundesverband

Kernelemente der Reform-Empfehlungen sind Integrierte Leitstellen (ILS) und Integrierte Notfallzentren (INZ). Bei den ILS ähneln sich die Positionen der Regierungskommission und der AOK in den Grundzügen. Hingegen gehen bei den INZ die Auffassungen von Kommission und AOK auseinander, insbesondere hinsichtlich der Organisation, Planung und Finanzierung (siehe Kasten „Reform der Notfallversorgung: Konzepte im Vergleich“). Das Bundesministerium für Gesundheit hat eine Gesetzesvorlage für 2023 angekündigt.

Zentrale Anlaufstelle für Hilfesuchende.

Aus Sicht der Regierungskommission bestehen INZ aus der Notaufnahme des Krankenhauses, einer Notdienstpraxis der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) im oder direkt am Krankenhaus und einer zentralen Ersteinschätzungsstelle, also einem „gemeinsamen Tresen“. INZ sollen nach dem Reformvorschlag an allen Krankenhäusern der erweiterten und der umfassenden Notfallversorgung (Notfallstufen 2 und 3) eingerichtet werden. Sofern es regional erforderlich ist, kann ein INZ auch an weiteren Krankenhäusern (Stufe 1) eingerichtet werden.

Auch beim Rettungsdienst besteht Reformbedarf.

Alternativ besteht nach dem Vorschlag die Möglichkeit, die Notfallversorgung über ein rund um die Uhr an sieben Wochentagen geöffnetes Medizinisches Versorgungszentrum mit telemedizinischer Anbindung an ein INZ zu gewährleisten. Für die Sicherstellung der pädiatrischen Notfallversorgung sollen darüber hinaus an Kliniken für Kinder- und Jugendmedizin sowie Krankenhäusern mit einer pädiatrischen Abteilung INZ für Kinder und Jugendliche (KINZ) aufgebaut werden. Die Kommission schätzt, dass dadurch bundesweit rund 420 INZ und etwa 290 KINZ entstehen würden. Über die Öffnungszeiten der INZ in Krankenhäusern der Notfallstufe 2 soll ein regionales Gremium ohne Beteiligung der Kostenträger entscheiden. In Kliniken der Notfallstufe 3 sind INZ rund um die Uhr zu betreiben.

Nach dem Vorschlag der Kommission sollen sich KV und Krankenhaus über die Leitung der INZ einigen. Kommt keine Einigung zustande, übernimmt das Krankenhaus die Leitung. Der Behandlungsbedarf der Patientinnen und Patienten ist über eine qualifizierte und standardisierte Ersteinschätzung am „gemeinsamen Tresen“ zu ermitteln. Über eine Richtlinie zum Ersteinschätzungsver­fahren berät der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) derzeit. Die INZ-Leitung legt fest, wer die Ersteinschätzung durchführt und über die weitere Vers­orgung entscheidet, einschließlich der Zuweisung in die KV-Notdienstpraxis oder in die Notaufnahme des Krankenhauses.

Zwei Varianten der Finanzierung.

Zur Finanzierung und Vergütung hat die Kommission zwei mögliche Varianten vorgeschlagen: Zum einen könnten KV-Notdienstpraxen und Notaufnahmen weiter innerhalb der jeweils bestehenden Systeme vergütet werden. Dabei soll sich die Vergütung zukünftig aus Vorhaltepauschalen und Fallpauschalen zusammensetzen. Alternativ könnte ein gemeinsamer Finanzierungstopf eingerichtet werden und die Vergütung nach einheitlichen Kriterien erfolgen. Dazu wären die Gelder aus den bisherigen Finanztöpfen der KVen und Krankenhäuser auszugliedern und unterschiedliche Schwere- und Komplexitätsgrade sowie Vorhalteleistungen in den KV-Praxen und Notaufnahmen bei der Vergütung zu berücksichtigen.

Viele Probleme ungelöst.

INZ sind nach Vorstellung der Regierungskommission damit im Kern „Ersteinschätzungsstellen“, die mit KV-Notdienstpraxen und den Notaufnahmen der Krankenhäuser kooperieren und digital vernetzt sind. An der Trägerschaft und Struktur der ambulanten Notfallversorgung ändert sich mit diesem Vorschlag grundlegend nichts.

Die Struktur der Notfallversorgung darf nicht interessengebunden sein.

Deshalb können aus Sicht der AOK viele Probleme nicht gelöst werden. Um Kompetenzgerangel und Abstimmungspro­bleme zukünftig zu vermindern, müssen INZ als eigenständige, fachlich unabhängige Versorgungseinheiten konzipiert werden. Sie verfügen dann über eigenes ärztliches und nichtärztliches Personal sowie eine eigene apparative Ausstattung. In der Folge sind INZ eigenständige Leistungserbringer. Zu den Aufgaben gehören insbesondere die medizinische Ersteinschätzung, die Versorgung ambulanter Notfälle, die Stabilisierung der Patientinnen und Patienten und bei Bedarf die Vorbereitung der stationären Aufnahme.

Planung am Bedarf orientieren.

Die Planung der INZ-Standorte muss sich am tatsächlichen Bedarf der Bevölkerung orientieren. INZ sollten zwar an Krankenhäusern mit Notfallstufe eingerichtet werden, jedoch nicht an jedem, wie dies beispielsweise die Deutsche Kranken­hausgesellschaft fordert. Die Kriterien für die Bedarfsfeststellung sollte der GBA in einer neuen Notfallversorgungs-Richtlinie festlegen. Darauf aufbauend entscheiden neu zu gründende „3+1-Gremien“ auf der Landesebene über den Bedarf, die Standorte, die Betreiber und die Dimensionierung der INZ. Ein 3+1-Gremium setzt sich zusammen aus Vertreterinnen und Vertretern der KVen, der Landeskrankenhausgesellschaften und der Krankenkassen. Die Landesbehörde wird in der Funktion einer unparteiischen Vorsitzenden beteiligt.

Vergütungssysteme bereinigen.

Die Finanzierung sollte auf einem eigenständigen Notfallversorgungsbudget basieren. Dieses beinhaltet Preis- und Steuerungselemente bei Entwicklung eines gesonderten Vergütungsmodells. Das Notfallversorgungsbudget orientiert sich an den aktuellen Zahlungen für die ambulante Notfallversorgung entsprechend dem Einheitlichen Bewertungsmaßstab, den von den Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen bereitgestellten Mitteln für die Sicherstellung der Strukturen des Notdienstes und den Kosten der Krankenhäuser für die Zentralen Notaufnahmen. Dabei ist eine Bereinigung der bestehenden Vergütungssysteme um diese Mittel erforderlich.

Strukturen umfassend ändern.

Der Reformbedarf in der Notfallversorgung besteht nach wie vor. Einigkeit besteht darin, dass die Steuerung von Patientinnen und Patienten in die geeignete Versorgungsebene und der bedarfsgerechte Ressourceneinsatz insgesamt verbessert werden müssen. Dabei spielen Anpassungen bei den Leitstellen eine zentrale Rolle. Das Zusammenführen von sektorenübergreifenden Prozessen (zum Beispiel bei der Ersteinschätzung) und die Nutzung digitaler Hilfen sind hier die Schlüssel zur Umsetzung.

  • Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und in der Pflege (2018): Bedarfsgerechte Steuerung der Gesundheitsversorgung. Download
  • Robert Messerle, Jonas Schreyögg, Ferdinand Gerlach: Patientenorientierte Notfall­steuerung. In: Jürgen Klauber, Jürgen Wasem, Andreas Beivers, Carina Mostert, (Hrsg.): Krankenhaus-Report 2021. Springer, Berlin, Heidelberg. Download
  • Sandra Mangiapane, Thomas Czihal, Dominik von Stillfried: Entwicklung der ambulanten Notfallversorgung in Deutschland von 2009 bis 2020. Download
  • Stellungnahme der Regierungskommis­sion: Reform der Notfall- und Akutver­sorgung in Deutschland. Integrierte Notfallzentren und Integrierte Leitstellen. Download

Vergleicht man die Vorschläge der Regierungskommission und der AOK, entscheidet sich an der Ausgestaltung der INZ, wie tiefgreifend eine Reform der Notfallversorgung geht. Aus AOK-Sicht ist eine umfassende Strukturreform der ambulanten Notfallversorgung erforderlich. Die Struktur für die Notfallversorgung darf nicht interessengebunden sein.

Nur so lassen sich Fehlanreize für die an­schließende Versorgung wirkungsvoll verringern. Das heißt, INZ dürfen nicht nur aus einem „Tresen“ bestehen, sondern müssen eigenständige Leistungserbringer sein. Versorgungsentscheidungen der INZ sind dann ausschließlich medi­zinisch begründet und unabhängig von möglichen ökonomischen Interessen der Vertragsärzteschaft und der Krankenhäuser. Digitalisierung allein reicht nicht aus, die bestehenden strukturellen Pro­bleme nachhaltig zu überwinden.
 
Nicht zuletzt darf das Potenzial aus einer Reform des Rettungsdienstes nicht verschenkt werden. Die Reform des Rettungsdienstes gehört zur Reform der Notfallversorgung dazu. Hierfür gilt es, Ressortinteressen von Innen- und Sozial­ministerien in Einklang zu bringen, um sichtbare Effizienzreserven zu heben.

Julia Schlüter ist Referentin Stationäre Versorgung im AOK-Bundesverband.
Franziska Weigel ist Referentin Versorgung im AOK-Bundesverband.
David Scheller-Kreinsen leitet das Referat Stationäre Versorgung, Rehabilitation im AOK-Bundesverband.
Jürgen Malzahn leitet die Abteilung Stationäre Versorgung, Rehabilitation im AOK-Bundesverband.
Bildnachweis: iStock.com/vm