Einwurf

Sterben gehört zum Leben

Es lohnt sich, zu Lebzeiten die eigene Sterblichkeit zu integrieren, sagt Johanna Klug. Die Sterbebegleiterin hat bei ihrer Arbeit auf der Palliativstation erfahren, dass dadurch die Angst vor dem Tod wie vor dem Leben abnimmt.

Porträt von Klug, Sterbe- und Trauerbegleiterin, Autorin, Journalistin und Speakerin

Sterben und Tod

sind Themen, die gesellschaftlich nicht gerne thematisiert werden. Dabei bringt das existenziellste Thema unseres Lebens nicht nur Schwere, Dunkelheit oder Deprimiertheit mit sich. Doch wenn wir mit dem Sterben direkt konfrontiert werden, ist es wie ein Spiegel, der uns zeigt: Auch Du wirst sterben. Das macht Angst. Das ist völlig normal, sogar ganz natürlich. Wir könnten gar nicht existieren, wenn wir uns ständig mit dem Gedanken beschäftigten, irgendwann zu sterben. Sollten wir uns also lieber gar nicht damit auseinandersetzen und die eigene Sterblichkeit aus unserem Leben ausklammern?

In unserer konsumgesteuerten Leistungsgesellschaft ist es ein Leichtes, genau das zu tun. Wir konsumieren schon längst nicht mehr nur Lebensmittel und Technik. Wenn wir ganz ehrlich sind, konsumieren wir auch Menschen. Begegnungen bleiben meist an der Oberfläche, die Angst und die Scham, sich verletzlich zu zeigen, sind zu groß. Also leben wir, als würden wir unendlich leben.

Doch irgendwann rückt das Ende näher. Und dann? Dann kommen die großen Fragen hoch: Wie habe ich mein Leben gelebt? Mit wem habe ich meine Zeit verbracht? Habe ich zu viel gearbeitet oder war ich auch viel mit meinen liebsten Menschen zusammen? Was ist mit meinen eigenen Bedürfnissen – war ich gut für mich da?

Den Tod als Bestandteil des Lebens anzuerkennen, verändert die eigene Perspektive.

Als Sterbebegleiterin auf der Palliativstation oder im Hospiz erfahre ich immer wieder diesen ganzheitlichen Ansatz: Es geht nicht nur um die medizinische Diagnose – auch spirituelle, soziale, psychische und physische Bedürfnisse werden einbezogen. Der Mensch ist kein Objekt, nicht der „Lungenkrebs auf Zimmer 12“, sondern er wird mit all seinen Gefühlen wahrgenommen und gesehen. Die Behandlung ist palliativ, nicht mehr auf Heilung ausgerichtet, und doch steht am Ende des Lebens so viel mehr im Vordergrund als das Sterben selbst.

Das wird deutlich am Beispiel von Marta, die ich auf der Palliativstation begleitet habe und von der ich in meinem aktuellen Buch berichte. Hier ein Auszug daraus: „Ist da nicht viel Traurigkeit in Ihnen?“, fragte ich, jedoch in Martas Ermessen wohl eine Spur zu direkt. Empört richtete sie sich auf und setzte ein selbstgefälliges Lächeln auf. „Das ist alles Ihr Empfinden. Sie haben so mit sich selbst zu tun. Ich wüsste gar nicht, wo ich Traurigkeit in mir hernehmen sollte. Es muss weitergehen. Ich schüttle alles ab. Das muss man. Anders geht’s nicht. Abschütteln.“ Dann presste sie mit zusammengekniffenen Zähnen hervor: „So lange wie es geht, alles zusammennehmen und durchgehen.“ Zaghaft setzte ich erneut an: „Ich habe aber trotzdem das Gefühl, als würden Sie versuchen, eine äußere Fassade aufrechtzuerhalten.“ Noch während ich sprach, sank Marta mehr und mehr in sich zusammen. Ihre Gesichtszüge wurden weich und verflossen mit den aufsteigenden Tränen. „Ja, das stimmt. Weil ich mein Leben lang schon so gelebt habe.“ (…) Durch einen Tränenschleier lächelte sie mich müde an. Unsere Hände fanden schweigend zueinander, verhakten sich und ließen nicht los. Schweigend saßen wir uns gegenüber, sahen uns an, und während Martas Lächeln immer wieder in laute Schluchzer umschwang, liefen auch mir still die Tränen hinunter.

Wie im Fall von Marta gibt es am Lebensende kein Zurück mehr. Warum könnte es sich also lohnen, zu Lebzeiten schon die eigene Sterblichkeit zu integrieren? Den Tod als Bestandteil unseres Lebens anzuerkennen, verändert die eigene Perspektive. Auch die Haltung, die wir uns selbst und anderen Menschen gegenüber einnehmen, verändert sich. Wir fangen an, Verantwortung zu übernehmen. Je mehr wir unseren eigenen bislang verdrängten Gefühlen und auch unserer Angst einen Raum geben, unser Leben neu ausrichten, veraltete Muster neu codieren, desto kleiner wird die Angst. Gleichermaßen vor dem Tod als auch vor dem Leben. Beides hängt eng miteinander zusammen. Denn am Leben zu sein heißt nicht, auch lebendig zu sein.

Johanna Klug ist Sterbe- und Trauerbegleiterin, Autorin, Journalistin und Speakerin. Sie veröffentlichte die Bücher „Mehr vom Leben“ und „Liebe den ersten Tag vom Rest deines Lebens“.
Bildnachweis: Hendrik Nix