Kindergesundheit

Debatte: Mehr Raum für Bewegung

Wer in jungen Jahren aktiv ist, lebt auch als Erwachsener gesünder, sagt Anna Philippi. Doch die Pandemie hat den Bewegungsmangel bei den Jüngsten verschärft. Um allen Kindern ein gesundes Aufwachsen zu ermöglichen, sieht die Politologin die Politik in der Pflicht.

Jedes Kind hat das natürliche Bedürfnis zu spielen,

zu toben und sich körperlich auszuprobieren. Doch unsere Kultur, also die Umstände, unter denen ein Kind aufwächst, steht diesem Bewegungsdrang entgegen. Das Resultat: Junge Menschen – und auch Erwachsene – bewegen sich immer weniger. Lange schon beobachten wir dieses Phänomen in westlichen Industriena­tionen mit Sorge. Die Pandemie hat den Trend verschärft.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler definieren Bewegung als körperliche Aktivität, die durch die Skelett­mus­kulatur hervorgebracht wird und mit einem höheren Energieverbrauch einhergeht. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt Kindern und Jugend­lichen, täglich mindestens 60 Minuten zu laufen, zu klettern oder radzufahren. Liegt die körperliche Aktivität regelhaft darunter, spricht man von einem Bewegungsmangel.

Schnelles Handeln gefragt.

In Deutschland erreicht nur ein Viertel der Kinder und Jugendlichen das erwünschte Mindestmaß an Bewegung. Hier gibt es deutliche Geschlechterunterschiede, eine unterschiedliche Verteilung zwischen den Altersgruppen und eine starke sozioökonomische Ungleichheit. Mädchen bewegen sich durchschnittlich 40 Minuten weniger pro Woche als Jungen. Ab elf Jahren zeigt sich dieser Unterschied noch deutlicher. Während im Grundschulalter 65 Prozent der Jungen und 38 Prozent der Mädchen die WHO-Empfehlungen erreichen, liegt der Anteil im Alter von 14 bis 17 Jahren nur bei 16 beziehungsweise sieben Prozent. Zudem sind Kinder und Jugendliche aus sozioökonomisch benachteiligten Familien häufiger von Bewegungsmangel betroffen. Darauf wies zuletzt die AOK-Familienstudie hin. Während 42 Prozent der Kinder aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status seltener als einmal die Woche Sport treiben, sind dies bei Familien mit hohem sozioökonomischem Status nur 25 Prozent.

In Deutschland bewegen sich nur ein Viertel der Kinder und Jugendlichen ausreichend.

Die Pandemie hat den Bewegungsmangel quer durch die Gesellschaft verschärft, wie die Ergebnisse des internationalen Bewegungszeugnisses 2022 der Technischen Universität München bestätigen: Nur etwa 13 bis 40 Prozent der Kinder und Jugendlichen erreichen demnach die Bewegungsempfehlung der WHO. Bewegungsmangel ist einer der größten gesundheitlichen Risikofaktoren. Gerade für jüngere Kinder ist es wichtig, dass sie ihrem natürlichen Bewegungsdrang folgen dürfen. Komplexe motorische Fähigkeiten müssen schon in jungen Jahren erlernt werden, damit sich kognitive Fähigkeiten richtig entwickeln können. Neben mangelnder körperlicher Fitness, einem schlechteren Immunsystem, Übergewicht und einem verringerten psychischen Wohlbefinden können auch eine Vielzahl von Erkrankungen die Folge sein: Haltungsschäden, Adipositas, Diabetes, erhöhter Blutdruck und Herzkrankheiten. Kinder und Jugendliche, die regelmäßig körperlich aktiv sind, führen auch als Erwachsene eher einen aktiven Lebensstil. Dass der kindliche Bewegungsmangel unser Gesundheitssystem vor enorme Herausforderungen stellen wird, liegt auf der Hand. Angesichts des demografischen Wandels muss Deutschland dieser Entwicklung entgegenwirken.

Koordinierte Zusammenarbeit.

Heranwachsende brauchen Möglichkeiten und Räume für Bewegung innerhalb von Kindergarten und Schule sowie im Alltag und der Freizeit. Um sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche zu erreichen, muss es niederschwellige und vielfältige Angebote geben. Es braucht neben einer „bewegten“ Routine im Schul- und Kitaalltag eine Verkehrsplanung, die aktives Transportverhalten ermöglicht, Räume für Jugendliche ohne definierte Ausübungsformen, Spielorte und mehr kostengünstige Vereinsangebote für lustvolles Sporttreiben ohne Verbesserungslogik.

Um Bewegungsförderung für junge Menschen flächendeckend und nachhaltig zu implementieren, benötigen wir eine koordinierte Zusammenarbeit verschiedener Akteure auf unterschiedlichen Steuerungsebenen. Die Politik muss Sport als Querschnittsaufgabe verstehen. Ein „Entwicklungsplan Sport“, wie er laut Koalitionsvertrag erarbeitet werden soll, kann nur dann seine volle Wirkung entfalten, wenn er alle Handlungs- und Politikfelder vereint.

Entscheidend ist, dass die Politik tatsächlich finanzielle Ressourcen zur Verfügung stellt. 500 Millionen Euro will der Bund dem organisierten Sport zugute kommen lassen. Laut Deutschem Olympischen Sportbund gibt es bei vereinseigenen Sportstätten jedoch 30 Milliarden Euro Sanierungsstau. Wollen wir jedem Kind ein gesundes Aufwachsen ermöglichen, muss der Staat sich mit allen Mitteln dafür einsetzen, dass junge Menschen ihrem natürlichen Bewegungsdrang folgen können.

Anna Philippi ist Leiterin der Sektion Wissenschaft/Wissenschafts­kommunikation der Stiftung Kindergesundheit.
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