Interview

„Nur Impfstoffe stoppen Pandemien“

In der Corona-Pandemie hat das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) die Entwicklung von Impfstoffen forciert. Jetzt managt es die Zusammenarbeit mit Vakzin-Herstellern. Um auf künftige Gesundheitskrisen vorbereitet zu sein, setzt der Präsident des Instituts, Klaus Cichutek, aber auch auf die europäische Koordination.

Herr Professor Cichutek, seit knapp anderthalb Jahren gibt es beim PEI das Zentrum für Pandemie-Impfstoffe und -Therapeutika (ZEPAI). Im ZEPAI-Konzept spielen Pandemiebereitschafts­verträge eine zentrale Rolle. Worum geht es dabei?

Klaus Cichutek: Man kann mit Maskentragen, Hygiene- und anderen Public-Health-Maßnahmen Pandemiewellen verzögern. Aber nur Impfstoffe können Pandemien stoppen und das Gesundheitswesen entlasten. Vorratshaltung macht bei Impfstoffen jedoch keinen Sinn, weil sie eine begrenzte Halbwertzeit haben. Deshalb hat sich die Bundesregierung entschlossen, Pandemiebereitschaftsverträge abzuschließen und das ZEPAI zu gründen. Im Mai 2022 wurden Verträge mit Impfstoffherstellern- und entwicklern unterzeichnet, die Deutschland für den Pandemiefall den Zugriff auf notwendige Impfstoff-Produktionskapazitäten sichern. Das ZEPAI managt diese Verträge.

Was beinhaltet dieses Management?

Cichutek: Das ZEPAI stellt sicher, dass die Vertragsanforderungen von den vertraglich gebundenen Unternehmen erfüllt werden, organisiert die Lagerung und prüft, ob die Voraus­setzungen vorliegen, dass im Pandemiefall schnellstmöglich millionenfach Dosen Pandemieimpfstoffe auf Basis verschiedener Plattformen bereitgestellt werden können.

Porträt von Prof. Dr. Klaus Cichutek  vom PEI

Zur Person

Prof. Dr. Klaus Cichutek arbeitet seit 1988 als Wissenschaftler in leitenden Funktionen für das Paul-Ehrlich-Institut. Seit Dezember 2009 ist der 1956 in Recklinghausen geborene Biochemiker Präsident des Instituts.

Unter dem Dach der EU-Kommission gibt es mit der European Health Emergency Response Authority (HERA) eine Einrichtung zur europaweiten Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen. Wie ist das ZEPAI in diese Arbeit ein­gebunden?

Cichutek: Wir brauchen nationale Zuständigkeitsbereiche, die auf europäischer Ebene bei Bedarf zentral koordiniert werden können. Das ZEPAI wurde beim PEI gewissermaßen als Mitgliedstaaten-Baustein für HERA eingerichtet. Wir leisten für Deutschland die Vorbereitung auf die Bekämpfung zukünftiger Pandemien und würden während einer Krise hierzulande die Distribution der Impfstoffe und weitere Maßnahmen über­nehmen. In anderen EU-Staaten sollten ähnliche Zentren entstehen und ein Netzwerk bilden. HERA könnte die gesamt­europäische Koordination übernehmen. So funktioniert die Arbeitsteilung auch bei der Arzneimittelregulation: Die EU-Arzneimittelagentur EMA ist eine koordinierende Geschäftsstelle, und die nationalen Arzneimittelbehörden leisten die inhaltlich-wissenschaftliche Arbeit.

Ist das ZEPAI auf Dauer angelegt?

Cichutek: Die Bundesregierung finanziert das Zentrum zunächst für fünf Jahre, dann laufen die Mittel aus. Wir können der Bundesrepublik nur wünschen, dass das Projekt danach weitergeführt wird, denn das Projekt ist notwendig, damit wir in Zukunft besser auf Pandemien vorbereitet sind. Wir waren alle stolz darauf, dass wir schon nach einem Jahr einen Pandemieimpfstoff zugelassen und verfügbar hatten. Das ist eine sehr kurze Zeitspanne für eine Impfstoffentwicklung. Aber wenn man gute Vorbereitungen leistet, kann man das zeitlich auch unterschreiten und das hält das Paul-Ehrlich-Institut für die Zukunft für notwendig.

Die Pandemie hat also generell das Entwicklungs- und Zulassungstempo bei Impfstoffen forciert?

Cichutek: Aus der Pandemie haben wir gelernt, dass es Möglichkeiten gibt, schneller vorzugehen. Das hängt aber größtenteils vom Entwickler ab, der auch die entsprechenden Untersuchungen schon überlappend machen muss statt hintereinander. Häufig wurde in der klinischen Entwicklungsphase von den Arzneimittelentwicklern erst das Ergebnis der Phase 1 abgewartet, dann ging es in Phase 2 und Phase 3. Das geht durch Kombinationsprüfungen der Phase 1/2 und der Phase 2/3 schneller, wenn thematisch möglich. Auch die Herstellung einer sehr großen Anzahl Impfstoffdosen vor der Zulassung war hilfreich, wozu es aber eine gewisse Risikobereitschaft der Entwickler braucht. Und nicht alle Entwicklungen durchlaufen problemlos alle Phasen der klinischen Prüfung und führen zur Zulassung. Es gibt viele Hindernisse und Möglichkeiten, dass ein Impfstoff oder ein Therapeutikum nicht funktioniert. Deshalb muss man die Balance wahren zwischen dem schnelleren Vorgehen bei der Entwicklung und der notwendigen Erfassung von Risiken. Für das Paul-Ehrlich-Institut kann ich feststellen, dass wir von unserer Seite keine Abstriche bei der Sicherheits- und Risikoprüfung der COVID-19-Impfstoffe gemacht haben und machen.

Können Sie dennoch verstehen, dass sich Menschen angesichts des Tempos der Impfstoffentwicklung Sorgen machen?

Cichutek: Die Sorgen waren zu Beginn nachvollziehbar. Aber inzwischen haben wir ja Erfahrungen mit hunderte Millionen, teilweise Milliarden verimpften Dosen der auch bei uns zugelassenen Covid-Impfstoffe. Und diese Erfahrungen zeigen weltweit, dass die Sicherheit der Impfstoffe sehr hoch ist. Die wenigen und sehr seltenen schwerwiegenden Nebenwirkungen haben wir im Verbund mit den Expertinnen und Experten der nationalen Arzneimittelbehörden bei der EU-Arzneimittelagentur EMA frühzeitig erkannt und in die jeweilige Produktinformation aufgenommen.

Das PEI hat von Anfang an über mögliche Nebenwirkungen der Corona-Impfungen informiert. Wie lautet das Resümee etwas über zwei Jahre nach Beginn der Impfungen?

Cichutek: Es hat viel mehr Verdachtsfallmeldungen zu Nebenwirkungen und Impfkomplikationen gegeben als gewöhnlich, weil ja auch millionenfach geimpft wurde. Und weil es neuartige Impfstoffprodukte waren, haben wir auch explizit dazu aufgerufen, Verdachtsfälle von Impfnebenwirkungen an das PEI zu melden. Wir bekommen spontane Verdachtsfallmeldungen, auch von geimpften Personen oder Eltern von geimpften Kindern und Jugendlichen. Ärztinnen und Ärzte sowie die Leiter und Leiterinnen von Apotheken, in denen geimpft wird, sind nach Infektionsschutzgesetz verpflichtet, uns ihre beobachteten gesundheitlichen Ereignisse nach Impfung zu melden. Das war für uns in Deutschland, aber auch in Europa und weltweit eine gute Basis zur Einschätzung der Impfstoffsicherheit. In Bezug auf die Reaktogenität – also das Auftreten von erwarteten Impfstoff-Nebenwirkungen in den ersten sieben Tagen, die keine Schäden hinterlassen – lässt sich sagen, dass die Corona-Impfstoffe deutlich reaktogener sind als beispielsweise die jährlich angebotenen Influenza-Impfstoffe. Das heißt, hier fällt zum Beispiel der Druckschmerz an der Injektionsstelle oder das Fieber schon mal etwas heftiger aus. Mit Blick auf schwerwiegende Nebenwirkungen können wir glücklicherweise sagen, dass diese sehr selten sind: unter zehn Fälle pro 100.000 Impfungen. Insgesamt liegen wir im Bereich, den wir auch von anderen Impfstoffprodukten kennen. Allerdings kann man Nebenwirkungen bei Impfstoffen nicht einfach vergleichen. Jeder Impfstoff hat seine generischen Charakteristika.

Ein anderes Thema: Das PEI bewirbt sich aktuell um die Zulassung als EU-Referenzlabor für In-Vitro-Diagnostika (IVD). Worum geht es dabei?

Cichutek: IVD werden in der EU durch privatwirtschaftliche Benannte Stellen zertifiziert und damit marktfähig. Das Verfahren der Konformitätsbewertung beruht in erster Linie auf Herstellerangaben. Bei den IVD geht es zudem darum, deren Leistungsfähigkeit experimentell zu prüfen und zu verbessern. Die EU-Verordnung über die IVD beinhaltet den Aufbau entsprechender EU-Referenzlabore. Das IVD-Prüflabor des PEI übernimmt schon seit mehr als 20 Jahren entsprechende Aufträge Benannter Stellen in Deutschland und führt auch Chargen­prüfungen durch. Unser umfassendes Know-how möchten wir künftig auch als EU-Referenzlabor zur Verfügung stellen.

Wie stehen die Chancen?

Cichutek: Hier bin ich guter Dinge. Bei der Bewältigung der Coronavirus-Pandemie haben wir mit unseren experimentellen Untersuchungen zur Leistungsfähigkeit der Sars-CoV-2-Antigen­schnelltests die Leistungsfähigkeit der Tests untersucht und transparent dargestellt. Im besten Fall entsteht ein Netzwerk von EU-Referenzlaboren mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Das PEI bewirbt sich insbesondere für IVD, die für die Blut­sicherheit notwendig sind und entsprechende Erreger betreffen, darüber hinaus für IVD im Bereich respiratorischer Viren, darunter Sars-CoV-2.

Die Ampel-Koalition will ein Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit schaffen. Würde das PEI in ein mögliches Aufgabenkarussell zwischen den Bundesoberbehörden unter dem Dach des Bundesgesundheitsministeriums einbezogen?

Cichutek: Nein. Das Paul-Ehrlich-Institut hat einen klaren gesetzlichen Auftrag und Rahmen. Ich kenne keine Überlegungen, an unseren Zuständigkeiten etwas zu ändern. Wir sind fest eingebunden in das Netz der nationalen Arzneimittelbehörden in Europa, die in der koordinierenden Europäischen Arzneimittelagentur-Geschäftsstelle zusammenarbeiten. In der EU sind wir als Paul-Ehrlich-Institut seit mindestens einem Jahrzehnt führend bei Impfstoffen und Biomedizin. Damit sind wir ein wichtiger Standortfaktor für Deutschland und Europa.

Stichwort Standortfaktor: Die Pharmaverbände klagen über schlechte Produktions- und Forschungsbedingungen in Deutschland und Europa. Aus Sicht der Krankenkassen rufen Hersteller für Neuentwicklungen immer häufiger „Mondpreise“ auf. Überdreht die Industrie?

Cichutek: Da möchte ich doch etwas Trennschärfe hineinbringen: Zum einen erleben wir im Biomedizinbereich in den vergangenen zehn Jahren ein enormes Hoch. Die beim Paul-Ehrlich-Institut gestellten Anträge auf Genehmigung klinischer Prüfungen haben stetig zugenommen. Im Moment haben wir im Vergleich zu der Anzahl klinischer Prüfungen von klassischen pharmazeutischen Wirkstoffen ein Plateau erreicht. Das ist aber vielleicht der Pandemie geschuldet. Die Biomedizin bringt weiter sehr gute Entwicklungen hervor. Zum anderen: Der Pharmaindustrie und den akademischen Antragstellern geht es allgemein darum, administrativ entlastet zu werden. Das unterstützen wir von unserer Seite. Auch die Politik kann da sicher an den gesetzlichen Rahmenbedingungen oder an der praktischen Vorgehensweise das eine oder andere nachschärfen. Die Industrie vergleicht die Bedingungen weltweit, und Europa ist hier in den vergangenen Jahren zurückgefallen. Es gilt aus meiner Sicht aber, die Rahmenbedingungen auf allen Ebenen zu verbessern: von der Forschungsförderung über unsere Genehmigungsvorgänge und die Bedingungen für klinische Prüfungen bis hin zu den Herstellungsstätten für klinisches Prüfmaterial.

Also geben Sie im Grundsatz der Pharmabranche recht?

Cichutek: Ich sehe eine Problematik, für die wir Lösungen finden müssen. Die Unternehmen müssen gesicherte Rahmenbedingungen vorfinden. Um auch neue Entwicklungen anstoßen zu können, müssen sie mit innovativen, zulassungsfähigen Entwicklungen Gewinne machen. Aber es muss die Balance gewahrt werden zwischen den finanziellen Möglichkeiten unseres Gesundheitssystems und dem, was Unternehmen sich vorstellen. Hier wurde in bestimmten Bereichen manchmal etwas überzogen. Die entsprechenden Player sollten sich zusammensetzen und überlegen, welche Verbesserungen möglich sind, damit auch in Deutschland und Europa wieder Arzneimittelentwicklungen spitzenmäßig vorangetrieben werden. Mit Blick auf einen steigenden Anteil älterer Menschen in der Gesellschaft sollten wir dabei neben Pandemie-Gefahren die großen Blockbuster-Themen im Auge behalten: neue Therapiemöglichkeiten für Krebs, kardiovaskuläre, Neuro- und Autoimmunkrankheiten. Da haben wir durch Arzneimittelentwicklungen gute Chancen, den Menschen ein langes gesundes Leben zu ermöglichen. Diese Gelegenheit sollten wir wahrnehmen und auch denen dankbar sein, die sich darum kümmern, diese Arzneimittel zu entwickeln. Und vielleicht auch denen, die gewährleisten, dass sie gut und sicher sind.

Thomas Rottschäfer führte das Interview. Er ist freier Journalist mit dem Schwerpunkt Gesundheitspolitik.
Bildnachweis: T. Jansen/PEI