Einwurf

Dem Umfeld die Augen öffnen

Die meisten Menschen halten sexuellen Kindesmissbrauch in ihrem Umkreis für unmöglich, sagt Kerstin Claus. Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung will für das Thema sensibilisieren und Hilfsangebote bekannter machen.

Porträt von Kerstin Claus, Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM)

In jeder Schulklasse

in Deutschland gibt es statistisch gesehen ein bis zwei Kinder, die sexueller Gewalt ausgesetzt sind oder waren. Fast 90 Prozent der Deutschen wissen, dass sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche insbesondere in der Familie, im Freundes- und Bekanntenkreis stattfindet. Aber: 85 Prozent – und das ist bemerkenswert – halten es für unwahrscheinlich oder sogar ausgeschlossen, dass es in ihrem eigenen Umfeld passiert. Zu diesem Ergebnis kommt eine Forsa-Umfrage, die 2021 durchgeführt wurde. Die Grundüberzeugung, die aus diesem Ergebnis spricht, ist: „Natürlich gibt es sowas – aber nicht bei uns!“ Die Vorstellung, dass sexuelle Gewalt nur woanders stattfindet, dient verständlicherweise der eigenen Beruhigung, kann aber blind machen für möglichen Missbrauch im eigenen Umfeld.

Um darüber aufzuklären, dass sexuelle Gewalt nicht nur woanders, sondern auch ganz in der Nähe passieren kann, haben Bundesfamilienministerin Lisa Paus und ich im November 2022 die Kampagne „Schieb den Gedanken nicht weg!“ gestartet. Der bisherige Verlauf ist überaus positiv: Eine erste Auswertung hat ergeben, dass sieben Prozent mehr als vor der Kampagne es für möglich halten, dass sexuelle Gewalt im nahen Umfeld der eigenen oder persönlich bekannter Kinder passieren kann. Das zeigt, dass die Strategie, Erwachsene zu adressieren, die bisher mit dem Thema sexuelle Gewalt wenig bis gar nichts zu tun gehabt haben, erfolgreich sein kann.

Kinder können ihre Familie nicht einfach verlassen wie einen Sportverein.

Die Kampagne nutzt dafür familiäre Regeln, die allen bekannt sind und die durch wichtige Fragen bewusst gestört werden. Der typische Satz, Kinder sollen nicht mit Fremden mitgehen, wird mit der Frage begegnet: „Und wenn es gar kein Fremder ist?“ Der Rat von Erwachsenen „Mach niemandem die Tür auf!“ wird mit der Gegenfrage „Und wenn die Gefahr schon drinnen ist?“ beantwortet. Die Kampagne verdeutlicht auch: Es gibt keinen idealeren Tatort als die Familie, das Zuhause. Hier haben Täter oder Täterinnen die Möglichkeit, die Familie nach außen abzuschotten und den Anschein von Normalität aufrechtzuerhalten. Und: Kinder können ihre Familie ja nicht einfach verlassen wie zum Beispiel einen Sportverein. Kinder bleiben der sexuellen Gewalt in der Familie oft über einen langen Zeitraum ausgeliefert.

Mit einer Online-Befragung unter 2.200 repräsentativ ausgewählten Personen wurde, nachdem die Kampagne circa vier Wochen lang zu sehen war, ausgewertet, ob und wie sie gewirkt hat. Die Ergebnisse sind überaus positiv: Mit der ersten bundesweiten Verbreitung wurden bereits insgesamt 44 Prozent der Zielgruppe erreicht. Rund Zweidrittel der Befragten (65 Prozent) gaben an, den Hinweis auf das „Hilfe-Portal Missbrauch“ wahrgenommen zu haben. Der Gedanke, dass Missbrauch Kindern aus der näheren Umgebung widerfahren kann, wurde von sieben Prozent mehr als vor der Kampagne zugelassen.

Um gegen die Abwehrreaktion „Aber nicht bei uns!“ anzugehen, wird die Kampagne auch in diesem Jahr fortgesetzt. Der Schwerpunkt liegt nun darauf, die bereits erzielten Erfolge nachhaltig zu sichern. Anfang des Jahres wurde ein Kampagnenbüro eingerichtet, das für alle Organisationen, Einrichtungen, Verbände, Vereine oder engagierte Bürgerinnen und Bürger unterstützend zur Verfügung steht. Mit Broschüren, Plakaten, Flyern, Webbannern oder Spots wird Handlungswissen verbreitet – ein Rüstzeug für den Fall, dass Missbrauch im eigenen Umfeld passiert. Es ist nicht einfach, sich zu vergegenwärtigen, dass Kinder sexuell missbraucht werden. Die Vorstellung ist unangenehm. Das hat auch damit zu tun, dass wir oft zu wenig über das Thema wissen. Wenn wir uns damit beschäftigen, erfahren wir, wie wir handeln können. Das gibt mehr Sicherheit. Wir wollen – unter anderem mit der Kampagne – vermitteln: Du kannst den Gedanken zulassen, dass es Missbrauch in der eigenen Umgebung geben kann. Denn Du weißt jetzt, was zu tun ist.

Kerstin Claus ist seit April 2022 die Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM).
Bildnachweis: Barbara Dietl