Interview

„Kassengelder nur für Versicherungsleistungen einsetzen“

Mit Prof. Kerstin von der Decken führt eine Juraprofessorin das Ministerium für Justiz und Gesundheit in Schleswig-Holstein. Bei den bevorstehenden Umwälzungen im Gesundheitssektor pocht sie darauf, dass die Stimme der Länder gehört wird. Unter anderem setzt die CDU-Politikerin auf mehr Prävention und hält auch eine höhere Eigenbeteiligung für bedenkenswert.

Frau Ministerin von der Decken, Sie sind seit elf Monaten im Amt. Wie ist es für Sie, sich in die Tiefen und Untiefen des Gesundheitswesens zu begeben?

Kerstin von der Decken: Es ist großartig, mich diesem so wichtigen Bereich widmen zu dürfen, der sich stark im Umbruch befindet. Ich muss ja keine Ärztin sein, um mich um die Gesundheitsversorgung im Land kümmern zu können, sondern ich muss Strukturen und Rechtsnormen verstehen und mich mit den Akteuren austauschen. Als Juristin habe ich die Fähigkeit, mich schnell in alles einzuarbeiten. Das mache ich in diesem Bereich mit wachsender Begeisterung und all meinem Elan.

Der wird wohl auch bei der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gebraucht, deren Finanzperspektive für 2024 recht düster ausfällt. Was sind für Sie hier Stellschrauben für die Zukunft?

Von der Decken: Wir müssen uns anschauen, was über Beiträge finanziert werden soll und was über Steuern. Die Pauschalen für die Bürgergeld-Empfänger etwa passen nicht ins GKV-System und sollten aus Bundesmitteln getragen werden. Wir müssen aber realistisch sein: Die Menschen werden immer älter. Das bedeutet, dass sie mehr medizinische Leistungen in Anspruch nehmen. Zudem gibt es weniger junge Menschen, die in die GKV einzahlen. Auch sinkt die Zahl derjenigen, die Leistungen erbringen. Gleichzeitig werden diese Leistungen immer kostenintensiver, weil sie besser werden. Wir müssen uns also Gedanken machen, wie wir mehr Gelder in die GKV bekommen und zugleich damit wirklich auch nur Versicherungsleistungen bezahlen.

In diesem Zusammenhang wird in Ihrer Partei über mehr Eigen­beteiligungen und eine Wiedereinführung der 2013 abgeschafften Praxisgebühr nachgedacht …

Von der Decken: Ich hatte den Eindruck, dass sich die Menschen damals an die Praxisgebühr gewöhnt hatten. Die Summe war auch nicht so horrend, dass sie davon abgehalten hätte, eine medizinische Leistung in Anspruch zu nehmen. Selbst wenn sie keine große Steuerungswirkung hat, könnte durch eine Praxisgebühr mehr Geld ins System gelangen. Sie war ein gutes Instrument und wäre eine Überlegung wert. Oder die bereits geltenden Eigenbeteiligungen etwa bei Klinikaufenthalten und Medikamenten könnten vielleicht etwas höhergeschraubt werden. Bei der privaten Krankenversicherung kann zwischen verschiedenen Arten und Höhen der Eigenbeteiligung gewählt werden. Wir sollten darüber nachdenken, ob so etwas auch für die gesetzliche Krankenversicherung infrage kommt. Unbedingt müssen wir Prävention stärken, denn Vorsorge ist besser, als später kurativ einzugreifen.

Wo sollte beim Thema Prävention mehr getan werden?

Von der Decken: Es gibt zwei Felder die zusammengehören: die körperliche und die psychische Gesundheit. Die psychische Gesundheit ist aus meiner Sicht bislang vernachlässigt worden. Dabei nehmen seelische Leiden immer mehr zu, gerade auch bei Jüngeren. Wir müssen diesen Bereich daher stärker ins Visier nehmen. Die Vorsorge gegen physische und psychische Erkrankungen darf auch nicht erst beginnen, wenn Menschen 50 sind. Viele Projekte zeigen, wie wichtig es ist, Kindern zum Beispiel eine gesunde Ernährung beizubringen.

Die Akademisierung der Pflege ist gut, weil Pflege ein anspruchsvoller Beruf ist.

Für die Altenpflege und somit auch für die Pflegereform ist in Ihrer Landesregierung das Sozialministerium zuständig. An Sie aber die Frage: Was ist zu tun, um die Attraktivität des Pflegeberufs zu erhöhen?

Von der Decken: Das eine Element ist die Bezahlung, wo zum Glück in den vergangenen Jahren sehr viel geschehen ist, auch in der Ausbildung. Das andere, besonders wichtige Element sind die Arbeitsbedingungen. In der Regel sind in diesem Sektor Menschen mit einer großen Empathie, großer Mitmenschlichkeit und dem Willen, sich für andere einzusetzen, tätig. Sie werden jedoch immer wieder mit der Realität konfrontiert und stellen fest, dass sie nicht das machen können, was sie machen wollen, da sie mit anderen Dingen belastet sind, etwa Bürokratie. Oder bestimmte Tätigkeiten entsprechen nicht ihrer Qualifikation. Es müssen daher attraktivere Arbeitszeitmodelle und neue Formen der Pflege geprüft werden.

Hat sich die generalistische Pflegeausbildung bewährt? Die Zahlen der Auszubildenden sind ja zurückgegangen …

Von der Decken: Die Ansichten gehen da auseinander. Aus meiner Sicht ist es noch zu früh, ein abschließendes Urteil zu treffen, denn die neue Ausbildung ist erst 2020 gestartet. Durch Corona standen Schulen und Ausbildungsstätten vor enormen Herausforderungen. Es ist aber wichtig, die im Gesetz vorgesehene Evaluation sehr ernst zu nehmen. Die Ergebnisse werden zeigen, ob wir nachsteuern müssen.

Wie wichtig ist für Sie die weitere Akademisierung der Pflege?

Von der Decken: Die Akademisierung der Pflege ist gut, weil Pflege ein anspruchsvoller Beruf ist. Der Wissenschaftsrat fordert eine Akademisierungsquote von zehn bis 20 Prozent. Davon sind wir noch weit entfernt. Wir haben also noch einige Aufgaben vor uns. Allerdings dürfen wir nicht zu viel akademisieren. Wir brauchen auch Menschen, die mit einer relativ niedrigen Qualifikation trotzdem mit Empathie und Mitgefühl für andere da sind. Daher müssen wir auch bei der Ausbildung für Pflegehilfskräfte eine Schippe drauflegen. Hier sollte bundesweit mehr geschehen.

Einem großen Umbruch soll die Kliniklandschaft unterzogen werden. Was muss für Sie am Ende der laufenden Reformverhandlungen auf jeden Fall stehen?

Von der Decken: Zum einen brauchen wir unbedingt die geplante neue Art der Krankenhausfinanzierung – weg von reinen Fallpauschalen hin zu Vorhaltepauschalen kombiniert mit Fallpauschalen. Das ist unstrittig und verfassungsmäßig klar in der Hand des Bundes. Für mich ist zudem essenziell, dass die Planungshoheit der Länder gewahrt wird. Das ist notwendig, wie ja auch das von Bayern, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein in Auftrag gegebene Rechtsgutachten zeigt. Wir sind bereit, bei den Leistungsgruppen zwischen den Ländern zu einer gewissen Vereinheitlichung zu kommen. Was nicht geht, wäre eine Vorgabe vom Bund, dass etwas auf bestimmten Leveln angeboten werden soll und auf anderen Versorgungsstufen nicht. Die Grund- und Notfallversorgung wollen wir in der Fläche erhalten, aber Spezialbehandlungen können an deutlich weniger Standorten konzentriert werden. Ich sage ganz klar: Was wo angeboten wird, kann nicht der Bund regeln, sondern das muss jedes Land für sich entscheiden.

Welche Zukunft haben die vielen kleinen Krankenhäuser?

Von der Decken: Die bevorstehenden gewaltigen Umbrüche bedeuten nicht, dass es zu einem massiven Kliniksterben kommt. Es wird Umstrukturierungen geben und Standorte werden zusammengelegt. Das machen wir in Schleswig-Holstein schon jetzt, zum Beispiel in Flensburg. Warum sollen dort mehrere Kliniken dieselben Leistungen anbieten? Das alles bedeutet nicht, dass es schlechter wird. Es wird anders.

Wer soll den Umbau finanzieren?

Von der Decken: Die Reform wird auf jeden Fall teuer, weil wir Kliniken ausbauen müssen und andere zurückbauen. Nicht ganz unrealistische Schätzungen kommen für ganz Deutschland auf eine Summe von 100 Milliarden Euro. Wir brauchen daher einen neuen Strukturfonds, wie ihn auch die Reformkommission angeregt hat. Das bedeutet nicht, dass der Bund alles finanzieren soll. Aber wir Länder schaffen es nicht allein.

Ein privates Krankenhaus ist nicht per se etwas Schlechtes.

Wie zuversichtlich sind Sie, dass zur Klinikreform ein Konzept bis zur Sommerpause steht?

Von der Decken: Das hängt vom Bund ab. Er muss die Vorschläge der Länder aufgreifen. Notwendig ist ein Lösungsweg, der verfassungskonform ist und der den Ländern nicht die Planungshoheit nimmt. Unser Rechtsgutachten zeigt auf, bis wohin seine Befugnisse gehen. Eine Reform ist möglich und wir wollen sie alle. Wir Länder sind keine Bremser.

Wie groß ist das Problem des Ärztemangels in Ihrem Bundesland?

Von der Decken: Wir sind ein Land mit einer großen Fläche und vielen ländlich geprägten Regionen mit wenig Einwohnern. Wir haben etwa 1.900 Hausärzte, davon ist rund ein Drittel über 60 Jahre alt. Es ist nicht davon auszugehen, dass wir so viele Menschen in den Norden holen, dass eine Eins-zu-Eins-Wiederbesetzung möglich wird. Hinzu kommt der bundesweite Trend, wonach sich immer weniger Ärzte niederlassen. Eine Lösung sind Gemeinschaftspraxen oder Medizinische Versorgungszentren, in denen Ärzte als Angestellte arbeiten können – mit geregelten Arbeitszeiten und Teilzeitmöglichkeiten. Wir sind im Land dabei, entsprechende Schritte zu ergreifen.

Sie haben in Schleswig-Holstein keine Landarztquote. Geht es auch in Zukunft ohne?

Von der Decken: Eine Landarztquote ist meiner Ansicht nach nicht der richtige Weg. Ich finde es besser, Menschen dazu zu bewegen, aus Überzeugung zu kommen. Wir können ihnen dazu gute Arbeitsbedingungen und eine Perspektive bieten. Ein Mediziner ist dann glücklicher, bleibt länger und erbringt im Zweifelsfall bessere Leistungen als jemand, der über eine Quote gezwungen wird. In Schleswig-Holstein haben wir mit einer tollen Landschaft und der Küstennähe einiges zu bieten. Es gibt auch noch bezahlbaren Wohnraum.

Investoren aus aller Welt kaufen immer mehr Arztpraxen auf oder Kapitalgesellschaften übernehmen MVZ. Auch Krankenhäuser werden privatisiert. Besorgt Sie der Trend?

Von der Decken: Ein Krankenhaus muss nicht staatlich sein. Es kann kommunal oder vom Land betrieben werden, es kann privat oder gemeinnützig sein. Ein privates Krankenhaus ist nicht per se etwas Schlechtes. Häufig handelt es sich um eine Einrichtung, die in Insolvenz gegangen ist und nun einen Käufer gefunden hat. Auch von den MVZ sind in Schleswig-Holstein die meisten in privater und nur wenige in kommunaler Trägerschaft. Das Interesse der Kommunen wächst aber. Das Problem ist auch hier nicht die private Trägerschaft an sich, sondern wenn beispielsweise ausländische Investoren schnelles Geld machen wollen. Sie haben gemerkt, dass etwa die Verlagerung von Leistungen und deren Bündelung an bestimmten Orten lukrativ sein kann. Hier geht es dann nicht um die medizinische Versorgung, sondern um eine möglichst hohe Rendite. Wir haben deshalb zusammen mit anderen Bundesländern eine Bundesratsinitiative gestartet. Der Bund wird aufgefordert, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit sich eine MVZ-Übernahme allein aus Kapitalgründen nicht mehr lohnt. Sie soll vielmehr für die medizinische Versorgung einen Mehrwert bringen.

Thorsten Severin führte das Interview. Er ist Redakteur der G+G.
Stefan Boness ist freier Fotograf.
Bildnachweis: Stefan Boness/IPON