Deutschlands Operationssäle sind offenbar eine riesige Black Box.
Stationäre Versorgung

Licht an im OP!

Eine mangelhafte Arbeitsorganisation führt in Operationssälen zu Leerlauf. Der Verband für OP-Management forderte auf seinem jüngsten Kongress Kliniken auf, für Transparenz zu sorgen, um die Abläufe zu verbessern. Von Jörn Hons

Der 76-jährige Patient

liegt seit Punkt acht Uhr im OP-Saal im Tiefschlaf. Er soll eine neue Hüfte bekommen. Anästhesistin, Anästhesiepfleger, der Assistenzarzt, der Funktionsdienst mit der instrumentierenden OP-Assistentin und dem „Springer“ warten – und warten. Seit kurz nach acht Uhr haben sie drei bis vier Mal auf der Station angerufen: Wo denn der Chirurg bleibt? Schließlich erscheint der Operateur – und beginnt um 8.45 Uhr endlich mit dem ersten Schnitt.

Eine Ausnahme? Wohl eher Alltag in vielen der 1.900 Krankenhäuser in Deutschland, glaubt man den rund 400 Expertinnen und Experten, die sich im Frühjahr vor Ort und virtuell beim Kongress des Verbands für OP-Management (VOPM) in Bremen getroffen haben. OP-Manager und OP-Personal, das wurde auf der Tagung deutlich, fühlen sich allzu oft zerrieben zwischen Erwartungen und Anforderungen an ein gutes Management der Operationen – weil sie vieles in ihrem Arbeitsalltag nicht selbst beeinflussen können.

Zwar beschäftigt jedes Krankenhaus OP-Manager – oft Anästhesisten, Chirurgen, Operationstechnische Assistenten oder Anästhesietechnische Assistenten mit entsprechender Fortbildung. Dennoch werde das OP-Management, so Matthias Diemer, Vorsitzender und Mitgründer des VOPM, immer noch nicht als entscheidende Größe für eine effektive und wirksame Krankenhausleistung anerkannt. Dabei finde die zentrale Aufgabe von Krankenhäusern in den Operationssälen statt. „Die Intransparenz, was in und um die Operationen herum geschieht, muss endlich ein Ende haben“, forderte Diemer auf dem Kongress. Er leitet als Chirurg selbst das OP-Management der Charité in Berlin.

Störfaktoren vermeiden.

Bei rund 15 Millionen Operationen pro Jahr in Deutschland gibt es nach seiner Aussage eine Vielzahl von unnötigen, weil vermeidbaren Störfaktoren, die einen geregelten Ablauf verhindern oder erschweren. Das wiederum koste nicht nur viel Zeit und Geld in den teuren OP-Sälen, sondern frustriere und erschöpfe das Personal und verschärfe damit den Fachkräftemangel. Der fehlende Operateur ist ein Beispiel, ebenso aber auch der fehlende Patient, der erst eine halbe Stunde später als geplant anästhesiert werden kann.

Denn jemand hat schlicht vergessen, dem Transportdienst Bescheid zu geben. Oder die Unterlagen sind nicht vollständig. Oder wichtige Laborwerte sind an diesem Morgen nicht aktuell ermittelt worden. Derweil stehen sechs hochqualifizierte Mitarbeiter untätig im Saal herum – in ihrer OP-Kleidung, aber ohne Patienten.

Auszug aus dem Leitbild des Verbands für Operations-Management:
[…] Nicht das Interesse der einzelnen Berufsgruppen steht im Vordergrund, sondern das übergeordnete Bewusstsein, eine optimierte medizinische Versorgung trotz knapper personeller und kapitaler Ressourcen zu ermöglichen. Es ist der Gedanke der Effizienz. Das OP-Management hat die Aufgabe, diesen Gedanken der Effizienz durch eine Arbeitsorganisation umzusetzen. Dabei bedient es sich der Kenntnis der medizinischen Verfahren mit der besonderen medizinischen Verantwortung für den Patienten, sowie der Erkenntnisse aus der Ökonomie und verwandter Disziplinen. Das Profil des OP-Managers fordert […] neben der medizinischen Fachkompetenz und klinischen Erfahrung ein zunehmendes Wissen aus Ökonomie, Qualitäts- und Prozessmanagement. Eine besondere Bedeutung liegt in der Kenntnis von Managementstrukturen, der Personalentwicklung, Arbeitsorganisation und dem Wissen um die Organisation von Veränderungen, dem „Change-Management“. […]

Quelle: vopm.de

Gibt es keine Standards, keine erprobten Abläufe, keine festen Regeln, an denen sich alle OP-Teams in den Kliniken orientieren und an die sie sich halten müssen? „In vielen Bereichen leider nein“, sagt Diemer. So sei etwa die Personalausstattung bei identischen Operationen zwischen den Kliniken zu unterschiedlich. „Es gibt keine allgemein anerkannte Berechnungsgrundlage für die Funktionsdienste im OP“, sagt er, „es gibt hier nur das Tarifrecht.“ So kann es sein, dass sich bei einfacheren ambulanten Operationen unnö­tig viele OP-Dienste im Saal befinden, während bei komplizierten Eingriffen dann die Not groß ist, ausreichend qualifiziertes Personal an den Tisch zu bekommen. Unter anderem, weil ihre Dienstzeit gerade abgelaufen ist.  

Vergleichsdaten nutzen.

Wie lang ist zum Beispiel die Schnitt-Naht-Zeit, also die Zeit zwischen Beginn und Ende einer Operation? Bei vielen Routine-Eingriffen sollte sie ähnlich sein. Doch ob das so ist, ist nicht bekannt, denn aktuell vergleicht nur eine Minderheit von Kliniken in Deutschland solche Daten miteinander. Nur rund 300 von 1.900 Krankenhäusern nutzen die Daten, die etwa das Hamburger Softwarehaus digmed aufbereitet. Beispiel: Ein Uniklinikum, in dem 300 Gallenblasen-Operationen pro Jahr stattfanden, brauchte 126 Minuten pro Operation. Der Durchschnitt bei 6.000 bundesweit untersuchten Gallenblasen-OPs lag aber bei nur 86 Minuten, die besten Operateure brauchten sogar nur 63 Minuten. „Es heißt dann, die längere OP-Zeit in der Uniklinik resultiert daher, dass hier ja nur besonders kranke Patienten behandelt werden“, sagt Dr. Enno Bialas, Anästhesist und Geschäftsführer von digmed – er kennt die übliche Entgegnung auf solche Zahlen. Verdrängt werde dabei, dass seine Firma nur ähnliche Einrichtungen miteinander vergleiche, sagt er – in dem Fall Universitätsklinikum mit anderen Universitätsklinika.

Team-Time-out nicht selbstverständlich.

Wie sind die Wechselzeiten im OP, wie lange dauert also die Ausleitung des operierten Patienten, bis der nächste anästhesiert auf den OP-Tisch gelegt wird? Dazu fehlen umfassende Daten und valide Vergleiche, wo es hakt, wenn es viel Leerlauf gibt oder, im Gegenteil, immer viel zu hektisch zugeht.
 
Auch das sogenannte „Team-Time-Out“ ist offenbar selbst in einigen großen Häusern nicht selbstverständlich. Bei diesem Verfahren versammeln sich alle an der Operation beteiligten Personen direkt vor dem Eingriff um den Patienten. Der Operateur erklärt allen, welcher Patient operiert wird, wo die richtige Seite und der richtige Eingriffsort sind, ob der Patient richtig gelagert ist, wie hoch der Blutverlust vermutlich sein wird und ob die richtigen Implantate oder Spezialinstrumente bereitliegen. Wie viele Kliniken solche Team-Time-Outs als festen Bestandteil der Operationsroutine etabliert haben, darüber gibt es laut VOPM bisher keine Daten. „Allein aus Haftungsgründen müssten diese von der Weltgesundheitsorganisation empfohlene Methode eigentlich alle Kliniken strikt einhalten“, so Diemer.

Konflikte spiegeln Machtgefälle.

Ein wichtiger Faktor in der OP-Belegung ist zudem, wie gründlich die Eingriffszeit vom Operateur vorausgeschätzt wird. Zwar wird die OP-Zeit in vielen Kliniksystemen automatisch vorgeschlagen. Trotzdem weicht die tatsächlich eingetragene Zeit nicht selten davon ab. Ein häufiger Grund: Ein Arzt will seinen Patienten unbedingt noch an dem Tag auf den OP-Plan bekommen. Also trägt er für die Hüft-Endoprothese 45 Minuten ein – wohlwissend, dass dieser Eingriff in weniger als zwei Stunden nicht zu schaffen ist. Das wiederum verzögert das OP-Programm des ganzen Tages – und einem seit frühmorgens nüchternen Patienten auf Station wird nachmittags mitgeteilt, dass etwas dazwischengekommen sei und er erst am nächsten Tag drankomme. „Viele Schätzungen sind einfach nur beschämend“ und „Wir haben eine allgemeinchirurgische Abteilung, die grottenschlecht plant“, so lauteten denn auch etliche Stimmen in einem Workshop über dieses Thema.

Aber: Das diskutiere man im eigenen Haus besser nicht, das gebe nur Ärger. Aber es gibt auch die gegenteilige Erfahrung: „Wenn ein Mediziner erkennbar falsch plant, bekommt der am nächsten Tag keinen Saal von uns“, so schilderte es ein OP-Manager. Nach zwei bis drei solcher Vorfälle werde das dann besser.

In solchen Konflikten spiegele sich auch das Machtgefälle im OP, hieß es in den Experten-Diskussionen. In manchen Häusern begegnen die OP-Planer den medizinischen Chefärzten zwar auf Augenhöhe. Aber in vielen anderen Kliniken habe „immer der Ordinarius das letzte, entscheidende Wort“, klagte Professor Patrick Friederich, Anästhesie-Chefarzt der Münchener Klinik Bogenhausen.
 
Für den VOPM ist weder die Resignation noch die Konfrontation im Operationssaal erstrebenswert: Verbindliche, vorher festgelegte Regeln und Standards für alle Bereiche in der Klinik seien die beste und einzige Lösung für ein gutes Operationsmanagement. Und das sei mitentscheidend dafür, ob die geplante Krankenhausreform in Deutschland ein Erfolg werde oder nicht, hieß es auf der Tagung.

Besser managen.

Bis zu 35 Prozent des Gesamtbudgets von Krankenhäusern müssen laut VOPM für den OP-Bereich aufgewandt werden. Trotzdem sind die OP-Säle in Deutschland offenbar eine riesige Black Box. Niemand weiß bisher genau, was vor, während und nach den 15 Millionen Operationen in Deutsch­land geschieht. Ob die Planung und die Abläufe stimmen, ob das Personal gut und effektiv eingesetzt wird, ob man die Patienten so durch die Operationen führt, dass sie nicht unnötig belastet werden. Die Daten sind da. Es will sich aber nur eine Minderheit unter den Kliniken mit anderen vergleichen und lernen, wie besseres Management aussieht. In Zeiten von Fachkräftemangel und Krankenhäusern mit tiefroten Zahlen ist das nicht hinnehmbar. Die Kosten für Beitrags- und Steuerzahler, in erster Linie aber für die Patienten und die Beschäftigten in den Operationssälen sind dafür zu hoch. Also: Licht an im OP!

Jörn Hons ist Pressesprecher der AOK Bremen/Bremerhaven.
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