Heilpflanzen

Mehr Schutz für den Schatz der Natur

Etwa die Hälfte der weltweit zugelassenen Arzneimittel beruht auf Naturprodukten, betont Dr. Spyros Theodoridis. Der Wissenschaftler empfiehlt, Heilpflanzen besser zu erforschen und ihren Lebensraum zu schützen.

Seit der Altsteinzeit

vor 2,5 Millionen Jahren ist die biologische Vielfalt die wichtigste Ressource der Medizin. Aus antiken Kulturen wie der chinesischen, indischen, ägyptischen, griechischen und römischen sind Texte zu hunderten von Heilpflanzen überliefert, mit denen im Alltag verschiedene Krankheiten behandelt wurden. Auch heute, wo die meisten Arzneistoffe Produkte der synthetischen Chemie sind, basieren gängige Mittel wie Aspirin, Morphin und verschiedene Mittel der Chemotherapie auf Pflanzen. Etwa die Hälfte der weltweit zugelassenen Arzneimittel wird aus Naturprodukten gewonnen oder ist nach ihrem Vorbild entwickelt.

Doch obwohl Millionen von Menschen weltweit auf pflanzliche Mittel als Hauptmedikamentenquelle angewiesen sind, werden Heilpflanzen von den nationalen Gesundheitssystemen nicht genutzt. Laut Weltgesundheitsorganisation ist das größte Hindernis für ihren Einsatz in der medizinischen Grundversorgung der Mangel an wissenschaftlichen Nachweisen ihrer Sicherheit und Wirksamkeit – jenseits von traditionellem überlieferten Wissen. Das liegt zum einen daran, dass nicht ausreichend in die Erforschung von Heilpflanzen investiert wird. Nur etwa ein Prozent aller weltweit durchgeführten klinischen Studien beschäftigen sich mit pflanzlichen Arzneimitteln. Bislang argumentierte die Pharmaindustrie, pflanzliche Organismen seien chemisch zu komplex für die effiziente Erforschung ihrer medizinischen Eigenschaften und sicheren Anwendung. Angesichts der rapiden Entwicklung von Wissenschaft und Technik in den letzten Jahrzehnten ist dieses Argument jedoch nicht mehr haltbar. Wir verfügen heute über alle Möglichkeiten, um die medizinischen Eigenschaften von Pflanzen zu erforschen. Doch es fehlen immer noch die finanziellen Mittel. Die Frage ist, warum?

Bekanntheit steigert Nachfrage.

Die Antwort darauf ist komplex. Die nachhaltige und faire Gewinnung von natürlichen Heilpflanzen ist eine Herausforderung. Werden die medizinischen Eigenschaften einer Pflanze bekannt, steigt häufig die Nachfrage auf dem internationalen Markt und der natürliche Bestand wird übermäßig dezimiert. Ein Beispiel ist die Eibe (Taxus).

Der Erhalt der Ökosysteme muss im Fokus stehen, wenn wir das Potenzial von Heilpflanzen voll ausschöpfen wollen.

In den siebziger Jahren erlangte sie durch ihre krebshemmenden Eigenschaften Berühmtheit. In der Folge wurden jedoch weltweit viele Bestände durch übermäßiges Sammeln ausgelöscht. Ein jüngeres Beispiel ist das Eisenhutkraut beziehungsweise der Bergtee (Sideritis), ein bekanntes pflanzliches Mittel zur Behandlung von Husten, Erkältungen und Magenbeschwerden. In vielen Balkanländern ist Sideritis heute bedroht oder ausgestorben. Zwar existieren zahlreiche Kultur-Anbauflächen, aber viele Einheimische sind auf das Sammeln von Wildkräutern als Haupteinkommensquelle angewiesen. Zudem sind wild gesammelte Pflanzen oft von besserer Qualität. Hinzu kommen strenge internationale Bestimmungen für den Zugang zu genetischen Ressourcen und für den gerechten Ausgleich der Vorteile, die sich aus ihrer Nutzung ergeben. Sie erschweren internationalen Pharmaunternehmen den Zugang zu Heilpflanzen und Patenten und reduzieren so den Anreiz, in ihre Erforschung zu investieren.

Lebensraum bedroht.

Zu diesen Hindernissen kommen Bedrohungen durch den Klimawandel und den Verlust natürlicher Lebensräume. Erderwärmung und Klimaextreme wirken sich auf die Pflanzenphysiologie und die Produktion chemischer Substanzen aus, die für die medizinischen Eigenschaften verantwortlich sind. Viele Heilpflanzen sterben durch die Zerstörung ihrer Lebensräume aus. Die Abholzung der Wälder im Amazonasgebiet ist eine der Hauptursachen, dass viele Pflanzenarten, die als Arzneimittel geeignet wären, verschwinden, bevor wir sie überhaupt untersuchen können.

Angesichts dieser Herausforderungen mag eine umfassende Lösung für die nachhaltige Nutzung von Heilpflanzen unmöglich erscheinen. Und doch gibt es sie. Wir wissen heute, dass die medizinischen Eigenschaften von Pflanzen ein Ergebnis der Wechselwirkungen zwischen Pflanzen und ihren Ökosystemen sind. Der Erhalt dieser Systeme muss im Fokus stehen, wenn wir das Potenzial von Heilpflanzen voll ausschöpfen wollen. Ziel sollte es sein, die ökologischen Prozesse, die für die Bildung der natürlichen Arzneistoffe verantwortlich sind, besser zu verstehen. Dann wäre es möglich, sie in nachhaltigen Anbausystemen, beispielsweise regenerativer Landwirtschaft oder Permakultur, nachzuahmen. Eine nachhaltige und faire Nutzung von Heilpflanzen würde so nicht nur der menschlichen Gesundheit dienen. Sie würde zugleich die Natur schützen und lokalen Bevölkerungen eine Lebensgrundlage ermöglichen.

Spyros Theodoridis ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum Frankfurt.
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