Hilfsmittel

Kostenübernahme für Spezialrad?

Gesetzliche Krankenkassen dürfen gehbehinderte Menschen nicht nur auf eine Minimalversorgung mit Mobilitätshilfen verweisen. Bietet ein Hilfsmittel, wie ein spezielles Therapierad, wesentliche Vorteile, kann die Kasse zahlungspflichtig sein. Dies hat das Bundessozialgericht entschieden. Von Anja Mertens

Urteil vom 7. Mai 2020
– B 3 KR 7/19 R –

Bundessozialgericht

Krankenversicherte

haben einen Anspruch auf die Versorgung mit Hilfs­mitteln. Diese müssen aber erforderlich sein, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen (Paragraf 33 Sozialgesetzbuch V). Ein Anspruch besteht nur, wenn das begehrte Hilfsmittel ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist und das Maß des Notwendigen nicht überschreitet. Darüber hinausgehende Leistungen dürfen Krankenkassen nicht bewilligen (Paragraf 12 SGB V).

Die in den Rechtsnormen doch eher abstrakt formulierten Ansprüche führen immer wieder zu Rechtsstreitigkeiten. So auch im Falle einer gehbehinderten Frau, die zudem geistig behindert und auf dem Entwicklungsstand eines Kleinkindes ist. Um sich im Wohnviertel fortbewegen und ihren Gleichgewichtssinn trainieren zu können, hatte ihr der behandelnde Arzt ein Spezialtherapie-Rad verordnet.

Kasse lehnt Zahlung ab.

Ihre Krankenkasse lehnte die Übernahme der Kosten in Höhe von 7.697 Euro ab. Begründung: Das Rad diene dem Freizeitausgleich und sei zum Erschließen des Nahbereichs der Wohnung mit Blick auf ihre vorhandene Gehfähigkeit nicht erforderlich. Ein Schieberollstuhl reiche aus. Um den Gleichgewichtssinn zu fördern, stünden ihr andere Maßnahmen wie Krankengymnastik zur Verfügung.

Daraufhin klagte die Frau vor dem Sozialgericht und bekam Recht. Die Kasse müsse die Kosten übernehmen, weil das Hilfsmittel zur Vorbeugung einer drohenden Behinderung erforderlich sei. Ohne regelmäßige Nutzung des Spezial-Rads drohe die Verschlimmerung ihrer Gleichgewichts- und Koordinationsstörung. Das Landessozialgericht wies die Berufung der beklagten Krankenkasse zurück. Daraufhin legte sie Revision beim Bundessozialgericht (BSG) ein. Die obersten Sozialrichter hoben das Urteil auf und wiesen den Fall zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurück.

Welches Hilfsmittel das Erschließen des häuslichen Umfelds erleichtert, ist zu prüfen, so die Bundesrichter.

In seiner Begründung wies das BSG darauf hin, dass Versicherte dann einen Anspruch auf die Versorgung mit Hilfsmitteln hätten, wenn diese im Einzelfall erforderlich seien, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen und nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen seien.

Zur Vorbeugung einer drohenden Behinderung diene ein Hilfsmittel dann, wenn mit dessen Einsatz die Verschlimmerung der vorhandenen Behinderung verhütet oder eine neue Behinderung abgewendet werde. Dies sei vorliegend zwar nicht der Fall. Aber zum Ausgleich der bereits bestehenden Behinderung komme ein Anspruch auf die Versorgung mit dem Spezial-Rad in Betracht.Diesem Ausgleich diene ein Hilfsmittel dann, wenn es seinem Zweck entsprechend die Auswirkungen der Behinderung besei­tige oder mindere und damit ein Grund­bedürfnis befriedige. Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) müsse nicht jegliche Folgen einer Behinderung in allen Lebensbereichen ausgleichen. Ihre Leistungszuständigkeit bemesse sich daran, ob ein Hilfsmittel die Auswirkungen der Behinderung beseitige oder mindere und damit das allgemeine Grundbedürfnis nach einem möglichst selbstbestimmten und selbstständigen Leben befriedige. Zu den allgemeinen Grundbedürfnissen gehöre, sich im Nahbereich der Wohnung zu bewegen.

Bewegungsradius nicht zu eng fassen.

Maßgeblich für den von den gesetzlichen Krankenkassen zu gewährleistenden Behinderungsausgleich sei grundsätzlich der Bewegungsradius, den ein nicht behinderter Mensch noch zu Fuß erreichen könne. In den Nahbereich sei zumindest der Raum für die üblichen Alltags­geschäfte einzubeziehen, also Wege zum Einkauf, zur Post, zur Bank, zum Arzt, zur Therapie oder zur Apotheke. Dazu zählten aber auch Freizeitwege.

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Bei der Prüfung, ob ein Anspruch auf ein bestimmtes Hilfsmittel besteht, dürfe das Grundbedürfnis, den Nahbereich zu erschließen, nicht zu eng gefasst werden. Denn das Grundgesetz verbiete eine Benachteiligung (Artikel 3), und nach der UN-Behindertenrechtskonvention bestehe ein Recht auf Mobilität (Artikel 20). Deshalb sei zu prüfen, welche Ausführung eines Hilfsmittels das Erschließen des Nahbereichs vereinfache oder erleichtere. Hinzu komme gegebenenfalls die Prüfung, ob eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität notwendig sei, um andere Grundbedürfnisse wahrzu­nemen. Dabei sei dem Wunsch- und Wahlrecht des behinderten Menschen Rechnung zu tragen. Dies bedeute auch, dass die Leistung viel Raum zu einer eigenverantwortlichen Gestaltung der Lebensumstände lasse und die Selbst­bestimmung fördere.

Hinweis auf Rollstuhl reicht nicht.

Somit sei der Anspruch auf ein Hilfsmittel der GKV nicht von vornherein auf eine Basisversorgung beschränkt. Die Krankenkasse dürfe nicht pauschal auf eine Minimalversorgung – im vorliegenden Fall der Schieberollstuhl – verweisen. Ein Anspruch auf das begehrte Hilfsmittel könne bestehen, wenn es dabei helfe, das nahe Umfeld der Wohnung zu erschließen. Das begehrte Hilfsmittel sei geeignet, dem Wunsch der Versicherten nach einer erheblich verbesserten Mobilität zu entsprechen. Ein anderes ebenso geeignetes Hilfsmittel gebe es nach den Feststellungen des Landessozialgerichts nicht. Dass das Spezialrad auch Freizeitinteressen dienen könne, schließe den Anspruch nicht automatisch aus. Auch reiche der Verweis auf Krankengymnastik nicht als Ablehnungsgrund aus.

Anja Mertens ist Rechtsanwältin im Justiziariat des AOK-Bundesverbandes.
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