Interview

„Eine Stufe macht den Unterschied“

Die Wheelmap ist eine digitale Landkarte, in der rollstuhltaugliche Orte eingezeichnet sind. Ihr Erfinder Raúl Aguayo-Krauthausen erzählt, wie es zu der Idee kam und warum die Wheelmap gerade in Deutschland so dringend gebraucht wird.

Herr Krauthausen, was war der Auslöser für die Entstehung der Wheelmap?

Raúl Aguayo-Krauthausen: Immer wenn ich mich in meiner Studentenzeit mit Freunden irgendwo treffen wollte, stellte sich vorab die eine Frage: Kommen wir in den Laden überhaupt rein? Oder gibt es Stufen, die man mit einem Rollstuhl nicht überwinden kann? Ob Café, Bar oder Bücherei – ein Freund von mir hat irgendwann begonnen, sich in einer Kladde aufzuschreiben, an welchen Orten es einen barrierefreien Zugang gab. Wenn ich mir unsicher war, musste ich den Freund anrufen und nachfragen. Irgendwann dachten wir dann, dass eine allgemein zugängliche Karte hilfreich wäre, auf der die Rollstuhltauglichkeit von Orten in der Umgebung vermerkt ist. Das war die gedankliche Geburtsstunde von Wheelmap. Die eigentliche Umsetzung erfolgte dann über die von mir später mitgegründete Organisation Sozialhelden.

Portrait Raoul Krauthausen

Zur Person

Raúl Aguayo-Krauthausen ist Aktivist und Mitgründer von Sozialhelden e. V.
Krauthausen ist studierter Kommunikationswirt und Design Thinker und arbeitet seit über 15 Jahren in der Internet- und Medienwelt.

Deutschland ist ein hochentwickeltes Land. Ist eine solche Karte heutzutage wirklich nötig?

Krauthausen: Leider ja. Geht es um die Barrierefreiheit, ist Deutschland im Vergleich zum restlichen Europa das finsterste Mittelalter. Und es verändert sich kaum was. Solange es in Deutschland gesetzlich nicht geregelt ist, dass auch baulicher Altbestand barrierefrei zu sein hat, so lange werden wir auch die Wheelmap brauchen. Wir haben in Deutschland rund 1,6 Millionen Rollstuhlfahrer, die tagtäglich auf unüberwindbare Barrieren stoßen. Und ich rede jetzt gar nicht davon, ob die Eingangstür eines Ladens breit genug ist, dass man dort ohne größere Rangierarbeit hineinkommt, oder davon, dass in einem Restaurant der Gang zwischen den Tischen breit genug ist, um zu seinem Tisch zu gelangen. Zunächst mal geht es ganz schlicht darum, dass bereits eine einzige höhere Stufe für uns Rollstuhlfahrer den Unterschied macht, ob wir einen Ort überhaupt betreten können.  

Welche konkreten Auskünfte liefert die Wheelmap?

Krauthausen: Wie bei Google Maps kann man mit der Wheelmap gezielt den Ort eingrenzen, wo man hin will. Jeder kann kostenlos auf der Karte rollstuhlgerechte Orte suchen, die nach einem Ampelsystem gekennzeichnet sind. Der Zugang zum WC wird dabei noch extra bewertet. Ob Bank, Essen und Trinken oder Unterkunft – es gibt insgesamt zwölf Kategorien, nach denen man die Suchergebnisse filtern kann. Dieses Wissen ist übrigens nicht nur für Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer nützlich, sondern auch für Menschen, die mit einem Rollator oder einem Kinderwagen unterwegs sind.

Geht es um die Barrierefreiheit, ist Deutschland finsterstes Mittelalter.

Die Wheelmap ist interaktiv – das bedeutet, dass jeder Nutzer gleichzeitig auch selbst neue Orte in die Karte einstellen kann. Mit wenigen Klicks lässt sich bewerten, wie rollstuhltauglich ein Ort ist. Dabei können auch Fotos eingestellt werden, damit sich die Nutzer ein genaueres Bild von der Eingangssituation machen können.

Lassen sich die Daten der Wheelmap auch für andere Zwecke nutzen?

Krauthausen: Ja, denn wir machen ja für jeden sichtbar, wo Rollstuhlfahrer benachteiligt werden. Dieses Wissen nutzen wir beispielsweise in der Politikberatung, denn wir können mit der Wheelmap abbilden, wie rollstuhlfreundlich eine Gegend ist und wo es noch deutlichen Nachholbedarf gibt. Ziel der Wheelmap ist es aber auch, die Besitzer von nicht rollstuhlgerechten öffentlichen Orten auf das Problem aufmerksam zu machen. Sie sollen dazu angeregt werden, über die Barrierefreiheit in ihren Räumen nachzudenken und diese zu verbessern. Da ist es sicher hilfreich, wenn man auf der Karte sehen kann, dass in der unmittelbaren Umgebung andere Ladenbesitzer bereits etwas weiter sind.

Wie viele bewertete Orte gibt es bereits?

Krauthausen: Aktuell sind in Deutschland über 600.000 Cafés, Bibliotheken, Schwimmbäder und viele weitere öffentlich zugängliche Orte erfasst.

Und wie sieht es im Urlaub aus? Gibt es ähnliche Angebote auch im Ausland?

Krauthausen: Die Wheelmap ist kein deutsches, sondern ein globales Projekt. Rund 300.000 bewertete Orte liegen bereits außerhalb Deutschlands. Aber das wird sich ändern, jeden Tag kommen weltweit rund 300 neu gemeldete Orte hinzu, sogar auf Grönland gibt es bereits einen als rollstuhlfreundlich markierten Ort. Die Wheelmap-App kann man sich mittlerweile in 26 Sprachen downloaden. Wir haben sogar an Fans der TV-Serie „Star Trek“ gedacht – und eine Version auf klingonisch gemacht.

 

Dieser Beitrag stammt aus dem aktuellen G+G-Spezial „Offen für’s Digitale“. Das vollständige Spezial finden Sie hier.

 

Otmar Müller führte das Interview. Er ist freier Journalist in Köln mit dem Schwerpunkt Gesundheitspolitik.
Bildnachweis: Melanie Wehnert | SOZIALHELDEN e.V.