Interview

„Mehr für den Opferschutz tun“

Schläge, Vernachlässigung, psychischer Druck: Gewalt gegen pflegebedürftige Menschen äußert sich vielfältig, ist aber immer noch ein Tabuthema, sagt Dr. Katharina Graffmann-Weschke. Die Pflegeexpertin baut beim Landeskriminalamt Berlin das Netzwerk „Gewaltfreie Pflege“ auf.

Frau Dr. Graffmann-Weschke, warum fokussiert die Polizei Gewalt in der Pflege?

Katharina Graffmann-Weschke: Gewalt in der Pflege ist seit vielen Jahren bekannt. Das Forschungsprojekt „Pflege als Risiko“ (PaRis) von der Deutschen Hochschule der Polizei und dem LKA Berlin, das bis Ende 2021 lief, hat den Handlungsbedarf konkret aufgezeigt und die Grundlage für die Arbeit des Netzwerkes geliefert.

Dr. Katharina Graffmann-Weschke, gelernte Krankenschwester, Ärztin und Gesundheitswissenschaftlerin

Zur Person

Dr. Katharina Graffmann-Weschke ist gelernte Krankenschwester, Ärztin und Gesundheitswissenschaftlerin. Sie hat im Bereich Prävention und Pflegeberatung für die AOK Nordost gearbeitet und gründete dort 2016 die AOK Pflege Akademie. Beim Landeskriminalamt Berlin, zu dem sie 2022 wechselte, baut sie zusammen mit einer Kollegin das landesweite „Netzwerk Gewaltfreie Pflege“ auf.

Wie viele Menschen werden in Deutschland Opfer?

Graffmann-Weschke: In der Polizeistatistik wird das noch nicht strukturiert erfasst. Aber wir kennen die Zahl der Pflegebedürftigen – rund 4,1 Millionen. Gewalt unter Menschen hört ja nicht einfach auf, nur weil sie älter werden. Die im PaRis-Projekt untersuchten rund 350 Fälle sind deshalb nur die Spitze des Eisbergs.

Was wurde herausgefunden?

Graffmann-Weschke: In drei Viertel der untersuchten Fälle ging es um Gewalt, wie Schlagen, grobes Anfassen. Die Gepflegten erlitten Hämatome, Kratzer und Abschürfungen, seltener schwerere Verletzungen, einzelne Fälle gingen auch tödlich aus. Vernachlässigungen wie mangelnde Versorgung oder Ernährung zählen aber auch zur Gewalt. Das geht oft auch mit psychischer Gewalt einher, also Beleidigungen und Bedrohungen, mitunter kommt es aber auch zu sexuellen Übergriffen.

Wer ist betroffen und wo spielt sich das ab?

Graffmann-Weschke: Die Opfer waren im Durchschnitt 78 Jahre alt – die Spanne reichte von 60 bis 101 Jahren. Die betroffenen Menschen, mehrheitlich Frauen, lebten sowohl im privaten Haushalt, als auch in stationären Einrichtungen oder betreuten Wohnformen.

Warum wurde das Netzwerk gegründet?

Graffmann-Weschke: Weil wir übergreifende Strukturen brauchen, in dem die Behörden und Professionen eng zusammenarbeiten, neben Polizei und Justiz etwa die Heimaufsicht, der Medizinische Dienst, Vertreter der Pflege, aber auch Politik und die Pflegekassen. Wir wollen die Akteure sensibilisieren, aber auch die Bevölkerung. Das Ziel ist es, nicht nur zu beraten, sondern Strukturen zu initiieren, um Ältere besser vor Gewalt zu schützen. Wir nehmen uns dabei an vielen Stellen ein Beispiel an der Arbeit des Kinderschutzes.

Warum ist Gewalt in der häuslichen Pflege noch ein Tabu?

Graffmann-Weschke: Es wird nicht viel öffentlich, weil schwer pflegebedürftige oder demente Menschen nicht für sich reden und ihre eigenen Rechte vertreten können. Aufklärung und Prävention sind deshalb wichtig. Wir werden die Gewalt aber nicht komplett abstellen. Es muss zukünftig gelingen im Pflegekontext noch sensibler und zielgruppenspezifischer zu ermitteln, denn Delikte an Schutzbefohlenen benötigen eine angemessene Strafverfolgung. Wir müssen auch mehr für den Opferschutz tun. Die Menschen müssen in eine Versorgungssituation kommen, in der ihnen keine Gewalt mehr zugefügt wird. Das geht bis zum Aufbau von Notunterkünften für akute Situationen.

Pflege im privaten Bereich kann immer wieder zu Überlastung und Überforderung führen. Wie erfolgreich können Polizei und Staatsanwaltschaft Gewalt-Vorfälle verfolgen?

Graffmann-Weschke: Wenn die Herausforderung Pflege über viele Jahre besteht, kann man sich vorstellen, dass es auch zu Konflikten führt. Da hoffen wir, dass in Berlin durch die Bekanntheit der Pflegestützpunkte oder auch durch Anlaufstellen wie „Pflege in Not“ die Menschen wissen, wohin sie sich wenden können. Die Polizei oder wir als Netzwerk können erst helfen, wenn wir von einem Vorfall erfahren. Und um es strafrechtlich zu verfolgen, muss man auch Beweise haben. Kürzlich gab es einen Fall, in dem eine Frau die meiste Zeit durch eine Nachbarin gepflegt wurde. Da war der beteiligte Pflegedienst so klug, Fotos von den blauen Flecken im Gesicht und an den Armen zu machen. Die Wachsamkeit des Pflegedienstes ermöglicht dann auch eine konkrete Zeugenaussage, welche hinter verschlossenen Türen sonst oft schwer zu erhalten ist.

Welche typischen Fälle gibt es noch?

Graffmann-Weschke: Mit meinem Pflegewissen kann ich Ermittlungen unterstützen. Die Schicksale, die ich tagtäglich bei uns im Kommissariat sehe, sind alle extrem unterschiedlich. Ein Beispiel ist auch die Tochter, die schon lange ihre Mutter pflegt. Sie hat dafür ihre Berufstätigkeit aufgegeben. Eines Tages schlägt sie die Mutter so sehr ins Gesicht, dass ihr dabei die Nase gebrochen wird. Eine Nachbarin hörte dies und hat die Feuerwehr gerufen, welche dann die Polizei verständigte. So, oder so ähnlich können Ereignisse in der häuslichen Pflege stattfinden. Am Ende fühlte sich die Beschuldigte auch auf eine Art entlastet, weil die Situation bekannt wurde und endlich jemand von außen auf ihre Lage schaute. Durch die Vermittlung eines Casemanagements durch den nahen Pflegestützpunkt wird sie seitdem in ihrem Alltag begleitet.

Wir nehmen uns ein Beispiel an der Arbeit des Kinderschutzes.

Wenn Nachbarn etwas hören: Was ist zu tun?

Graffmann-Weschke: Bei der Polizei anrufen. Wenn es um eine akute Situation geht, am besten direkt den Notruf 110 der Polizei wählen und bei akuten Verletzungen den Rettungsdienst über 112. Das LKA in Berlin verfügt über ein Hinweistelefon, für das auch eine Mailbox geschaltet ist. Hier kann man sich notfalls auch anonym melden. Das ist vor allem im stationären Bereich wichtig, wo es eine große Hürde ist, auf Kollegen aufmerksam zu machen. Jedoch fehlt uns dann natürlich ein wichtiger Zeuge. Deshalb beraten wir auch in solchen Situationen.

Welche Rolle können Pflegekassen wie die AOK spielen, für die Sie bisher gearbeitet haben?

Graffmann-Weschke: Wir haben eingeführt, dass wir fragen, wo Betroffene versichert sind. Denn die Kassen haben den Auftrag zu gewährleisten, dass die Pflege zu Hause sichergestellt ist, wenn sie für Pflegeleistungen Geld bezahlen. Sobald wir die Pflegekasse kennen und die Betroffenen einverstanden sind, können wir aktiv eine Pflegeberatung anbieten. Dann können Knackpunkte in der häuslichen Versorgung angesprochen und geschaut werden, wo Unterstützung und Entlastung möglich sind. Wir wollen aus den polizeilichen Ermittlungen in ein Casemanagement kommen, um die Situation zu lösen. Manchmal kann auch die stationäre Versorgung in einer Pflegeeinrichtung die beste Lösung sein.

Wie kann die AOK als größte Pflegekasse bei dem Thema noch unterstützen?

Graffmann-Weschke: Die Zusammenarbeit mit den Krankenkassen ist bei dem Thema durch ihre Unterstützungsmöglichkeiten in der Betrieblichen Gesundheitsförderung extrem hilfreich. Sie sind ein wichtiger Akteur beim Thema Prävention, wie beispielsweise die Initiative „Pflege. Kräfte. Stärken.“ der AOK zeigt. In diese sind durch die Zusammenarbeit mit vielen Expertinnen und Experten jahrelange Erfahrungen aus der Pflege eingeflossen. Damit kann wertvolle Unterstützung für die Entwicklung von Strukturen und eines gemeinsamen Leitbildes für die Arbeit geschaffen werden, in dem Gewalt von Anfang an keine Chance hat.

Matthias Gabriel führte das Interview. Er ist verantwortlicher Redakteur beim KomPart-Verlag.
Bildnachweis: AOK Nordost