Erste Bilanz: Beim Pflegetag berichteten Gesundheitsminister Jens Spahn (2. v. l.), Bundesfamilienministerin Dr. Franziska Giffey und Arbeits-Staatssekretär Björn Böhning (r.) über erste Ergebnisse der Konzertierten Aktion Pflege.
Pflegetag

Branche in Aufruhr

Pflegebeschäftigte fordern bessere Arbeitsbedingungen und faire Löhne. Aber über allem schwebt die Frage: Wer soll das bezahlen? Antworten gab es auf dem Deutschen Pflegetag in Berlin. Von Frederike Gramm und Thomas Hommel

Ein Schwerpunkt der Debatten

beim Pflegetag in der STATION- Berlin war die Frage, wie die Soziale Pflegeversicherung künftig finanziert werden soll. Der AOK-Bundesverband hatte zu einer prominent besetzten Diskussionsrunde zu diesem Thema geladen.

Mit Vorstandschef Martin Litsch diskutierten SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil, DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach, Dr. Volker Hansen als Vertreter der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses des Bundestages, Erwin Rüddel (CDU).

Steigende Eigenanteile der Pflegebedürftigen aufgrund von Mehrkosten für Pflege und Personal seien ein Problem, sagte AOK-Chef Litsch. Der Vorschlag, den Eigenanteil zu begrenzen und alle darüber hinaus gehenden Kosten über die Pflegeversicherung und einen Steuerzuschuss aufzufangen, sei aber nicht zu Ende gedacht und führe „zwingend zu Fragen, die noch nicht gelöst sind".

Unklar sei etwa, ob ein fixer Eigenanteil womöglich zu einer Leistungsausweitung und zu Mitnahmeeffekten führe. Ebenso zu hinterfragen sei, wie verlässlich der Steuerzuschuss auf Dauer sei, gab Litsch zu bedenken.

Vollkasko statt Teilkasko?

Zuletzt hatten sich mehrere Bundesländer – darunter Hamburg und Brandenburg – für eine Begrenzung des Eigenanteils ausgesprochen. Kern der Initiative ist die Deckelung des Eigenanteils von Pflegebedürftigen und damit eine Umkehr vom bisherigen Prinzip, wonach die Leistungen begrenzt sind.

Damit würde aus der Teilkasko- eine Vollkaskoversicherung Pflege. Die Kurskorrektur soll verhindern, dass der Eigenanteil angesichts absehbarer und notwendiger Mehrkosten für Pflegepersonal und Ausbildung weiter steigt.

„Wir kommen um den Steuerzuschuss nicht herum“, machte der SPD-Politiker Klingbeil im Rahmen der AOK-Diskussionsrunde beim Pflegetag deutlich. Der steigende Eigenanteil bei den Pflegekosten überfordere viele Menschen. Deshalb sei es richtig und überfällig, diesen zu begrenzen. „Wir müssen jetzt in die grundsätzliche Diskussion einsteigen. Ein Rumdoktern reicht nicht.“

CDU-Gesundheitsexperte Rüddel betonte den Stellenwert der privaten Vorsorge. Die Pflegeversicherung sei als Teilkaskoversicherung entstanden. Dabei müsse es auch bleiben: „Wir müssen Anreize schaffen, damit die junge Generation Pflegevorsorge so betreibt, dass höhere Eigenanteile die Menschen später nicht zu sehr belasten.“

Die Pflegeversicherung in eine Vollkaskoversicherung umzubauen, hieße, deutlich steigende Beiträge in Kauf zu nehmen, so Rüddel. Denkbar sei auch, „sachfremde Leistungen“ wie etwa Rentenbeitragszahlungen für pflegende Angehörige aus der Pflegeversicherung herauszunehmen und so für Entlastung zu sorgen. Diese könnten über den Bundeshaushalt finanziert werden.

Zankapfel Bürgerversicherung.

DGB-Vorstandmitglied Buntenbach wies darauf hin, dass steigende Eigenanteile und Beiträge in der Pflege die Menschen „rettungslos überfordern“ würden. Die Politik müsse daher „in Richtung Bürgerversicherung und Vollversicherung" gehen. Alle sollten in gleicher Weise und solidarisch in der Bürgerversicherung pflegeversichert sein.

Dr. Volker Hansen, Abteilungsleiter Soziale Sicherung bei der BDA, setzte dem entgegen, dass es beim Ruf nach Einführung einer Bürgerversicherung augenscheinlich immer nur darum gehe, mehr Geld aus der privaten Kranken- oder Pflegeversicherung „reinzuholen“.

Sein Argument: „Dann fällt der Reformeifer flach, und in ein paar Jahren stehen wir vor den gleichen großen Problemen.“ Hansen plädierte für ein Gesamtkonzept Pflege, das neben der Finanzierung auch die Strukturen der Pflegeversicherung in den Fokus nehme.

Bei der Eröffnungsveranstaltung zum Pflegetag hatte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn Forderungen nach Begrenzung des Eigenanteils eine Absage erteilt. Für zusätzliches und besser bezahltes Pflegepersonal fielen auch künftig Mehrkosten an.

Angehende Mediziner und Pflegekräfte im Interview:

Es sei unrealistisch, so Sphan, den Bewohnern von Pflegeheimen zu versprechen, dass ihr Eigenanteil davon unberührt bleibe. „Das bringt nur Enttäuschung.“ Gleichwohl gibt es auch innerhalb der CDU/CSU-Fraktion Stimmen, die eine Neujustierung der Pflegefinanzierung befürworten.

Besucherrekord beim Pflegetag.

Der Pflegetag verzeichnete dieses Jahr einen neuen Besucherrekord von rund 10.000 Teilnehmern. Der dreitägige Kongress, der vom Deutschen Pflegerat und der Schlüterschen Verlagsgesellschaft unter dem Motto „Gepflegt in die Zukunft – JETZT!“ ausgerichtet wurde, präsentierte sich einmal mehr als zentrale Branchenveranstaltung für die Pflege in Deutschland.

Digitalisierung in der Pflege, Bildung, Lehr- und Ausbildungsreformen sowie die Kommunikation zwischen Ärzten, Pflegekräften und Patienten waren nur einige der vielen Themen des Pflegetages. Parallel dazu fand wieder der „Junge Pflege Kongress“ mit speziellen Angeboten für Nachwuchskräfte statt.

Der AOK-Bundesverband ist Gründungspartner des Pfegetages und war dort auch in diesem Jahr mit einem Messestand, eigenen Veranstaltungen sowie zahlreichen Expertinnen und Experten bei anderen Diskussionsrunden und Workshops vertreten.

Eine Veranstaltung, die vom AOK-Bundesverband, der AOK Nordost, der Robert Bosch Stiftung sowie der PflegeZukunfts-Initiative organisiert wurde, drehte sich um die künftige Arbeitskultur in Kliniken und Pflegeheimen. Angehende Ärzte und Pflegeprofis warben hier für einen Paradigmenwechsel: weg von alten Grabenkämpfen hin zu einem Schulterschluss beider Berufsgruppen.

„Wir sind Partner der Pflege.“

Die AOK verstehe sich als Partner der Pflege, betonte AOK-Chef Litsch bei einem Pressegespräch. „Als größte Pflegekasse Deutschlands haben wir sowohl den Anspruch, die Versorgung für unsere Versicherten und ihre Angehörigen mitzugestalten als auch die Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte voranzubringen“, so Litsch.

Pflegeexperten im Interview:

Konkret bedeute das, mit besseren Arbeitsbedingungen dem Fachkräftemangel in der Pflege entgegenzuwirken und mehr Menschen für den Pflegeberuf zu gewinnen sowie langfristig im Job zu halten. „Zweifellos gehört eine angemessene Bezahlung zu den Schlüsselfaktoren in dieser Frage. Sie ist ein Zeichen dafür, was uns als Gesellschaft gute Pflege wert ist.“  

Dieses Geld müsse aber auch beim Pflegepersonal ankommen, so Litsch. „Hier sind wir noch nicht am Ziel.“ Entsprechende Vorschläge bringe die AOK in die Konzertierte Aktion Pflege (KAP) der Bundesregierung ein.

„Mutiges Handlungspaket gefragt.“

Der Präsident des Deutschen Pflegerates, Franz Wagner, sagte, der Mehrwert der Konzertierten Aktion Pflege liege darin, dass unterschiedliche Akteure an einem Tisch zusammenkämen. „Dabei treffen aber auch sehr unterschiedliche Interessen aufeinander. Das ist Chance und Begrenzung zugleich.“

Die Erwartungen der Pflegenden an ein mutiges Handlungspaket seien groß, so Wagner. Außerdem müsse dringend etwas gegen die teils gravierenden personellen Engpässe getan werden. „Pflege ist offiziell ein Mangelberuf. Viele Stellen sind nicht besetzt.“ Das gelte für die Langzeitpflege genauso wie für die Akutpflege im Krankenhaus.

Zu den Folgen des Personalnotstands gehörten Aufnahmestopps und Wartelisten in Pflegeheimen und bei ambulanten Pflegediensten sowie Sperrungen von Betten oder ganzen Stationen in Krankenhäusern. Operationen müssten teils verschoben werden, weil nicht genügend Pflegeprofis bereit stünden. Um die Personalsituation zu entspannen, seien in den nächsten Jahren mindestens 100.000 zusätzliche Pflegestellen zu schaffen, so Wagner.

„Das große Thema der nächsten Jahre.“

Der mit der Konzertierten Aktion Pflege gestartete Vorstoß soll keine Eintagsfliege sein. Im Juni würden die fünf Arbeitsgruppen ihre Ergebnisse vorlegen, „aber das ist nicht das Ende“, sagte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn bei der Eröffnungsveranstaltung zum Pflegetag. „Pflege ist das große Thema für die nächsten Jahre – auch für uns in der Bundesregierung.“

Spahn gehört neben Bundesfamilienministerin Dr. Franziska Giffey und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil zu den Initiatoren der KAP. Neben Vertretern der drei Ministerien sind auch Kirchen, Kassen, Pflege- und Wohlfahrtsverbände sowie Arbeitgeber und Gewerkschaften vertreten.

„Wir streiten nicht, sondern machen unseren Job. Das ist das, was die Menschen erwarten“, sagte Giffey. „Wenn wir bessere Bedingungen und eine faire Bezahlung haben, wird der Pflegeberuf eine höhere Wertigkeit bekommen.“

Unter Federführung des Familienministeriums ist bereits ein Maßnahmenkatalog zur Pflegeausbildung entstanden. Er enthalte 111 Einzelmaßnahmen, berichtete Giffey. Dazu zähle auch die Abschaffung des Schulgeldes, das Absolventen der Altenpflegeausbildung teils noch zahlen müssen.

„Löhne, die so nicht akzeptabel sind.“

Der Parlamentarische Staatssekretär im Arbeitsministerium, Björn Böhning, der Bundesminister Heil beim Pflegetag vertrat, nannte die teils schlechte Bezahlung in der Pflege einen Grund dafür, warum viele einen Bogen um den Job machten oder wieder ausstiegen. In Westdeutschland liege der durchschnittliche Verdienst einer Vollzeit-Pflegefachkraft bei 2.880 Euro, in Ostdeutschland etwa 500 Euro darunter. „Das sind Löhne, die so für die Pflege nicht akzeptabel sind“, kritisierte Böhning.

Inakzeptabel sei auch, dass nur die Hälfte der Pflegebeschäftigten einen tarifgebundenen Lohn erhalte. Wie in jedem anderen Wirtschaftszweig müssten sich aber auch in der Pflegebranche Gewerkschaften und Arbeitgeber zusammensetzen, um einen Lohn auszuhandeln, der dann bundesweit gelte.

Die noch ausstehenden Gespräche in der entsprechenden Arbeitsgruppe der KAP werde er dazu nutzen, diesen Appell an die beteiligten Akteure zu richten, sagte Böhning. „Wir reden hier über eine konzertierte und nicht über eine kleinkarierte Aktion Pflege.“

Weitere Informationen zum Deutschen Pflegetag 2019

Thomas Hommel ist Chefreporter der G+G.
Frederike Gramm ist Volontärin beim KomPart-Verlag.
Bildnachweis: Deutscher Pflegetag/Dirk Enters allefarben-foto, AOK-Bundesverband/msu, Foto Startseite: Marc-Steffen Unger