Porträt
Kommentar

Grenzen der Spitzenmedizin

Mit einer Lebenserwartung von 78,2 Jahren (Jungen) und 83,2 Jahren (Mädchen) stehen wir im europäischen Vergleich nicht gut da. Die Fehler liegen im System, meint Rainer Woratschka.

Die Deutschen gehen häufig zum Arzt –

fast doppelt so oft wie im OECD-Durchschnitt. Das Land verfügt über weit mehr Krankenhausbetten als andere europäische Staaten. Bei den Gesundheitsausgaben liegen wir, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, einsam an der Spitze. Und dennoch ist die Lebenserwartung in den meisten Ländern Westeuropas höher als bei uns. Im Ranking mit 16 Staaten kommt die Bundesrepublik bei Frauen auf den drittletzten, bei Männern auf den vorletzten Platz. Wie kann das sein, was machen wir falsch?

Ursächlich für den Rückstand sind vor allem die vielen Herz-Kreis­lauf-Toten hierzulande. Und offensichtlich hapert es nicht an der Akutversorgung nach Infarkt oder Schlaganfall. Das Problem ist die Zeit davor. Im Land der aufwendigen Spitzenmedizin kümmert man sich vor allem um Menschen, die bereits erkrankt sind – und kaum darum, dass sie gar nicht erst erkranken.

Prävention braucht mehr Gewicht.

Die eigentliche Herausforderung ist nicht technologischer Art, es ist eine systemische. Verkalkte Gefäße sind nicht plötzlich da. Die Risikofaktoren heißen: Stress, wenig Bewegung, schlechte Ernährung. Dagegen hilft keine noch so aufwendig ausgestattete Intensivstation, kein noch so qualifiziertes Personal. Es geht um Prävention. Und zwar nicht erst, wenn die Puste wegbleibt, sondern schon in Kita und Schule, Berufsalltag, sozialem Umfeld. Hier sind nicht bloß Mediziner und Krankenkassen gefragt, sondern auch Kommunen, Lehrkräfte, Firmenchefs.

Ein Problem sind die sozialen Unterschiede, die schwierige Erreichbarkeit der Menschen in unteren Schichten. Zudem braucht es andere Anreize. Ärzte und Kliniken kommen nicht durchs Gesunderhalten auf ihren Profit, sondern durch aufwendige Eingriffe und das Behandeln chronifizierter Leiden. Ähnlich bei der Pflege: Es geht nicht ums Vermeiden von Pflegebedürftigkeit oder um Aktivierung der Betroffenen, sondern ums Unterbringen und Versorgen.

Helfen könnten sektorübergreifende Verantwortlichkeiten, doch jeder werkelt bislang in seiner Nische. Und gesellschaftlich? Schokoriegel sind billiger als Äpfel, eine Zuckersteuer ist nicht in Sicht. Und im hysterischen Kulturkampf-Getöse werden selbst Mahnungen zu weniger Fleischverzehr oder Werbeverbots-Pläne für Kindersüßigkeiten zur Freiheitsbedrohung erklärt. Auch hier sind uns viele europäische Nachbarn weit voraus.

Rainer Woratschka ist gesundheitspolitischer Redakteur beim Berliner Tagesspiegel.
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