Thema des Monats

Ersthelfer für die Psyche

Ein Erste-Hilfe-Kurs für den Straßenverkehr ist vor einer Fahrprüfung obligatorisch. Doch was ist, wenn sich ein Mensch in einer schweren seelischen Krise befindet, sich gar das Leben nehmen will? Um darauf vorbereitet zu sein, kann sich jeder zum psychischen Ersthelfer schulen lassen. Von Thorsten Severin (Text) und Stefan Boness (Fotos).

Die acht Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben an diesem Tag in dem kleinen Kursraum in Berlin-Charlottenburg schon viel über die Warnzeichen psychischer Störungen gelernt – und darüber, wie man Betroffenen spontan helfen kann. Inzwischen ist es Nachmittag und die Gruppe unter Leitung von Instruktorin Leonie Menzel ist beim Thema Depressionen angekommen. Nach dem theoretischen Teil wird es nun ernst: Die soeben noch so fröhliche 30-Jährige schlüpft in die Rolle der seelisch belasteten Miriam. In sich zusammengesunken sitzt sie jetzt auf ihrem Stuhl, die Gesichtszüge traurig, den Kopf gesenkt, unruhig spielt sie mit ihren Händen. Ein Häufchen Elend.

Im Rollenspiel mimt Leonie eine Nachbarin, die sich vor etwa drei Monaten von ihrem Mann getrennt hat. Seither hat sie sich sehr verändert. Die ursprüngliche Lebensfreude ist wie weggeblasen. Außerdem zieht sich die Frau immer mehr zurück und hat sogar ihr Ehrenamt in der Suppenküche aufgegeben. Ihr Sohn hat erzählt, dass er seine Mutter immer wieder in ihrem Schlafzimmer weinen höre. Sie habe ihm auch gesagt, es ginge ihm besser ohne sie. Die Kursteilnehmer stellen sich vor, sie gehen bei Miriam zu Hause vorbei, weil sie sich Sorgen machen. Als die Frau die Tür öffnet, ist zu erkennen, dass sie ihr Äußeres stark vernachlässigt und das Haar sehr unordentlich ist, obwohl sie darauf immer sehr viel Wert gelegt hat.

Im Rollenspiel den Ernstfall üben.

Zu Übungszwecken dürfen im Kurs alle gleichzeitig Miriams „Gegenüber“ sein. Sie versuchen, sich in die Frau einzufühlen, ein Gespräch mit ihr zu beginnen. Doch trotz aller vorherigen Theorie fällt es den Teilnehmenden sichtlich schwer, für Miriams Situation die richtigen Worte zu finden. Eine Kursteilnehmerin richtet den Fokus zum Einstieg auf die unaufgeräumte Wohnung. Eine andere erklärt Miriam, sie mache sich Sorgen, weil ihr Sohn erzählt habe, dass sie oft weine. Mit hagerer Stimme antwortet die Frau, sie sei müde und sie bekomme Sachen nicht mehr so hin wie früher. Anfangs sei ihre Freundin Isa noch vorbeigekommen, aber jetzt komme niemand mehr. „Mit mir kann man nichts mehr anfangen.“ Die Kursteilnehmer erkundigen sich weiter. „Wie lange geht das schon?“, „Warst Du schon beim Hausarzt?“ und zeigen Einfühlungsvermögen („Du hältst viel aus, nach Deiner Trennung“).

In geraffter Form wird ein Gespräch inszeniert, das in Wirklichkeit deutlich mehr Zeit, Geduld und Empathie erfordern würde, wie Kursleiterin Menzel ihnen anschließend erzählt. Doch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden am entscheidenden Punkt hellhörig: Miriam erzählt davon, dass sie gerne schläft, denn „dann hört das alles auf“. Schließlich fragen sie ihre Nachbarin direkt: „Hast Du schon mal daran gedacht, Dir das Leben zu nehmen?“ Miriam zögert, richtet den Blick starr auf den Boden, dann nickt sie verhalten. Auf Nachfrage stellt sich heraus, dass die Möglichkeit des Suizids von ihr sogar schon konkret durchdacht worden ist. Die „Wohnungsgäste“ überreden die Frau, mit ihr zusammen zum Arzt zu gehen oder den Krisendienst zu rufen. Vor allem aber lassen sie die Frau nicht mehr allein, obwohl sie sagt, sie wolle noch gern ein paar Mails beantworten. „Im Endeffekt geht es bei der psychischen Ersten Hilfe darum, die Zeit zu überbrücken, bis professionelle Hilfe vorhanden ist“, erläutert Menzel. Wichtig sei es, mit der suizidalen Person zusammenzuarbeiten.

Ein Suizid pro Stunde.

Von der Psychologin erfahren die Zuhörerinnen und Zuhörer, dass sich im Jahr 2020 rund 9.200 Menschen in Deutschland das Leben genommen haben – das entspricht mehr als einem Suizid pro Stunde. Drei Mal mehr Männer als Frauen setzten ihrem Leben ein Ende. „Wenn Ihr denkt, dass eine Person Suizidgedanken haben könnte, solltet Ihr sie direkt danach fragen“, empfiehlt Menzel. Eine Übung an diesem Tag sieht daher vor, die Frage an die Teilnehmerin oder den Teilnehmer neben sich zu richten. Denn das geht nicht einfach über die Lippen und sollte für den Ernstfall geprobt sein. Vor allem muss die Frage genau gestellt werden, keinesfalls nach dem Motto „Du denkst doch nicht etwa daran, eine Dummheit zu begehen?“

Wenn ihr denkt, dass eine Person Suizidgedanken hat, sprecht sie an.

Wichtig ist es, einer depressiven Person mit viel Empathie zu begegnen. Professor Michael Deuschle, Leitender Oberarzt am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, warnt in diesem Zusammenhang vor vorschnellen Ratschlägen an die Betroffenen oder Bagatellisierungen. Sätze wie „Das ist doch alles nicht so schlimm, objektiv geht es Dir doch gut“, „Du kriegst das schon wieder hin“ oder „Du hast doch eine schöne Wohnung, tolle Kinder“ würden von den Betroffenen meist als unpassend erlebt. „Es wird dann schwerer, in ein weiteres Gespräch zu kommen“, so Deuschle. Auch Vorwürfe oder Ablehnung gegenüber einer suizidalen Person sind fehl am Platz. Dazu gehören Aussagen wie „Du ruinierst das Leben anderer“ oder „Du denkst ja nur an Dich“.
 
In dem aus vier Einheiten bestehenden Workshop geht es auch um Menschen mit Depressionen, denen es erkennbar schlecht geht, die aber keine Suizidgedanken hegen. Mit dem Sitznachbarn üben die Teilnehmer im Rollenspiel daher auch, jemandem aus dem Familien- oder Bekanntenkreis klarzumachen, dass er professionelle Hilfe benötigt. Doch die Person weigert sich standhaft, sich in medizinische Behandlung zu begeben, teils weil ihr die Einsicht fehlt. Am Ende sollte eine Weigerung dann auch akzeptiert, das Hilfsangebot aber aufrechterhalten werden, schildert Leonie Menzel.

Konzept aus Australien.

Außer zu Depressionen gewährt der Kurs einen Einblick in das Muster von Angststörungen, Psychosen und Drogenmissbrauch mit Schwerpunkt Alkohol. In erster Linie geht es darum, mit den erlernten Fähigkeiten Angehörigen, Freunden und Kollegen in seelischer Not zur Seite zu stehen, und weniger darum, wildfremde Menschen etwa in der S-Bahn auf ihr Befinden anzusprechen. Allerdings sollen die Kursteilnehmer „keine Behandler“ werden, wie Deuschle unterstreicht. Wichtig sei es, das meist mit Hilfs- und Hoffnungslosigkeit einhergehende psychische Leid zu erkennen. Die genaue Diagnose könnten dann später Fachleute stellen.

Die meisten Betroffenen sind froh, angesprochen zu werden.

Schon rund 17.000 Menschen bundesweit wurden laut Deuschle mit den MHFA Ersthelferkursen ausgebildet. Es handelt sich dabei um die deutsche Version des schon im Jahr 2000 in Australien von Betty Kitchener und Tony Jorn entwickelten Mental Health First Aid Programms (MHFA). Die Lizenz für die Kurse hierzulande hat das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, das seit 2020 in Partnerschaft mit der Beisheim Stiftung daran arbeitet, ein deutschlandweites Netzwerk aufzubauen. Ins Leben gerufen wurde „MHFA Ersthelfer“ seinerzeit mit Unterstützung der Dietmar-Hopp-Stiftung. Deuschle war es, der die Workshops nach Deutschland holte. Beim Stöbern im Internet hatte er von dem australischen Modell gelesen und sich gedacht, dass so etwas auch in Deutschland gebraucht wird.

Betriebe organisieren Kurse.

So wie „KIP“ – die Gesellschaft für Krisenintervention und Krisenprävention in Berlin – haben sich in verschiedenen Regionen Vereine und Initiativen gefunden, die die standardisierten Kurse als Kooperationspartner anbieten. In den meisten Fällen handelt es sich um offene Angebote, in Präsenz oder online. Die Instruktoren wie Leonie Menzel gehen aber auch in Unternehmen, um auf Initiative der Geschäftsleitung Schulungen anzubieten. Das kann im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements geschehen. „Ein großer Teil der DAX-Konzerne war schon dabei“, berichtet Deuschle.

Seinem Institut sei es ein Anliegen, bestimmte Berufsgruppen gezielt anzusprechen, etwa Polizisten, Rettungskräfte und Soldaten. Der Wissenschaftler selbst ist zurzeit dabei, angehenden Ärzten an der Uni Mannheim Grundkenntnisse in psychischer Erste Hilfe beizubringen. An anderen Hochschulen ist der Kurs Bestandteil der Ausbildung von Sozialarbeitern. Gedacht sind die Ausbildungen aber für jeden.

Der Hilflosigkeit begegnen.

Sehr häufig handelt es sich bei den Teilnehmenden um Menschen, die im privaten Kontext schon einmal die Erfahrung der Hilflosigkeit gegenüber einer Person mit einer seelischen Krise gemacht haben. Die meisten sind überfordert, wenn ein Familienmitglied morgens nicht mehr aus dem Bett kommt, sich kraftlos und leer führt, aber nicht über seine Gefühle sprechen möchte. Oder aber eine Kollegin ist offenkundig überfordert von ihrer Arbeit, meldet sich häufig krank und klagt über ständige Sorgen. Und wie begegnet man einem Kollegen, der nach seiner Trennung zunehmend Alko­hol trinkt?

27,8 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland sind jedes Jahr von einer psychischen Erkrankung betroffen, wie die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psycho­somatik und Nervenheilkunde (DGPPN) angibt. Das entspricht rund 17,8 Millionen Personen. Von diesen wiederum nehmen nur 18,9 Pro­zent Kontakt zu professionellen Helfern auf.

Zu den häufigsten Erkrankungen in diesem Bereich zählen Angststörungen (15,4 Prozent). Danach folgen sogenannte affektive Störungen (9,8 Prozent), wobei es sich hierbei vor allem um Depressionen handelt. Störungen durch Alkohol- oder Medikamentenkonsum (5,7 Prozent) liegen auf dem dritten Platz.

Psychische Erkrankungen zählen in Deutschland nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen, bösartigen Tumoren und Muskel-Skelett-Erkrankungen zu den vier wichtigsten Ursachen für den Verlust gesunder Lebensjahre. Menschen mit psychischen Erkrankungen haben laut DGPPN im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung eine um zehn Jahre verringerte Lebenserwartung.

In Menzels Kurs haben sich an diesem Tag Menschen mit ganz unterschiedlichen beruflichen Hintergründen eingefunden: Maria ist eine 33-jährige Kunsttherapeutin aus Italien, die seit vier Jahren in der Hauptstadt lebt und in der Endphase der Ausbildung zur Rettungssanitäterin ist. Martina arbeitet neben ihrem Studium in einer Flüchtlingsunterkunft. Hier ist sie zum einen Vertrauensperson für das Team und will da auf mögliche Krisen vorbereitet sein. Auf der anderen Seite erlebt die 25-Jährige im Umgang mit den Schutzsuchenden immer wieder, dass Menschen im Gespräch einen krisenhaften oder traumatisierten Eindruck machen. Aber auch eine Personalentwicklerin und eine Personalleiterin im Pflegebereich befinden sich unter den Anwesenden.

Jeder Vierte mit psychischer Störung.

Die Notwendigkeit für die Kurse liegt für Professor Deuschle auf der Hand: „Ungefähr 40 Prozent der Menschen entwickeln im Laufe des Lebens eine relevante psychische Störung. Da ist es sehr wahrscheinlich für uns alle, dass wir mit einer betroffenen Person in Kontakt kommen.“ Ganz vorn in der Rangliste liegen Angststörungen, gefolgt von Stimmungserkrankungen, wie Depressionen. „Jeder profitiert davon, wenn er so einen Kurs besucht.“
 
MHFA-Lehrgänge gibt es weltweit in 27 Ländern. Mehr als fünf Millionen Menschen wurden schon geschult. Für Deutschland gibt es eigene Lernmaterialien, die auf einer Übersetzung des australischen Originals beruhen. Die Instruktoren müssen bereits praktische berufliche Erfahrungen mit den Störungsbildern gesammelt haben. Es handelt sich daher um Psychologen, Psychotherapeuten, Ärzte, Fachpflegekräfte oder auch Sozialarbeiter mit psychiatrischem Hintergrund. Am Institut in Mannheim werden sie für ihre Lehrtätigkeit fünf Tage lang mit dem Programm vertraut gemacht.

Ein auffälliges Signal ist, wenn Menschen sich sozial zurückziehen.

Leonie Menzel hat vor ihrer Zeit bei KIP in Berlin mehrere Jahre in einer Familienklinik in Bayern gearbeitet. Ihr Kollege Len-Julian Liebelt ist ebenfalls Psychologe und beschäftigte sich schon im Studium mit Präventionsprojekten, die an der Uni angeboten wurden. 2019 erfuhr er, dass die MHFA-Kurse nach Deutschland kommen. In Berlin gehörte er zu den ersten Ausbildern für das Programm, damals noch ohne Büro und ohne eigenen Kursraum. Inzwischen hat er bereits dutzende Kurse geleitet. Allein KIP hat seit Projektstart über 1.000 Ersthelfer ausgebildet. Im Jahr 2022 handelte es sich bei der Mehrzahl (73 Prozent) um Frauen. Das Durchschnittsalter betrug 37 Jahre, wobei die Altersspanne der Teilnehmer von 18 bis 74 Jahren reicht. Für die Teilnahmegebühr von öffentlichen MHFA-Kursen, welche durch die KIP angeboten werden, kommt für in Berlin gemeldete Personen der Senat auf. Doch das ist in Deutschland der Ausnahmefall. In den anderen Regionen der Republik werden für den Workshop in der Regel rund 220 Euro fällig.

Erste Hilfe folgt festem Plan.

Das Programm folgt im Aufbau, bei den Fallbeispielen, Filmen und Flipcharts den strikten Vorgaben der Erfinder des Programms. Deuschle verweist darauf, dass sich so die Qualität sichern lasse. Alles sei evidenzbasiert, die Wirksamkeit der Kurse in Studien belegt. Die Expertisen stammen überwiegend aus Australien, etwa von der Wissenschaftlerin Amy J. Morgan und Kollegen. Ihre Arbeit von 2018 zeigte auf, dass die Erkennung psychischer Störungen und die Überzeugung über wirksame Behandlungen durch die Schulungen verbessert wurden. Auch wuchs das Selbstvertrauen, einer Person mit einem psychischen Gesundheitsproblem zu helfen – ebenso die Absicht, Erste Hilfe zu leisten. „Die Teilnehmer verfügen anschließend über mehr Wissen, mehr Selbstsicherheit im Umgang mit Betroffenen und sie sprechen mehr Betroffene an“, fasst es Deuschle zusammen.

Strukturiert ist aber nicht nur der Workshop selbst, sondern auch das Vorgehen für den Notfall, das in den vier dreistündigen Einheiten vermittelt wird. Deuschle vergleicht es mit der ABC-Regel nach einem Unfall: Atemwege freimachen, Beatmen, Cardiale Reanimation ... Bei der psychischen Erste Hilfe gehören dazu unter anderem das Aktivwerden, das offene und unvoreingenommene Zuhören wie auch das Beistehen. „Am Anfang geht es konkret darum, die Person anzusprechen und ihr Leiden nicht zu ignorieren“, erläutert Deuschle. Ein Trick sei, dabei eine Ich-Botschaft zu übermitteln, etwa „Ich mache mir Sorgen um Dich, weil Du so niedergeschlagen wirkst.“ Schon sei das Gespräch eröffnet. Die Angst, beim Anderen einen Widerstand auszulösen oder sich ungerechtfertigter Weise in fremde Sachen einzumischen, hält der Experte für unbegründet. „Die meisten sind froh, angesprochen zu werden.“ Personen in psychischer Not machten meist die Erfahrung, dass die Mitmenschen sich distanzierten, gerade weil sie merkten, dass etwas nicht stimme und sie Angst hätten, einen Fehler zu machen. Dabei wünschten sich Betroffene in aller Regel Akzeptanz, Zuspruch und über Probleme reden zu können, so Deuschle.

Am Anfang steht das Aktivwerden.

„Zur Eröffnung eines Gesprächs reicht oft eine einfache Frage nach dem Befinden“, weiß Leonie Menzel. Wichtig sei es zudem, Zeit und einen geschützten Raum für ein offenes Gespräch anzubieten. Und wie nach einem Autounfall gilt auch bei einer mentalen Krise: „Das Wichtigste ist, überhaupt aktiv zu werden.“ Und noch eine Analogie gibt es zu Unglücken im Straßenverkehr, wie Psychologe Liebelt verrät: „Es ist hilfreich, Ruhe zu bewahren und nicht in Panik zu verfallen.“

Angststörungen zeigen sich in einer unrealistischen oder übersteigerten Angst und Besorgnis, in Reizbarkeit, Ungeduld, Wut und Nervosität. Körperlich treten sie in Form von Herzrasen, Engegefühl in der Brust, schneller flacher Atmung oder gar als Atemnot in Erscheinung. Es gibt verschiedene Formen von Angststörungen, etwa soziale Phobien, Panik­attacken oder solche, die sich auf bestimmte Situationen und Objekte beziehen.

Depressionen können sich unter anderem in Niedergeschlagenheit, Verlust von Freude und Interessen, Erschöpfung, Schuldgefühlen, Selbstkritik, Schlafstörungen oder Suizidgedanken äußern. Die Symptome sind anhaltend und belasten die betroffene Person in ihrem Alltag und in ihren Beziehungen zu anderen Menschen.

Abhängigkeit etwa von Alkohol, Medikamenten und anderen Drogen liegt vor, wenn ein starkes Verlangen nach der jeweiligen Substanz besteht, eine verminderte Kontrolle über den Gebrauch vorhanden ist und bei Abstinenz körperliche Entzugssymptome auftreten. Zugleich muss der Betroffene immer größere Mengen zu sich nehmen. Wichtige Aktivitäten werden vernachlässigt oder aufgegeben.

Psychosen sind Störungen, bei denen Kranke die Realität anders wahrnehmen oder verarbeiten. Es können Ängste, Reizbarkeit, Misstrauen, eine veränderte Konzentration und Aufmerksamkeit sowie Schlafstörungen, soziale Isolation und Rückzug auftreten.

Am Ende eines Gesprächs ist es dann wichtig, zu professioneller Hilfe zu ermutigen oder – im Falle von Suizidalität – diese sofort in Anspruch zu nehmen. Die Teilnehmer bekommen dafür eine Liste mit Beratungs- und Behandlungsangeboten an die Hand. Für Berlin reicht die Palette von Krisendiensten in den Stadtteilen über Sozialpsychiatrische Anlaufstellen bis hin zum Drogennotdienst oder Seelsorgeangeboten.

Rückzug ist oft Indiz für Krise.

Doch was sind Anzeichen für eine seelische Krise? Aufmerksamkeit sei geboten, „wenn sich jemand in seinem Denken, seinem Verhalten, seinem Fühlen, seiner Stimmung verändert und dies nicht nur vorübergehend so ist“, erläutert Deuschle. Ein auffälliges Signal sei, wenn Menschen sich sozial zurückzögen. Als Faustregel für eine Intervention gelte, dass das Verhalten zwei Wochen oder länger anhalte.

Auch Leonie Menzel und Len Julian Liebelt haben die Erfahrung gemacht, dass es für Betroffene eine große Entlastung ist, über ihre Situation sprechen zu können, wenn das Eis erstmal gebrochen ist. Der Kurs trage nicht zuletzt dazu bei, Stigmatisierungen abzubauen, die gegenüber psychisch kranken Menschen noch immer bestünden. Gerade im beruflichen Kontext scheuten sich aus Angst vor Nachteilen nach wie vor viele, seelische Leiden zuzugeben.

Kurse für Jugendliche in Arbeit.

Bislang sind die MHFA-Kurse nur auf die Soforthilfe für Erwachsene ausgerichtet. Doch die Lizenz für einen Kurs, der Erwachsenen vermittelt, wie man betroffenen Jugendlichen hilft und sie unterstützt, habe sein Institut bereits, berichtet Deuschle. „Wir warten im Prinzip noch auf einen Sponsor, der uns ermöglicht, das einzuführen.“ Extrakurse für Jugendliche seien notwendig, weil es Unterschiede gebe, wie Betroffene angesprochen werden sollten. Auch einige Störungsbilder unterschieden sich. So spielten bei Kindern und Jugendlichen etwa Essstörungen, Selbstverletzungen und Ängste eine gewichtige Rolle. Adressaten eines neuen Youth-Programms könnten etwa Lehrer sein sowie alle, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben. Liebelt fände es gar sinnvoll, Kinder und Jugendlichen selbst für psychische Störungen zu sensibilisieren. „Eigentlich gehört ein Erste-Hilfe-Konzept in die Schule.“

Ein Erste-Hilfe-Programm speziell für Jugendliche unter 18 sowie für ältere Menschen über 60 wird derzeit an der Universität Regensburg entwickelt. Das Projekt „Hilfe in seelischer Not“ erhält bis Herbst nächsten Jahres eine Förderung des bayerischen Gesundheitsministeriums. „Wir wollen einen Beitrag dazu leisten, dass jede einzelne Person in unserer Bevölkerung sich traut, Hilfe zu leisten“, erläutert Projektleiter Professor Martin Schecklmann. Auch wenn bei dem Schulungsprogramm die Bedürfnisse der U18- und Ü60-Zielgruppe im Mittelpunkt stünden, solle die Altersspanne dazwischen nicht ausgeblendet werden. Der Kurs werde sich sowohl an Laien als auch an professionelle Ersthelfer richten, erläutert Schecklmann. Grundlage sei das Drei-Stufen-Konzept „Hinschauen – Sprechen – Netzwerken“, kurz: HSN.
 
Eine Konkurrenz zur MHFA-Ausbildung sieht der Experte nicht. „Das Handlungsprogramm HSN versteht sich als Ergänzung der bereits bestehenden Angebote-Landschaft.“ Zusätzlich zum Kurs, bei dem Handlungskompetenzen erarbeitet und trainiert werden, soll es eine App geben. In dieser könnten die Teilnehmer die Inhalte jederzeit wieder abrufen.

Sein Kollege Deuschle findet es vernünftig, wenn die Ersthelfer-Ausbildung für bestimmte Berufe zur Pflicht würde. Er sieht hier die Politik am Zuge. Es sei bedenklich, wenn etwa Rettungssanitäter oder Pflegekräfte über keine psychischen Grundkenntnisse verfügten. Eine generelle Bürgerpflicht, wie sie vereinzelt von Kollegen gefordert wird, hält der Mannheimer Psychologe aber nicht für sinnvoll. „Ich bin für Eigenengagement anstatt für Pflicht.“

Thorsten Severin ist Redakteur der G+G.
Stefan Boness ist freier Fotograf.
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