Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser: Das gilt auch im Hinblick auf Klinikrechnungen.
MDK-Reformgesetz

Freibrief zum Schummeln?

Rund 2,8 Milliarden Euro mussten Kliniken 2017 an die Krankenkassen zurückzahlen, weil der Medizinische Dienst ihre Rechnungen beanstandet hat. Die Bundesregierung plant nun, die Zahl der Prüfungen zu senken – eine Reform mit Risiko für die Beitragszahler. Von Thomas Rottschäfer

Die Krankenkassen

sind gesetzlich verpflichtet, die Abrechnungen der Krankenhäuser im Interesse der Beitragszahler unter die Lupe zu nehmen. Bei Auffälligkeiten beauftragen sie den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) mit der Detailprüfung. Die Abrechnungsprüfung hat sich zu einer wesentlichen Aufgabe der bundesweit 15 MDK entwickelt. Überall wurden in den letzten Jahren die Gutachterteams aufgestockt. Auf der politischen Ebene sorgt dies immer wieder für Streit. Die Krankenhausverbände werden nicht müde, den Krankenkassen „Willkür“ zu unterstellen und den MDK als „Handlanger der Kassen“ darzustellen. „Das hat mit der Realität nichts zu tun. Wir prüfen nach den gültigen Richtlinien und Regeln, die von allen Beteiligten eingehalten werden müssen“, sagt Klaus-Peter Thiele, Leitender Arzt des MDK Nordrhein. „Unsere Gutachterteams bestehen aus unabhängigen Fachleuten, die kompetent und an der Sache orientiert entscheiden.“

Die Krankenkassen sind gesetzlich verpflichtet, die Abrechnungen unter die Lupe zu nehmen.

Koalition will Prüfungen einschränken.

Nun plant die Große Koalition mit dem „Gesetz für bessere und unabhängigere Prüfungen“ eine Reform des MDK und der Krankenhaus-Abrechnungsprüfung. Zum einen will sie den MDK von den Krankenkassen lösen. Damit greift sie  das im Koalitionsvertrag vereinbarte Vorhaben auf, „die MDK zu stärken, ihre Unabhängigkeit zu gewährleisten und für bundesweit einheitliche und verbindliche Regelungen bei ihrer Aufgabenwahrnehmung Sorge zu tragen“. Neben der organisatorischen Neuausrichtung sieht der Entwurf des MDK-Reformgesetzes auch vor, die Prüfung von Krankenhausrechnungen deutlich einzuschränken.

Es geht um viel Geld: 2,8 Milliarden Euro mussten die deutschen Krankenhäuser 2017 an die gesetzlichen Krankenkassen zurückzahlen. Die Gründe: Abrechnungsfehler, zu lange Verweildauer der Patienten im Krankenhaus oder eine stationäre Behandlung, wo nach Gesetzeslage eine ambulante Versorgung angebracht gewesen wäre. Nach Zahlen des GKV-Spitzenverbandes waren im Schnitt 56 Prozent der geprüften Rechnungen fehlerhaft. Allerdings werden bisher höchstens 17 von 100 Klinikabrechnungen durch den MDK geprüft. „Falschabrechnung ist kein Kavaliersdelikt“, sagt Krankenhausexperte Jürgen Malzahn vom AOK-Bundesverband in Berlin. Doch der Leiter der Abteilung Stationäre Versorgung/Rehabilitation befürchtet, dass vom MDK-Reformgesetz genau diese Botschaft ausgehen könnte.

Denn 2020 soll die Zahl der Abrechnungsprüfungen erst einmal pauschal auf zehn Prozent gesenkt werden. Und ab 2021 soll es dann Quoten geben, die sich daran orientieren, wie ein Krankenhaus bei vorangegangenen Prüfungen abgeschnitten hat. „Dann sollen nur noch fünf bis 15 Prozent der Abrechnungsfälle überhaupt prüfbar sein“, so Malzahn. Das hätte aus Sicht der AOK zur Konsequenz, dass auf dem Milliardenmarkt Krankenhaus fehlerhafte Abrechnungen in großem Umfang auf Kosten der Beitragszahler unbeanstandet blieben. Der GKV-Spitzenverband rechnet mit einem Verlust von rund 1,6 Milliarden Euro für die Versichertengemeinschaft. Bereits 1,2 Milliarden Euro entsprechen einer Beitragssatzsteigerung um 0,1 Prozentpunkte.

Grafik zu Prüfquoten nach dem MDK-Reformgesetz und ein Alternativvorschlag zur korrekten Rechnungsstellung

Wie häufig der Medizinische Dienst Klinikrechnungen prüft, soll ab 2021 davon abhängen, wie hoch die Fehlerquote im vorangegangenen Quartal war. Nach den Reformplänen der Bundesregierung dürfte der MDK beispielsweise bei Häusern mit unter 40 Prozent beanstandeten Rechnungen nur noch höchstens fünf Prozent der Rechnungen kontrollieren. Der AOK-Bundesverband schlägt stattdessen ein Modell vor, das sich am gesetzlich angestrebten Prinzip der Beitragssatzstabilität orientiert. Mit den darin vorgesehenen deutlich höheren Prüfquoten erhielten Kliniken einen Anreiz dafür, die Qualität der Rechnungsstellung zu verbessern.


Quelle: AOK-Bundesverband

Dass die Prüfquote sogar bei Häusern mit mehr als 60 Prozent fehlerhaften Abrechnungen auf 15 Prozent begrenzt bleiben soll, komme fast einem Freibrief zum Schummeln gleich, kritisiert Jürgen Malzahn: „Niemand käme auf die Idee, Temposünder erst ab der dritten Geschwindigkeitsübertretung zu bestrafen oder nur noch in jedem fünften Zug die Fahrkarten zu kontrollieren, wenn auf der Strecke im Vormonat weniger als 40 von 100 Fahrgästen als Schwarzfahrer erwischt wurden.“

Dagegen begrüßt Jürgen Malzahn, dass die Reform es ermöglichen soll, das Erfüllen von Strukturvorgaben zu prüfen. Dabei geht es zum Beispiel um Versorgungsqualität oder die Kapazität. „Dies war in der Vergangenheit umstritten“, erläutert der Krankenhausexperte. Doch es gebe gleich zwei Haken: „Für alle Abrechnungsfälle, die mit sogenannten Strukturcodes verschlüsselt werden, soll eine Einzelfallprüfung ausgeschlossen werden. Das ist bei diesen Hochpreisfällen nicht sachgerecht. Denn häufig kommt es darauf an, ob und wie intensiv vorhandene Strukturen tatsächlich für einzelne Patienten genutzt werden.“

Straffreiheit beenden.

Das finanzielle Risiko der Abrechnungsprüfungen ist für Kliniken überschaubar. Bislang müssen sie bei fehlerhaften Rechnungen lediglich den Differenzbetrag zurückzahlen. Seit Langem fordern die Krankenkassen Strafaufschläge. Stattdessen erhalten die Kliniken bisher 300 Euro als Aufwandsentschädigung für jede geprüfte Rechnung, die sich als korrekt herausstellt. Die Straffreiheit will die Bundesregierung beenden. Das MDK-Reformgesetz sieht pauschale Aufschläge auf die Differenzbeträge vor. Doch auch die Strafen sollen sich an den Auffälligkeiten im vorangegangenen Prüfzeitraum orientieren: 25 Prozent Aufschlag bei einer Fehlerquote zwischen 40 bis 60 Prozent und 50 Prozent Aufschlag bei mehr als 60 Prozent Abrechnungsfehlern. Und nach einem nachträglich in den Kabinettsentwurf vom 17. Juli eingefügten Passus werden maximal 1.500 Euro fällig. Einrichtungen mit einer Fehlerquote von unter 40 Prozent bleiben weiter gänzlich straffrei. „So werden Prüfungen vollends zur Farce“, kritisiert der Vorstandschef des AOK-Bundesverbandes, Martin Litsch. Gerade bei schweren Behandlungsfällen werde so „ein Anreiz für Upcoding als erfolgsversprechende Strategie zur Gewinnmaximierung“ gesetzt.

Der Medizinische Dienst hat die Gutachterteams überall aufgestockt.

Die AOK fordert stattdessen klare Anreize für die Krankenhäuser, die Qualität der Rechnungsstellung deutlich anzuheben. „Im Ergebnis muss die Prüfnotwendigkeit vermindert werden“, heißt es in der Stellungnahme zum Gesetzentwurf. Jürgen Malzahn erläutert: „Ungedeckelte Strafaufschläge von 50 Prozent und die Möglichkeit unbegrenzter Prüfungen sollte es bereits geben, wenn eine Klinik zuvor mit mehr als 40 Prozent fehlerhaften Abrechnungen aufgefallen ist.“

Schlichtung vergrößert Bürokratie.

Doch auch den Krankenkassen ist nicht an einer Eskalation gelegen. Sowohl der AOK-Bundesverband als auch der GKV-Spitzenverband begrüßen deshalb die Initiative der Bundesregierung, die Abrechnungsprüfung effizienter zu gestalten und Fallstricke des DRG-Abrechnungssystems zu beseitigen. Der gute Wille zu mehr Effizienz wird jedoch aus Sicht der AOK durch eine weitere Regelung im Gesetzentwurf konterkariert. „Ein neuer Schlichtungsausschuss soll Streitfälle zwischen Kliniken und Kassen entscheiden“, so Klinikexperte Jürgen Malzahn. „Die Regeln sind aber so gefasst, dass sich das Gremium mit jeder Einzelfallbeschwerde befassen und innerhalb von acht Wochen entscheiden müsste. Zusammen mit dem Verwaltungsaufwand für das Erfassen der krankenhausindividuellen Prüfquoten wird dieses Gesetz ein gewaltiges Aufblähen der Bürokratie bewirken.“ Das Streitpotenzial um richtige Krankenhausabrechnungen zu vermindern, ist ein sinnvolles Ziel. Aber die breite Zustimmung der Krankenhausverbände neben den kritischen Kommentaren machen deutlich, dass im Gesetzentwurf die Risiken für weitere Belastungen der Beitragszahler überwiegen.

Thomas Rottschäfer ist freier Journalist mit dem Schwerpunkt Gesundheitspolitik.
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