Psychisch und physisch stark belastet: Viele Pflegekräfte leiden unter den anstrengenden Arbeitsbedingungen.
Pflege-Report

Pflege unter großem Druck

Mehr Personal und höhere Löhne sind das selbstgesteckte Ziel der von der Bundes­regierung initiierten Konzertierten Aktion Pflege. Neue Berechnungen machen deutlich, wie massiv der Handlungsdruck inzwischen ist. Von Thorsten Severin

Bis zum Jahr 2030

werden allein aufgrund der Alterung der Bevölkerung zusätzlich rund 130.000 Pflegekräfte in der Langzeitpflege benötigt. Dies ist ein Ergebnis des neuen Pflege-Reports, den das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) vorgelegt hat. Kurz gesagt: Auf 4,5 Pflegekräfte muss bis dahin eine neue hinzukommen. Hochgerechnet auf Vollzeitkräfte pflegen und betreuen zurzeit knapp 590.000 Pflegekräfte die gesetzlich versicherten Pflegebedürftigen. 2030 werden schon rund 720.000 Personen benötigt. Bis zum Jahr 2050 steigt der Bedarf an Pflegekräften sogar auf knapp eine Million an.

Dabei sind die Berechnungen noch konservativ angelegt. Denn die Zahl der Pflegebedürftigen entwickelt sich laut WIdO regelmäßig deutlich schneller als aufgrund der demografischen Entwicklung anzunehmen ist. Auch die von der Regierung bereits angekündigten Regelungen zur verbesserten Personalbesetzung in Pflegeheimen sind in den Zahlen noch nicht berücksichtigt, wie Dr. Antje Schwinger, Leiterin des Forschungsbereichs Pflege im WIdO, erläutert.

Fünf Millionen Pflegebedürftige 2050.

Der Bedarf an Personal ist dabei abhängig von der Entwicklung der Pflegebedürftigkeit in Deutschland. Im Jahr 2017 gab es 3,32 Millionen gesetzlich versicherte Pflegebedürftige. Rund 4,6 Prozent aller gesetzlich Versicherten waren damit auf Pflege angewiesen. Nach den Prognosen des WIdO wird ihre Anzahl bis 2030 auf 3,92 Millionen und damit auf 5,5 Prozent aller gesetzlich Versicherten wachsen. 2050 werden sogar 7,4 Prozent (5,1 Millionen Versicherte) auf Unterstützung durch die Pflegekasse angewiesen sein.

Zwischen den Bundesländern zeigen sich dabei deutliche Differenzen. 2017 reichte die Spanne des pflegebedürftigen Bevölkerungsanteils von 3,5 Prozent in Bayern bis zu 6,7 Prozent in Brandenburg. Für 2050 prognostizieren die Autoren, dass Hamburg mit 5,5 Prozent den niedrigsten Anteil Pflegebedürftiger haben wird, während es in Brandenburg 11,1 Prozent sind. In fast allen Ländern bedeutet dies also einen Zuwachs um 60 bis 70 Prozent. „Alle Bundesländer müssen sich den absehbaren personellen Herausforderungen stellen, die mit der Entwicklung der Pflegebedürftigkeit zusammenhängen“, mahnt Expertin Schwinger. Deswegen sei es wichtig, dass die von der Konzertierten Aktion Pflege gesetzten Impulse etwa bei Bezahlung und Ausbildung zügig aufgegriffen würden. Die angestrebten Verbesserungen wirken nach den Worten von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ohnehin nicht innerhalb weniger Monate, sondern es handele es sich vielmehr um eine Aufgabe für zehn bis 20 Jahre.  

Ausfälle durch Krankheit.

Einigkeit besteht in der Politik darin, dass der Pflegejob attraktiver werden muss. Schon heute ist es schwierig, passende Bewerber auf offene Stellen zu finden. Als ein Grund gelten die hohen psychischen und physischen Belastungen, auf die der Report verweist. So stehen Zeitdruck, Arbeitsverdichtung und Abstriche bei der Qualität der Versorgung auf der Tagesordnung, wie die Auswertung von Daten der Beschäftigtenbefragungen zum DGB-Index aus den Jahren 2012 bis 2017 zeigt. Aber auch schwere körperliche Arbeit, etwa beim Umbetten und Waschen, prägt den Arbeitsalltag vieler Pflegekräfte. Hinzu kommen ungünstige Arbeitszeiten. Bei alldem empfinden die Beschäftigten ihr Einkommen meist als zu gering.

Dementsprechend lag der Krankenstand in den pflegenden Berufen im Jahr 2017 mit 7,4 Prozent deutlich über den Krankenständen aller anderen Berufe (5,3 Prozent). Tätigkeiten in der Altenpflege weisen den höchsten Wert auf (7,5 Prozent). Vor allem drei Leiden treten im Vergleich zu allen anderen Berufen überdurchschnittlich häufig und lange auf: Atemwegs-, Muskel/Skelett- sowie psychische Erkrankungen. Um die Pflege attraktiver zu machen, werden neben einer Ausbildungsreform, einer höheren Vergütung und einer Verbesserung der Arbeitsorganisation im Pflege-Report daher mehr Prävention und Gesundheitsförderung für die Beschäftigten empfohlen. Auch mehr Technikeinsatz, verbesserte Personalquoten sowie eine Entlastung durch Zuwanderung könnten helfen.

Pflegeausgaben seit 2012 verdoppelt.

Ungelöst ist die Frage, wie die Finanzierung der gesetzlichen Pflegeversicherung in Zukunft gesichert werden kann. In nur sechs Jahren sind die Ausgaben von 23 Milliarden Euro im Jahr 2012 auf 40 Milliarden Euro im Jahr 2018 angestiegen, wobei hier auch die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs eine Rolle gespielt hat. Bis ins Jahr 2022 ist nach einer Prognose des WIdO eine weitere Erhöhung auf rund 50 Milliarden Euro zu erwarten – ein Anstieg um 220 Prozent in nur zehn Jahren. Die Autoren halten es für wahrscheinlich, dass die Kosten für bessere Arbeitsbedingungen direkt an die Pflegebedürftigen durchgereicht werden. Schon jetzt zahlen sie dem AOK-Pflegeheimnavigator zufolge für die stationäre Pflege im Mittel rund 740 Euro aus eigener Tasche, zuzüglich der Kosten für Unterkunft und Verpflegung sowie Investitionskosten. In Summe macht das 1.900 Euro. Schwingers Forderung: „Wenn die Grundidee der sozialen Pflegeversicherung erhalten bleiben soll, nämlich das Pflegerisiko mit solidarischer Finanzierung substanziell abzusichern, dann brauchen wir zeitnah weitergehende Reformen.“

Höhere Beiträge.

Der Beitragssatz zur sozialen Pflegeversicherung war erst zum Jahresbeginn 2019 um 0,5 Prozentpunkte angehoben worden. Dies war die dritte Erhöhung seit 2015. Insgesamt wurde der Beitragssatz damit um einen vollen Prozentpunkt heraufgesetzt. Die Mitglieder zahlen jetzt 3,05 Prozent (Kinderlose 3,3 Prozent) ihres Bruttolohns für die Pflege. Damit sollen die Ausgaben bis 2022 gedeckt sein. Neue von der Bundesregierung geplante Maßnahmen, mit denen die Personalausstattung verbessert und höhere Gehälter bezahlt werden sollen, sind aber noch nicht einberechnet. Ein IGES-Gutachten im Auftrag des Ministeriums hatte aufgezeigt, dass die geplanten höheren Löhne je nach Modell Kosten zwischen 1,4 und 5,2 Milliarden Euro verursachen.

Die soziale Pflegeversicherung steht also vor großen Herausforderungen. Ein Beitrag zur Stärkung der Finanzierungsgrundlage könnte der Einbezug der privaten Pflegepflichtversicherung in die solidarische Pflegefinanzierung sein. Nach Berechnungen des Pflege-Reports könnte damit eine Beitragssatzentlastung von 0,4 Beitragssatzpunkten einhergehen. Die Autoren warnen zugleich, dass der Entlastungseffekt einer Bürgerversicherung begrenzt und die Einführung mit verfassungsrechtlichen Risiken verbunden wäre.

Portrait von Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender AOK-BV

„Wir brauchen einen Beitrag des Bundes“

Martin Litsch ist Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes.

„Die Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung ist nur bis 2022 gewährleistet. Wir brauchen also dringend Reformen, die das System zukunftssicher machen. Deshalb fordert die AOK einen zweckgebundenen Beitrag des Bundes. Dieser muss alle Ausgaben der Pflegeversicherung umfassen, die gesamtgesellschaftliche Anliegen sind. Dazu gehört etwa die soziale Absicherung pflegender Angehöriger. Ebenso klar muss sein, dass der Bundesbeitrag dynamisch angepasst wird. Ohne diese Rahmenbedingungen laufen wir Gefahr, dass es einen Zuschuss gibt, über den die Haushalts- und Interessenlage des Bundes entscheidet. In der GKV haben wir erlebt, welche Folgen das haben kann. Ohne kurzfristige Finanzierungsreformen wirken sich die geplanten Verbesserungen bei der Personalausstattung und bei der Bezahlung der Pflegekräfte direkt auf die Eigenbeteiligung der Pflegebedürftigen aus. Das wollen alle beteiligten Akteure händeringend vermeiden. Bislang gibt es jedoch noch keine Lösung, wie solche Anpassungen ausgestaltet und gegenfinanziert werden sollen.“

Thorsten Severin ist Redakteur der G+G.
Bildnachweis: iStock/alvarez, AOK-Mediendienst