Thema des Monats

Wettbewerb an der Leine

Alle regionalen Krankenkassen bundesweit öffnen und der Bundesaufsicht unterstellen – so will Gesundheitsminister Jens Spahn fairen Kassenwettbewerb um eine hochwertige Versorgung erreichen. Doch darin sieht Prof. Dr. Klaus Jacobs eine Luftnummer, die den Versorgungswettbewerb nicht beflügelt. Denn dafür wären andere Reformen erforderlich.

Die Bundesregierung hatte im Koalitionsvertrag vom Frühjahr 2018 angekündigt, den Risikostrukturausgleich (RSA) mit dem Ziel eines fairen Wettbewerbs weiterzuentwickeln. Dabei sollten die beiden Gutachten Berücksichtigung finden, die der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesversicherungsamt zur Evaluation des bestehenden RSA erstellt hatte. Als wesentlicher Schlüssel zur Verteilung der Finanzmittel der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) an die Krankenkassen ist der RSA zentrales Ordnungselement des Kassenwettbewerbs und deshalb seit seiner Einführung vor 25 Jahren Gegenstand gesundheitspolitischer Kontroversen. Entsprechend gespannt wurde der Gesetzentwurf zur angekündigten RSA-Reform erwartet.

Eingeschränkte Wahlfreiheit?

Was Gesundheitsminister Jens Spahn Ende März mit dem Entwurf für ein Faire-Kassenwahl-Gesetz (FKG) vorlegte, geht jedoch über eine reine RSA-Reform weit hinaus. Vielmehr soll tief in das Organisationsgefüge der GKV eingegriffen werden. Das gilt primär für die beabsichtigte bundesweite Öffnung aller Regionalkassen, also der elf AOKs, aber auch der regionalen Betriebs- und Innungskrankenkassen. Begründet wird dieser Schritt mit der angeblich eingeschränkten Wahlfreiheit der GKV-Mitglieder. Dass von den zehn größten Krankenkassen derzeit nur vier Kassen bundesweit allen GKV-Mitgliedern offen stünden, sei schwer zu vermitteln, meint Jens Spahn. Vielen Versicherten blieben damit attraktive Zusatzleistungen, bestimmte Wahltarife oder günstigere Beiträge verwehrt, ohne hierfür jedoch konkrete Beispiele zu nennen. Zudem ergäbe sich für alle Kassen eine bundesweit einheitliche Aufsicht, wodurch Wettbewerbsverzerrungen aufgrund unterschiedlichen Handelns der Aufsichten beseitigt würden.

Hoher Anspruch.

Der Anspruch, den Jens Spahn mit seiner Reformabsicht verbindet, könnte kaum höher sein. Bismarck habe die GKV in Form gebracht, in Lahnstein sei sie grundlegend modernisiert worden. Nun gehe es darum, diesen Weg fortzusetzen und den Wettbewerb der Kassen noch stärker auf die Verbesserung von Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung auszurichten. Das klingt beeindruckend. Doch die im FKG-Entwurf vorgesehenen Reformen haben kaum etwas mit der Realisierung dieser Zielstellung zu tun. Warum das so ist und was stattdessen unternommen werden müsste, um den in Lahnstein begonnenen Wettbewerbskurs der GKV im Interesse der Versicherten und Patienten konsequent fortzusetzen, soll im Folgenden näher beleuchtet werden.

Zunächst sei ein Blick zurückgeworfen: Was ist mit „Lahnstein“ eigentlich gemeint, wenn es um die GKV geht? Viele Beteiligte der aktuellen Gesundheitspolitik dürften an den Spätherbst 1992 gar keine eigene Erinnerung haben. Damals hatten sich in Lahnstein am Rhein Gesundheitspolitiker von Bund und Ländern auf weitreichende Strukturreformen für die GKV verständigt, die dann mit dem Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) schrittweise umgesetzt wurden. Dazu zählten vor allem die Einführung der weithin unbeschränkten Kassenwahlfreiheit für alle GKV-Mitglieder sowie des RSA. Im Ergebnis wurde damit eine Richtungsentscheidung zugunsten einer wettbewerblichen Orientierung der GKV gefällt.

Bund und Länder saßen an einem Tisch.

An drei spezielle Aspekte der Lahnstein-Reform soll hier erinnert werden. Der erste betrifft die unmittelbar Beteiligten. Lahnstein war eine Klausur von Gesundheitspolitikern aus Bund und Ländern, und zwar nicht nur der im Bund regierenden christlich-liberalen Koalition, sondern auch der im Bund oppositionellen SPD, an der im Bundesrat kein Weg vorbeiführte. Die beiden Verhandlungsführer, Horst Seehofer (Union) und Rudolf Dreßler (SPD), wollten zusammen mit den Ländern in der Sache etwas bewegen. Diese gewiss nicht alltägliche Konstellation gilt im Rückblick als wichtiger Erfolgsfaktor. Im Unterschied dazu war bei Jens Spahns FKG-Vorstoß nicht einmal der Koalitionspartner in seine Überlegungen einbezogen, von den Ländern ganz zu schweigen.

Wettbewerb war Begleiterscheinung.

Eine zweite Reminiszenz an Lahnstein betrifft den Mythos der bewusst herbeigeführten Wettbewerbsorientierung der GKV. In Wirklichkeit ging es damals primär darum, die Kassenwahlrechte von Arbeitern und Angestellten anzugleichen. Eingeschränkte Wahlrechte und überkommene Zuweisungsregelungen waren mit gravierenden Ungerechtigkeiten verbunden und führten zu immer größeren, verfassungsrechtlich bedenklichen Beitragssatzunterschieden.

Einig waren sich die Beteiligten darin, dass nur eine Reform „nach vorn“ infrage kam, also keine weiteren Einschränkungen der Kassenwahlrechte bestimmter Versichertengruppen, sondern die Freigabe der Kassenwahl. Dass damit in der Folge zunehmender Wettbewerb zwischen den Krankenkassen verbunden war, wurde als unvermeidliche Begleiterscheinung mehr oder weniger in Kauf genommen. Es gab damals jedoch keine rundweg positive Grundhaltung zum Wettbewerb als wirksames Steuerungsinstrument in der GKV. Vielleicht erklärt das ein Stück die alles andere als konsequente Fortsetzung des in Lahnstein eingeschlagenen Wettbewerbskurses.

In seinem Urteil zum Risikostrukturausgleich hat sich das Bundesverfassungsgericht 2005 auch mit regionalen Versorgungsunterschieden und damit korrespondierenden Beitragssatzunterschieden befasst.

Sein Ergebnis: „Soweit regional unterschiedliche Kostenniveaus darauf beruhen, dass es zwischen Stadt und Land Unterschiede im Hinblick auf die Versorgungs­dichte oder die Qualität der Versorgung (modernere, bessere, teurere Ausstattung) gibt, ist es gerechtfertigt, dass diejenigen Versicherten, die in den Genuss einer regional besseren Versorgung gelangen, die hieraus resultierenden Mehrkosten in Form höherer Beitragssätze allein zu tragen haben. Beitragssatzunterschiede sind verfassungsrechtlich nur dann problematisch, wenn Versicherte trotz gleich hohen Einkommens für gleiche Leistungen unterschiedlich viel zahlen müssen.“

Weiterhin stellte das Bundesverfassungsgericht fest: „Schließlich sind auch mögliche regionale Wirtschaftlichkeits- und Effizienzunterschiede als Ursache für regionale Kostenunterschiede nicht notwendig ausgleichsrelevant. Dass es etwa Regionen gibt, in denen die Krankenhausbedarfsplanung besser funktioniert als in anderen Landesteilen, musste den Gesetzgeber – unabhängig von einem möglichen Einfluss der Kassen – nicht zur Berücksichtigung veranlassen. Ziel ist es, die Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung insgesamt zu verbessern, nicht aber, regionale Unwirtschaftlichkeiten durch Zuweisung eines höheren Beitragsbedarfs zu subventionieren und damit zu verfestigen.“

Quelle: Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 18.7.2005, Aktenzeichen 2 BvF 2/01 vom 18.7.2005, Rn. 206 f.

Die dritte Erinnerung im Kontext von Lahnstein gilt den Krankenkassen und ihren Verbänden. Sie wollten keine freie Kassenwahl aller GKV-Mitglieder und einen dadurch forcierten Wettbewerb. Stattdessen setzten sie in erkennbarem Eigeninteresse auf erweiterte Zuweisungsregelungen (etwa die AOK) beziehungsweise nur geringfügig erweiterte Kassenwahloptionen unter Fortbestand der selbst in der Arbeitswelt längst überholten Unterscheidung von Arbeitern und Angestellten (speziell die Ersatzkassen). Im Interesse der Versicherten nahm die Politik hierauf jedoch keine Rücksicht.

Kassen passten sich schnell an.

Bemerkenswert war aber nun die folgende Reaktion: Nachdem die politische Grundsatzentscheidung zugunsten einer wettbewerblichen Orientierung der GKV gefällt und das GSG verabschiedet war, wurde seitens der Kassen und ihrer Verbände nicht lange lamentiert. Vielmehr begannen sie unverzüglich mit der Anpassung an die veränderten Rahmenbedingungen. Ein guter Indikator hierfür ist der starke Rückgang der Kassenzahl, die durch Fusionen sehr schnell von über 1.200 Kassen vor Inkrafttreten des GSG bis 1996, dem Beginn der freien Kassenwahl, bereits um fast die Hälfte und bis zum Jahr 2000 um fast zwei Drittel zurückging. Dieser Prozess hat sich bis heute weiter fortgesetzt: Anfang 2019 gab es weniger als 110 gesetzliche Krankenkassen – und damit weniger als zehn Prozent der Kassenzahl vor dem GSG. Mit dieser Entwicklung verbindet sich auch ein grundlegender Wandel im Selbstverständnis der Kassen, das oftmals schlagwortartig mit „Dienstleister statt Behörde“ beschrieben wird.

Kassenverbände setzten auf Vertragswettbewerb.

Die rasche Anpassung an die veränderten Rahmenbedingungen fand ihren Niederschlag aber auch bei den Kassenverbänden. Schon im Herbst 1994, also nur knapp zwei Jahre nach Lahnstein, legte die Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Krankenkassen ein Positionspapier mit dem Titel „Solidarische Wettbewerbsordnung als Grundlage für eine zukunftsorientierte gesetzliche Krankenversicherung“ vor. In diesem Papier – wegen der Farbe seines Umschlags auch als „Ochsenblut-Broschüre“ bekannt – wurde festgestellt, dass der Kernbereich des Kassenwettbewerbs die Vertragspolitik sei. Dabei gehe es in erster Linie darum, Wirtschaftlichkeitsreserven in der Versorgung zu erschließen und die Qualität der Versorgung zu verbessern. Hierzu sollte im Wettbewerb nach optimalen Vertragslösungen gesucht werden. Um die tragenden Strukturprinzipien der GKV sicherzustellen, sei jedoch ein einheitlicher Rahmen notwendig, der insbesondere zwei Dimensionen umfasse: einen einheitlichen Leistungskatalog sowie bestimmte Qualitätsstandards im Sinne von Mindeststandards.

An Lippenbekennnissen zum Vertragswettbewerb mangelt es nicht. Doch den Rahmen schafft die Politik nicht.

Diese klare ordnungspolitische Positionierung, die dem Wettbewerb der Krankenkassen eine wichtige Funktion bei der Versorgungsgestaltung zuweist, basiert auf dem Verständnis eines wechselseitigen wettbewerblichen Beziehungsgeflechts zwischen den drei zentralen Akteursgruppen der Versicherten/Patienten, der Krankenkassen und der Leistungserbringer auf drei Märkten: dem Versicherungs-, dem Leistungs- und dem Behandlungsmarkt. Dieses Wettbewerbskonzept bezeichnet die internationale Gesundheitsökonomie gewöhnlich als „Managed Competition“ – ein Begriff, der auf den US-Ökonomen Alain Enthoven zurückgeht. In Deutschland hat sich spätestens seit der Ochsenblut-Broschüre von 1994 die Bezeichnung „solidarische Wettbewerbsordnung“ eingebürgert (siehe Glossar).

Rhetorik ohne Substanz.

Allerdings stieß das wegweisende Positionspapier der Kassenverbände bei der Politik kaum auf Resonanz. Hier war Wettbewerb als Konzept zur Versorgungssteuerung nicht sonderlich gefragt – zumindest nicht in einer Form, die neben den Krankenkassen auch die Leistungserbringer deutlich stärker dem Wettbewerb ausgesetzt und über Selektivverträge auf den Behandlungsmarkt durchgeschlagen hätte. Dabei hat es an politischen Absichtserklärungen, die offene vertragswettbewerbliche Flanke bei der Umsetzung der solidarischen Wettbewerbsordnung zu schließen, keineswegs gemangelt. Das zeigt allein schon ein Blick in die Koalitionsverträge früherer Bundesregierungen.

So hieß es 2005 im Koalitionsvertrag der damaligen Großen Koalition, dass „der Bereich der Gesundheitsversorgung (…) durch die Schaffung flexiblerer Rahmenbedingungen konsequent wettbewerblich ausgerichtet werden (soll). Krankenkassen und Leistungserbringer sollen stärker über Umfang, Preise und Qualität verhandeln können.“ Vier Jahre später, 2009, hatte sich zwar die Zusammensetzung der Regierungskoalition verändert. Doch auch die nunmehr amtierende christlich-liberale Bundesregierung kündigte an: „Wir wollen, dass die Krankenversicherungen genügend Spielraum erhalten, um im Wettbewerb gute Verträge gestalten zu können und regionalen Besonderheiten gerecht zu werden“ – eine Formulierung, die sich fast wortgleich weitere vier Jahre später, 2013, im Koalitionsvertrag der Großen Koalition wiederfindet.

Das Problem: So eindeutig in der Sache und konstant über die Zeit die Wettbewerbsrhetorik wechselnder Bundesregierungen ausfiel, so wenig spiegelte sie sich in der praktischen Gesundheitspolitik wider. Das letzte gesundheitspolitische Reformwerk, das gefühlt mehr Erweiterungen wettbewerblicher Vertragsoptionen enthielt als Einschränkungen, war das 2004 in Kraft getretene GKV-Modernisierungsgesetz (GMG). Danach dominierten immer detailliertere Gesetzesvorschriften und Verpflichtungen der Kassen, gemeinsam und einheitlich zu handeln, meist nach bundeseinheitlichen Vorgaben. Das soeben in Kraft getretene Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) macht in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Wer glaubt, die Sprechstundenzeiten für gesetzlich Versicherte in über 100.000 Arztpraxen per Bundesgesetz regeln zu können, benötigt keine dezentralen und flexiblen Vertragsmodelle.

Wettbewerbsferner Innovationsfonds.

Vor diesem Hintergrund war es durchaus eine Überraschung, dass Jens Spahn bei der Vorstellung des FKG-Entwurfs explizit an Lahnstein erinnerte, also gleichsam an die Wiege des GKV-Wettbewerbs, und zeitgleich im Handelsblatt ein Namensartikel des Ministers erschien mit der Überschrift „Für die beste Versorgung“. Schließlich ist Jens Spahn zusammen mit Karl Lauterbach auch geistiger Vater des alles andere als wettbewerblich ausgestalteten Innovationsfonds (siehe Glossar). Dort entscheidet ein Gremium über die Verwendung der Fondsmittel, dem ausgerechnet die Spitzenverbände der Leistungserbringer angehören, an denen in der Vergangenheit schon so manche gute Versorgungsidee gescheitert ist, wenn sie nicht in die sektorale Zuständigkeitsverteilung passte. Kurzum: Wettbewerbskompatible Innovationsförderung, etwa in Gestalt kassenbezogener Budgets, sieht anders aus als das zentralistische Förderkonzept von Gesundheitsminister Spahn.

  • Albrecht, M.: Potenziale für mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen. Arbeitspapier 5/2018 des Sachverständigenrats zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung. Download
  • Cassel, D., Jacobs, K.: Mehr Versorgungsinnovationen – aber wie? Innovationswettbewerb statt Innovationsfonds in der GKV-Gesundheitsversorgung. In: Recht und Politik im Gesundheitswesen (RPG) 2015; 21 (3): 55–68.
  • Cassel, D., Jacobs, K., Vauth, C., Zerth, J. (Hrsg.): Solidarische Wett­bewerbsordnung. Genese, Umsetzung und Perspektiven einer Konzeption zur wettbewerblichen Gestaltung der Gesetzlichen Krankenversicherung. Medhochzwei-Verlag, Heidelberg 2014.
  • Monopolkommission: Stand und Perspektiven des Wettbewerbs im deutschen Krankenversicherungssystem. Sondergutachten 75, 2017. Download

Dass das Wettbewerbsmodell des FKG-Entwurfs entgegen der Ankündigungsrhetorik nichts mit der gezielten Verbesserung von Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung zu tun hat, haben die beiden Landesgesundheitsminister der Grünen aus Baden-Württemberg und Hessen, Manfred Lucha und Kai Klose, in einem gemeinsamen Schreiben an Jens Spahn vom 4. Juni 2019 auf den Punkt gebracht. Die bundesweit geöffneten Regionalkassen, schreiben sie darin, würden in neuen Regionen keine namhaften strukturbildenden Versorgungsanstrengungen unternehmen (können). Wohl aber würde ihr heutiges regionales Versorgungs-Kerngeschäft unter den organisatorischen Zwängen der Bundeszwangsöffnung nachhaltig beschädigt.

Hoher Aufwand für Versorgungsverträge.

Betrachten wir exemplarisch den wiederholt positiv evaluierten Hausarztvertrag der AOK Baden-Württemberg mit angeschlossenen Facharztverträgen. So etwas lässt sich nicht einfach in andere Regionen übertragen. Denn dafür sind geeignete Vertragspartner vor Ort notwendig. Die gibt es weder per Knopfdruck noch per Gesetz. Vorbereitung, Umsetzung und Begleitung eines solchen Versorgungsprogramms sind mit hohem Aufwand verbunden, den kleine Kassen, aber auch bundesweite Großkassen mit begrenzten regionalen Marktanteilen kaum leisten können. Gewiss würden diese Kassen davon profitieren, wenn die AOK Baden-Württemberg zur bundesweiten Öffnung gezwungen würde und ihre Ressourcen auch vielen neuen Aufgaben in anderen Regionen widmen müsste. Die Versicherten und Patienten hätten hiervon jedoch nirgendwo in Deutschland einen Vorteil.

Dieses Beispiel macht zugleich aber auch deutlich, dass die Frage der Marktkonzentration nicht einfach zu beantworten ist. Zweifellos kann eine zu hohe Marktmacht dem Wettbewerb abträglich sein. Deshalb muss möglichem Missbrauch wirksam begegnet werden. Doch wie ist der relevante Markt überhaupt abzugrenzen – etwa bei Verträgen mit lokalen Arztnetzen im Vergleich zu Arzneimittel-Rabattverträgen? Schließlich benötigen die Kassen für einen wirksamen Vertragswettbewerb bestimmte Mindestvoraussetzungen. Das gilt für ihre absolute Größe, ohne die sie gar nicht das erforderliche Management-Know-how vorhalten könnten, aber auch für ihre relative Größe im relevanten Markt, ohne die sie für potenzielle Vertragspartner auf der Seite der Leistungserbringer gar nicht hinreichend attraktiv wären. Diese Frage scheint versorgungs- und wettbewerbspolitisch noch längst nicht hinreichend geklärt.

Regionale Zusatzbeiträge zeigen Versorgungsunterschiede auf.

Kein Zweifel besteht hingegen daran, dass die Versorgung primär vor Ort gestaltet wird: dezentral und flexibel unter Berücksichtigung der regionalspezifischen Nachfrage- und Angebotskonstellationen. Natürlich können das grundsätzlich auch bundesweite Kassen leisten. Aber wenn Kollektivverträge (siehe Glossar) laut Verband der Ersatzkassen 97 Prozent der Versorgung ausmachen, kann es mit Vertragswettbewerb bei ihnen nicht allzu weit her sein. Satzungsleistungen und Wahltarife ohne Verträge mit örtlichen Leistungserbringern kann heute ohnehin schon jede Kasse überall anbieten. Insofern wird auch jetzt schon niemandem etwas „verwehrt“. Und der Preis einer Kasse, sprich: ihr Zusatzbeitrag? Der hat unmittelbar mit dem Wert der Versorgung zu tun, und die fällt regional teilweise sehr unterschiedlich aus. Deshalb sind regional differenzierte Zusatzbeiträge aller Kassen der richtige Weg: Sie sorgen für fiskalische Äquivalenz (siehe Glossar) und machen Versorgungsunterschiede transparent. Wie schon 1995 vom Sachverständigenrat Gesundheit vorgeschlagen, ist dieser Weg gleich dreifach richtig:

• wettbewerbspolitisch, weil dann auch bundesweite Kassen in ausgabengünstigen Regionen konkurrenzfähig wären,
• allokationspolitisch, weil unwirtschaftliche Krankenhausstrukturen in einzelnen Regionen nicht durch Subventionen am Leben erhalten würden, und
• verteilungspolitisch, weil die Beitragszahler in anderen Regionen diese Subventionen nicht mitfinanzieren müssten.

Dagegen hat ein bundeseinheitlicher Beitrag bei unterschiedlicher Versorgung mit Solidarität nichts zu tun – im Gegenteil. Hierzu empfiehlt sich nach wie vor die Lektüre des RSA-Urteils des Bundesverfassungsgerichts von 2005 (siehe Kasten „Karlsruhe: Regionale Beitragsunterschiede verfassungskonform“).

Geteilte Aufsicht durch Länder und Bund.

Weil Versorgung primär regional gestaltet wird, muss auch die Aufsicht durch die Länder erfolgen – einheitlich für alle Kassen. Das Grundgesetz weist den Ländern die Aufgabe der Daseinsvorsorge zu. Dazu zählt auch die Gesundheits- und Pflegeversorgung. Versorgungsorientierter Kassenwettbewerb – wenn er wirklich gewollt ist – kann schon deshalb nicht vollkommen an den Ländern vorbei betrieben werden. Die einheitliche Aufsicht über das Geschäftsgebaren der miteinander konkurrierenden Kassen sollte dagegen Angelegenheit des Bundes sein. Ein solches Modell der geteilten Aufsicht wäre damit zugleich versorgungs- und wettbewerbskompatibel.

Defizite beim Vertragswettbewerb.

Entscheidend für die Fortsetzung des Wettbewerbskurses von Lahnstein ist aber nicht, die Ordnung des Kassenwettbewerbs zu vervollkommnen. Natürlich sind Maßnahmen wie regionale Zusatzbeiträge oder die funktionale Neuordnung der Aufsicht notwendig und richtig – ebenso wie die Weiterentwicklung des RSA zur weiteren Erhöhung der Zielgenauigkeit der Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds. Die zentralen Defizite bei der Umsetzung des Konzepts der solidarischen Wettbewerbsordnung liegen jedoch nicht auf dem Versicherungsmarkt, also in den Wettbewerbsbeziehungen von Kassen und Versicherten. Sie liegen primär auf dem Leistungsmarkt, also in den vertragswettbewerblichen Beziehungen zwischen Kassen und Leistungserbringern. Für die kollektivvertraglich auf hohem Niveau abgesicherten Anbieter von Versorgungsleistungen lohnt es sich praktisch nicht, im Rahmen von Selektivverträgen mit Krankenkassen aktiv für neue Versorgungsformen einzutreten, die die Qualität und Wirtschaftlichkeit erhöhen. Das führt dazu, dass eigene Investitionsrisiken nicht eingegangen werden und Selektivverträge mittlerweile geradezu zu einem Synonym für die Forderung nach zusätzlicher Vergütung geworden sind.

Von einer konsequenten Forcierung vertragswettbewerblicher Aktivitäten nach der Devise „Vorfahrt für Selektivverträge“ kann bei Jens Spahn keine Rede sein. Dazu wäre eine gesundheitspolitische Strategie erforderlich, nach der das Selektivvertragssystem systematisch vorangetrieben würde. Dagegen blieben die Kollektivverträge am Ende vor allem auf Bereiche beschränkt, die sich nicht für Wettbewerbssteuerung eignen, wie etwa die Notfallversorgung, die Behandlung seltener Erkrankungen oder die Versorgung in strukturschwachen Regionen. Hierzu wäre jedoch ein spürbarer Rückbau der Kollektivstrukturen erforderlich, speziell eine Lockerung des Kontrahierungszwangs der Kassen auf der Grundlage zentraler Bedarfsplanung. Andernfalls käme wettbewerbliche Versorgungssteuerung trotz aller Rhetorik kaum über ihr bisheriges Nischendasein hinaus.

Glossar:

Fiskalische Äquivalenz

Finanzwissenschaftliches Prinzip, wonach die Finanzierung einer bereitgestellten Leistung anteilsmäßig durch diejenigen erfolgt, die davon profitieren. Danach wäre die Finanzierung der Gesundheitsversorgung als vorwiegend regionales Gut in erster Linie Aufgabe der Versicherten vor Ort; Leistungen der Umlandversorgung wären durch die Nutzer gesondert zu vergüten.

Innovationsfonds

Zentralwirtschaftliches Instrument zur Förderung neuer Versorgungsmodelle mit Beitragsmitteln der GKV im Rahmen der gemeinsamen Selbstverwaltung von Krankenkassen und Leistungs­erbringern unter direkter Beteiligung von Ministerien des Bundes.

Kollektivvertrag

Obligatorische Versorgungsverträge auf sektoraler Ebene zwischen Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen beziehungsweise Krankenhäusern auf der Grundlage zentraler Kapazitätsplanung und Zulassung; Abschluss seitens der Kassen gemeinsam und einheitlich.

Risikostrukturausgleich

Zentraler Schlüssel zur Verteilung der Finanzmittel des Gesundheitsfonds an die Krankenkassen und damit Kernstück des Ordnungsrahmens für den Kassenwettbewerb um Versicherte; Simulation risikogerechter Beiträge zur Verhinderung von unerwünschter Risikoselektion.

Selektivvertrag

Zentrales Instrument des Vertragswettbewerbs, mit dem einzelne Kassen und Leistungserbringer vorwiegend regionale Versorgungsmodelle zur Verbesserung von Qualität und Wirtschaftlichkeit vereinbaren; meist freiwillige Teilnahme der Versicherten in Verbindung mit speziellen Wahltarifen.

Solidarische Wettbewerbsordnung

Wettbewerbskonzept in der GKV mit drei Märkten: dem Versicherungsmarkt (Wettbewerb um Versicherte), dem Behandlungsmarkt (Wettbewerb um Patienten) und dem Leistungsmarkt (Wettbewerb um Versorgungsverträge); Umsetzungsdefizite primär beim Vertragswettbewerb auf dem Leistungsmarkt.

Klaus Jacobs ist Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO).
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