Antipsychotika bei Demenz

Riskante Ruhe auf Rezept

Verhaltensauffällige Menschen mit Demenz werden in Pflegeheimen häufig dauerhaft mit Antipsychotika behandelt. Der Nutzen einer solchen Medikation ist fraglich, der potenzielle Schaden groß. Prof. Dr. Gabriele Meyer fordert ein rasches Ende dieser unzulässigen Verordnungspraxis.

Die Schlagzeile hatte es in sich: „Vollgepumpt mit Psychopharmaka – Alte Menschen in Pflegeheimen“ betitelte das Politikmagazin „Panorama“ des Norddeutschen Rundfunks einen kritischen Filmbeitrag. Ausgestrahlt wurde er im Jahr 1999. Das Problem aber besteht noch heute. Alle paar Jahre berichten Zeitungen und das Fernsehen über die hohen Verordnungszahlen von Antipsychotika in Pflegeheimen. Die Befunde basieren zumeist auf Analysen von Sekundärdaten der Kranken- und Pflegekassen. Das Wissenschaftliche Institut der AOK etwa wertete die Verordnung von Antipsychotika bei mehr als 83.000 Pflegebedürftigen mit Demenz in 2.218 vollstationären Pflegeeinrichtungen aus und kam zu dem Ergebnis, dass 40 Prozent von ihnen mindestens ein Antipsychotikum erhielten (Behrendt et al. 2019; siehe auch Interview).

Mangelndes Problembewusstsein.

Bereits seit Jahrzehnten erbringen Analysen ähnliche Ergebnisse. Es drängt sich der Eindruck auf, dass es eigentlich niemanden ernsthaft interessiert, ob Bewohnerinnen und Bewohner in stationären Pflegeein­richtungen massiv mit Medikamenten ruhiggestellt werden. Vielleicht besteht aber auch gar kein Problembewusstsein? Nicht selten wird die Gabe von psychotrop wirksamen Substanzen – von Wirkstoffen also, die das Bewusstsein und die Stimmungslage verändern – als notwendig oder aber als Gnade erachtet, mitunter sogar als Zugang zu legalem Drogenkonsum verklärt. Als Beispiel sei hier der im Juli 2019 in der Süddeutschen Zeitung veröffentlichte Beitrag „Der Rausch“ von Werner Bartens nebst der darauf folgenden Leserbriefe genannt.

Für Demenzpatienten ungeeignet.

Insgesamt werden in deutschen Pflegeheimen bis zu 60 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner mit psychotrop wirksamen Medikamenten behandelt. Dazu zählen vorrangig Antipsychotika, aber auch Tranquilizer, Schlafmittel und Antidepressiva. Psychotrope Medikamente werden oft eingesetzt, um die Menschen an selbstbestimmter Fortbewegung zu hindern, sie antriebslos und schläfrig zu machen. Insbesondere Antipsychotika stehen in der Kritik. Sie werden verschrieben, um sogenannte herausfordernde Verhaltensweisen bei Menschen mit Demenz zu kontrollieren. Dazu zählen zum Beispiel Bewegungsdrang, innere Unruhe oder Wahnvorstellungen. Gemäß Leitlinien dürfen Antipsychotika maximal zur Kurzzeitbehandlung eingesetzt werden, denn sie können schwere Nebenwirkungen haben. Eine kurzfristige Antipsychotika-Behandlung (über sechs bis zwölf Wochen) mittels Risperidon, Olanzapin und Aripiprazol kann einer Studie zufolge bei schwerer Aggression zu einer geringfügigen Linderung dieser herausfordernden Verhaltensweise führen (Farlow et al. 2017; Maher et al. 2011). Ein Nutzen im Hinblick auf andere herausfordernde Verhaltensweisen und auf eine längerfristige Therapie ist hingegen nicht erwiesen (Ballard et al. 2009). Andere Untersuchungen zeigen, dass Antipsychotika dennoch über zu lange Zeiträume verordnet werden (Gustafsson et al. 2013).

Die Anwendung von Antipsychotika erfolgt bei Menschen mit Demenz zumeist im Off-Label Use. Die Medikamente wurden nämlich für deren Hauptindikation mit jüngeren Patienten untersucht und eben nicht für die Zielgruppe älterer Menschen mit demenziellen Veränderungen. Nur das Medikament Risperidon ist für die Indikation der Verhaltensstörungen bei Demenz zugelassen.

Schwerwiegende Nebenwirkungen bekannt.

Die Nebenwirkungen von Antipsychotika sind in der wissenschaftlichen Literatur hinreichend beschrieben. Sie können zu psychomotorischen Störungen führen und gehen mit einer erhöhten Sterblichkeit einher, bedingt durch kardiale Komplikationen und Infektionen sowie ein erhöhtes Schlaganfallrisiko. Weitere bekannte Nebenwirkungen sind eine Bewusstseinstrübung, Schwindel und ein erhöhtes Sturzrisiko sowie eine Verschlechterung der Kognition. Menschen mit Demenz sind besonders gefährdet. Bei ihnen ist zum Beispiel das Risiko für einen Schlaganfall, Atemwegsinfektionen, Gangstörungen und Stürze deutlich erhöht.

Der britische Theologe und Psychogerontologe Tom Kitwood entwickelte ab Mitte der 1980er-Jahre den Ansatz der person-centered care. Das Konzept der person-zentrierten Pflege und Betreuung zielt darauf ab, die Lebensqualität von Menschen mit Demenz zu steigern und herausforderndes Verhalten zu reduzieren. Kitwoods Ansatz fokussiert nicht die krankheitsbedingte Beeinträchtigung, sondern die Individualität des Menschen mit Demenz. Pflegerische und therapeutische Maßnahmen sollen das Wohlbefinden des oder der Pflegebedürftigen und eine gelingende Beziehung zu den Mitmenschen in den Mittelpunkt stellen. Zentrale Merkmale der person-zentrierten Pflege sind Echtheit (Kongruenz), positive Wertschätzung (Akzeptanz) und einfühlendes Verstehen (Empathie).

Manche Nebenwirkungen von Antipsychotika – wie Schlaganfall oder vorzeitiger Tod, aber auch Stürze und sturzbedingte Verletzungen – sind nicht im Einzelfall als Folge der Medikamentenverordnung erkennbar. In der klinischen Routine beobachtbare Konsequenzen der Behandlung mit Antipsychotika sind hingegen Antriebslosigkeit, Müdigkeit sowie eine Verschlechterung des geistigen Zustandes und der Motorik. Doch diese werden offenbar in Kauf genommen.

Antipsychotika können selbst innere Unruhe oder Agitiertheit auslösen. Das kann dazu führen, dass psychotische Nebenwirkungen der Antipsychotika wiederum mit Antipsychotika behandelt werden. Am Ende gelingt es nicht mehr, zwischen settingbedingten, altersbedingten und durch Psychopharmaka bedingten Erregungszuständen zu differenzieren. Auch das unsachgemäße Absetzen von (primär nicht indizierten) Psychopharmaka kann zu erheblichen (vorübergehenden) Verschlechterungen des Gesundheitszustands führen, die wiederum eine nicht indizierte weitere Verabreichung oder Intensivierung der Medikation nach sich ziehen (Gøtzsche 2015).

Antipsychotika als Ultima Ratio.

Folglich sollten Antipsychotika erst als letzte therapeutische Möglichkeit verabreicht und grundsätzlich vorsichtig, mit der niedrigsten therapeutischen Dosis und so kurz wie möglich verschrieben werden. Dabei sind ihre Wirkungen und Nebenwirkungen regelmäßig zu überprüfen. Sie sollten abgesetzt werden, wenn die Symptome nachlassen oder in einem Zeitfenster von drei Monaten verschwinden. Setzt man Antipsychotika als Langzeitbehandlung bei älteren Menschen mit Demenz ab, ergeben sich keine nachteiligen Auswirkungen auf das Verhalten, vor allem dann, wenn die Symptome nicht schwerwiegend sind. Erstellt ein Team aus Apothekern, behandelnden Ärzten und Pflegenden regelmäßig strukturierte Medikationsgutachten, kann das zu einer Optimierung der Verordnungspraxis und -dauer von psychotrop wirksamen Medikamenten führen. Das ist das Ergebnis einer niederländischen Studie mit Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohnern mit Demenz, die herausforderndes Verhalten zeigten (van der Spek et al. 2018).

Individuelle Zuwendung wirkt.

Leitlinien empfehlen primär psycho­soziale und umgebungsmodifizierende Maßnahmen (DGPPN/DGN 2016). Bei herausfordernden Verhaltensweisen haben sich nicht-pharmakologische Interventionen als wirksam erwiesen, die individuell auf die Person mit Demenz zugeschnitten sind. Dazu zählen unter anderem Angebote körperlicher Aktivität, aktive und rezeptive Musiktherapie, die Anwendung von Aromastoffen sowie multisensorische Verfahren. Ein Cochrane-Review, der die Wirksamkeit psychosozialer Interventionen zur Reduktion von Antipsychotika-Verordnungen in Pflegeheimen untersuchte, ergab: Eine Schulung und Unterstützung der in die Versorgung involvierten Personen hat positive Effekte (Richter et al. 2012). Von den insgesamt vier Stu­dien, die der Review einschloss, wies eine Studie aus Großbritannien (Fossey et al. 2006) den größten Effekt auf: Die Rate der Antipsychotika-Verschreibungen sank hier von anfänglich 47 auf 23 Prozent. Die Grundlage dafür bildete eine Kombination dreier Maßnahmen:

  • ein regelmäßiger Medikamentencheck durch Experten
  • eine Beratung der verschreibenden Ärzte und
  • ein Schulungs- und Informationsprogramm für die Pflegenden zum individuellen, person-zentrierten Umgang mit den Pflegeheimbewohnern (siehe Kasten „Stichwort: person-zentrierte Pflege).

In der Kontrollgruppe fand lediglich ein regelmäßiger Medikationscheck statt. Hier sank die Verschreibungsrate weniger stark, nämlich von 49,7 auf 42,1 Prozent.

Große Erprobungsstudie in Deutschland.

Dieser vielversprechende britische Ansatz wurde an die deutschen Verhältnisse anpasst und im Rahmen der großen kontrollierten Studie EPCentCare (Effekt person-zentrierter Pflege und Versorgung auf die Verschreibungshäufigkeit von Antipsychotika in Pflegeheimen) in Deutschland erprobt. An der Cluster-randomisierten kontrollierten Studie nahmen 37 Pflegeheime in Halle (Saale), Witten und Lübeck teil. Die teilnehmenden Einrichtungen sollten jeweils mindestens 50 Bewohnerinnen und Bewohner haben, über ausreichende personelle und zeitliche Ressourcen für die Studie verfügen und während des Studienzeitraums keine weiteren speziellen „Demenzprojekte“ oder andere Ereignisse anbieten, die die Intervention hätten beeinflussen können.
 
Grundsätzlich konnten alle Bewohner der Einrichtungen teilnehmen. Ausgeschlossen waren jedoch Menschen in der Kurzzeitpflege sowie mit einer Diagnose, für die eine Absetzung von Antipsychotika kontraindiziert ist (Schizophrenie, schizoaffektive Psychose oder andere Formen der primären Psychose wie bipolare Störung). In die Auswertung gingen die Daten von 1.153 Pflegebedürftigen ein. Ihr mittleres Alter bei Studienbeginn lag sowohl in der Interventions- als auch in der Kontrollgruppe bei etwa 84 Jahren. Der Frauenanteil betrug rund 73 Prozent. Eine kognitive Beeinträchtigung (gemäß Dementia Screening Scale) wiesen 58 Prozent der Teilnehmenden auf, 56 Prozent zeigten ein agitiertes Verhalten (gemäß Cohen-Mansfield Agitation Inventory).

Die Anwendung von Antipsychotika erfolgt bei Menschen mit Demenz zumeist im Off-Label Use.

In der Interventions- wie auch in der Kontrollgruppe wurde die Medikamentenverordnung alle drei Monate gesichtet, um eine leitliniengerechte optimale Standardversorgung zu ermöglichen. Zu diesem Zweck überprüften klinisch-pharmakologisch ausgewiesene Ärzte die Medikation. Die verschreibenden Mediziner erhielten eine Rückmeldung mit einer Empfehlung zum Absetzen, Ausschleichen oder zur Reduzierung der Antipsychotika. Alle in die Verschreibung eingebundenen Ärzte (Allgemeinmediziner, Neurologen und Psychiater) konnten zudem auf Wunsch an einer zweistündigen zielorientierten Fortbildung teilnehmen.

Spezielle Schulung für Pflegende.

In den Pflegeheimen der Interventionsgruppe fand zusätzlich ein zweitägiger Workshop zur person-zentrierten Pflege und Betreuung sowie ein kontinuierliches Supervisionsprogramm statt. Dafür erhielten ausgewählte Beschäftigte der Einrichtungen eine Schulung als Experten für person-zentrierte Altenpflege (EPA) und eine kontinuierliche Begleitung über zwölf Monate. Die EPA wurden darauf vorbereitet, organisatorischen Veränderungsbedarf innerhalb der Einrichtung zu erkennen, die Implementierung einer person-zentrierten Versorgung in der Pflegeeinrichtung (Förderung der person-zentrierten Aktivitäten und Interaktionen) zu planen und zu unterstützen, die Empfehlungen der Medikationsgutachten im Team zu diskutieren und Kontakt zu den Ärzten aufzunehmen. Als Multiplikatoren übernahmen sie die Beratung, Anleitung und Begleitung ihrer Kolleginnen und Kollegen. Gleichzeitig waren sie die primären Ansprechpartner für Angehörige und Ärzte.
 
In den Einrichtungen der Interventionsgruppe begleitete eine in Demenzpflege und person-zentrierter Versorgung spezialisierte Study Nurse die geschulten EPA während der Interven­tionsdauer. Die Supervision erfolgte einzeln und/oder in Gruppen über mindestens drei bis maximal sechs Stunden pro Monat und Einrichtung. Innerhalb der ersten drei Monate wurden die EPA wöchentlich kontaktiert, entweder telefonisch oder per E-Mail. Sie wurden dabei unterstützt, Bewohnerbedürfnisse zu erfassen, person-zentrierte Pflegepläne zu implementieren, die Beteiligung der Pflegebedürftigen an Aktivitäten zu fördern sowie gegebenenfalls Umgebungsveränderungen zu realisieren. Außerdem erhielten alle Beschäftigten der stationären Pflegeeinrichtungen im Rahmen einer 60-minütigen Veranstaltung Informationen über die Projektinhalte.

Ernüchternde Ergebnisse.

Die Ergebnisse der Studie nach zwölf Monaten Beobachtungszeit waren enttäuschend. Der erhoffte Rückgang bei den Verordnungen blieb aus. In den Einrichtungen der Interventionsgruppe war der durchschnittliche Anteil der Menschen, die mindestens ein Antipsychotikum erhielten, bei Studienende sogar geringfügig gestiegen (von 44,6 auf 44,8 Prozent), während er in den Einrichtungen der Kontrollgruppe abgenommen hatte (von 39,8 auf 33,3 Prozent). Offenbar haben die Bewohnerinnen und Bewohner in der Interventionsgruppe nicht von dem person-zentrierten Ansatz profitiert (Richter et al. 2019).

Fehlanreize und mangelnde Kooperation.

Das Best-Practice-Programm aus Großbritannien zur Gestaltung einer psychosozialen Pflege- und Betreuungssituation als Gegenentwurf zu einer Ruhigstellung mit Antipsychotika wirkt in deutschen Pflegeeinrichtungen unter den gegebenen Betreuungs- und Ausstattungsbedingungen offensichtlich nicht. Wie schon in früheren Erhebungen, so zeigte auch die EPCentCare-Studie große Unterschiede zwischen den Pflegeheimen hinsichtlich der Verschreibungsrate von Antipsychotika auf. Die Gründe dafür sind unklar. Die hiesige Pflege- und Betreuungskultur als ein Gemisch von Haltungen und Überzeugungen sowie das Ausmaß der Zusammenarbeit mit der Ärzteschaft mögen einen maßgeblichen Einfluss haben.

Folgende Gründe dürften für den fehlenden Wirksamkeitsnachweis entscheidend sein:

  • In der britischen Studie war die Zahl der ärztlichen Verantwortlichen überschaubar; in die EPCentCare-Studie war hingegen eine große Anzahl von Ärztinnen und Ärzten involviert (circa 450). Dies impliziert mehr Abstimmungsbedarf, mehr Informationsverlust und größere Barrieren bei der Umsetzung von qualitätssichernden Maßnahmen.
  • Die Pflegenden in den Interventionsclustern von EPCentCare fanden den person-zentrierten Ansatz zwar sinnvoll, aufgrund von Personalengpässen wurde er jedoch nicht ausreichend eingeführt.
  • Die Zusammenarbeit der Pflegenden mit den Ärzten ist in Deutschland sehr hierarchisch geprägt. Beruflich Pflegende werden in medizinischen Fragen kaum als kompetente Partner verstanden. Auch wagen Allgemeinmediziner häufig nicht, Verordnungen der Fachärzte abzusetzen.

Es ist unwahrscheinlich, dass die Schulung von Pflegenden und Ärzten und der Appell an eben diese, die medizinischen Leitlinien beziehungsweise den besten internationalen Kenntnisstand umzusetzen, unter den gegebenen Bedingungen wirksam werden kann. Der massiven, nicht indizierten Verordnung von Antipsychotika ist so offenbar nicht beizukommen. Zu groß sind die Fehlanreize im System, zu schlecht die Kooperation der Berufsgruppen und zu gering die personellen Spielräume.

Verordnungsraten müssen Qualitätskriterium sein.

In Ländern wie Norwegen und Großbritannien ist es gelungen, die Verschreibungsrate von Antipychotika deutlich zu senken. Hierzulande hat es keine Konsequenzen, wenn eine Einrichtung und die verschreibenden Ärzte massenhaft zu den Ruhigstellern greifen. Pflegende fragen die Medikamente nach, Ärzte verordnen sie. Beide Berufsgruppen verstehen sich offensichtlich nicht als Interessenvertreter der alten Menschen, wenn es darum geht, diese vor schädlichen Medikamenten zu schützen. Das Ausmaß der Verordnung von Psychopharmaka ist derzeit kein zu überprüfendes Qualitätskriterium in Pflegeheimen. Erst kürzlich ist es wieder versäumt worden, ein entsprechendes Qualitätskriterium für die regelmäßigen Qualitätsprüfungen in den stationären Pflegeeinrichtungen durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) zu definieren.
 
Eine Behandlung mit Medikamenten ist eine ritualisierte Lösungsstrategie. Persönliche Zuwendung und Begleitung, Eingehen auf die Person und sich Kümmern kosten Zeit. Qualifiziertes Personal ist knapp. Zudem sind Psychopharmaka günstig und belasten das Budget kaum.

Ein Kulturwandel tut Not.

Antipsychotika haben keinen überzeugenden, wissenschaftlich nachgewiesenen Nutzen bei Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohnern mit Demenz, gleichzeitig aber ein erhebliches Risiko für Schaden. Von Einrichtung zu Einrichtung gibt es zum Teil erhebliche Unterschiede in der Quote von Antipsychotika-Verordnungen. Das legt den Schluss nahe, dass auch die Organisationskultur eine wichtige Rolle beim Verordnungsverhalten spielt. Um diese Kultur zu verändern, muss das medizinische und pflegerische Personal nicht-pharmakologische Ansätze stärker berücksichtigen. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die hierfür erforderlichen Personal- und Zeitressourcen auch zur Verfügung stehen. Pflegende und Therapeuten verfügen oft nicht über die Kompetenz, herausfordernde Verhaltensweisen zu identifizieren. Sie benötigen Unterstützung dabei, die Umstände und Faktoren zu verstehen, die solche Symptome verstärken.

Die Verschreibung von Antipsychotika muss ein Qualitäts­aspekt werden, den der MDK im Rahmen seiner regelmäßigen Qualitätsprüfungen in den stationären Pflegeeinrichtungen kontrolliert. Die Verschreibungsraten müssen offengelegt werden. Möglicherweise könnten gut ausgebildete Heimärztinnen und -ärzte dazu beitragen, das Ziel Antipsychotika-freier Heime zu erreichen. In jedem Fall ist eine gute Kooperation zwischen Pflegenden und Ärzten unabdingbar, um zum Wohle der Pflegebedürftigen die Verordnung von Antipsychotika in stationären Pflegeeinrichtungen wissenschaftsbasiert auf ein Minimum zu reduzieren.

Literatur bei der Verfasserin

Interview
„Antipsychotika werden zu häufig eingesetzt“

Bis zu 40 Prozent der Heimbewohner mit Demenz erhalten Antipsychotika – entgegen der Leitlinien-Empfehlung, sagt Susann Behrendt im Interview mit der G+G-Redaktion. Sie berücksichtigt die Verordnungshäufigkeit dieser Wirkstoffe daher bei der Entwicklung von Qualitätsindikatoren für die stationäre Pflege.

 

Welche Rolle spielen Antipsychotika in der Versorgung von Menschen mit Demenz?

Susann Behrendt: Rund 70 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen weisen eine Demenz auf. Bei 90 Prozent von ihnen zeigen sich Symptome wie beispielsweise Angst, Aggressivität oder Herumwandern sowie Störungen des Tag-Nacht-Rhythmus. Gemäß Leitlinie sind das erste Mittel der Wahl zur Behandlung dieser Symptome nicht-medikamentöse Therapien. Antipsychotika sind nur kurzfristig, niedrigst dosiert und engmaschig kontrolliert anzuwenden. Die Realität im Pflegeheim sieht jedoch anders aus: Unseren Analysen zufolge erhielten 40 Prozent der demenziell erkrankten Pflegeheimbewohner im Jahr 2015 mindestens eine Verordnung dieser Wirkstoffe. Das birgt für die Patienten erhebliche Risiken und bringt ihnen nur moderaten Nutzen.

Susann Behrendt ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsbereich Pflege am Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO).

Was sagt der Einsatz dieser Medikamente über die Qualität der stationären Pflege aus?

Behrendt: Antipsychotika werden bei demenziell erkrankten Heimbewohnern zu häufig eingesetzt. Zudem variiert die Verschreibungsrate zwischen den Pflegeheimen auch nach Berücksichtigung ihres Risikoprofils. Das ist ein Hinweis auf mögliche Qualitätsunterschiede und Verbesserungsbedarf in der Versorgung von Menschen mit Demenz. Gleichzeitig ist es wichtig, dies nicht eingleisig der verordnenden Ärzteschaft zuzuschreiben. Mehr als drei Viertel von rund 2.500 im Jahr 2017 befragten Pflegekräften gaben an, regelmäßig oder gelegentlich auf Verordnungen von Antipsychotika hinzuwirken. Was zeigt uns das? Qualität ist multikausal – auch in diesem Versorgungsaspekt. Zahlreiche Programme zur Reduzierung der Antipsychotika setzen von daher ganz richtig auf unterschiedlichen Ebenen an – von der Fortbildung des Pflegepersonals, der Steigerung der Facharztpräsenz bis hin zur besseren Zusammenarbeit der Fachkräfte.

Das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) entwickelt Qualitätsindikatoren für Pflegeheime. Welche Rolle spielen dabei die Antipsychotika-Verordnungen?

Behrendt: Das WIdO leitet im Rahmen des Innovationsfonds-Projekts QMPR die Entwicklung von Indikatoren auf Basis von AOK-Routinedaten. Beteiligt sind die Ostfalia Hochschule für Angewandte Wissenschaften und das aQua-Institut. Es liegt nahe, die Qualität der Versorgung von Heimbewohnern mit Demenz zu untersuchen, denn sie bilden eine Mehrheit in den Pflegeeinrichtungen. Der Einsatz von Antipsychotika ist nachweislich zu hoch und lässt sich durch nicht-medikamentöse Alternativen reduzieren beziehungsweise vermeiden. Deshalb entwickelt das QMPR-Team einen sich auf die Verordnungen beziehenden Qualitätsindikator – international vielfach längst Standard. Bisher klammert die Qualitätssicherung in der stationären Pflege demenzspezifische Versorgungsaspekte dieser Art aus. Das QMPR-Projekt sieht umso mehr den Bedarf, hier das Qualitätsverständnis zu erweitern und den Blick für die im Alltag der Bewohnerinnen und Bewohner stattfindenden berufsgruppen- und sektorenübergreifenden Prozesse zu öffnen.

Wann ist mit Ergebnissen zu rechnen?

Behrendt: Das Innovationsfonds-Projekt QMPR startete im Mai 2019. Über den Zeitraum von zwei Jahren entwickelt das Team ein Set von routinedatenbasierten Indikatoren, einen Methodenbericht sowie einen Musterqualitätsbericht für die Kommunikation der Ergebnisse an die Pflegeheime. Die Forschungsergebnisse werden Mitte 2021 zur Verfügung stehen.

Gabriele Meyer ist Leiterin des Instituts für Gesundheits- und Pflegewissenschaften an der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
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