Einwurf

Wie Angst entsteht und vergeht

Angesichts der Corona-Infektion scheinen viele bekannte Lebensrisiken derzeit zu verblassen. Warum wir manche Gefahren über- und andere unterschätzen, erläutert Risikoforscher Dr. Gerd Gigerenzer.

Porträt von Dr. Gerd Gigerenzer, Risikoforscher

Warum fürchten wir,

von einem Hai gefressen zu werden, verschwenden aber keinen Gedanken daran, dass wir auf dem Weg zum Strand bei einem Autounfall sterben könnten? Weltweit verlieren jedes Jahr etwa zehn Menschen ihr Leben durch Haiangriffe, während Tausende auf der Straße sterben. Studien zeigen, dass viele Menschen fürchten, was sie wahrscheinlich nie verletzen oder töten wird, während sie fröhlich gefährlichen Verhaltensweisen frönen. Wäre es nicht vernünftiger, ganz ruhig die Gefahren zu testen und zu berechnen, ohne Angst und Furcht? Aber: Unmittelbar durch Versuch und Irrtum zu lernen, was schädlich ist und was nicht, wäre wirklich gefährlich. Meine Hypothese lautet: Im Laufe unserer Geschichte haben wir in Situationen, in denen Fehler tödlich waren, die Tendenz entwickelt, das Lernen durch Erfahrung zu vermeiden. Stattdessen verlassen wir uns auf das soziale Lernen dessen, was zu fürchten ist. Fürchte, was deine soziale Gruppe fürchtet: Dieses einfache Prinzip schützt uns, wenn persönliche Erfahrung tödlich sein kann. Gleichzeitig kann es uns aber auch veranlassen, die falschen Dinge zu fürchten. Allerdings ist es oft weniger gefährlich, die falschen Dinge zu fürchten, als den anderen Fehler zu begehen – eine tödliche Gefahr nicht zu bemerken.

Soziales Lernen ist der Grund, warum Menschen in der Regel nicht durchgehend risikofreudig oder risikoscheu sind. Sie neigen dazu zu fürchten, was ihre Bezugsgruppe fürchtet, und das hat einen Flickenteppich aus akzeptierten und vermiedenen Risiken zur Folge. Doch soziales Lernen ist nicht die einzige Methode, die uns vermittelt, was wir zu fürchten haben und was nicht. Viele Phobien, die Menschen leicht erwerben, sind biologisch vorbereitete Assoziationen. Dazu gehören die Ängste vor Tieren (Spinnen, Reptilien), vor physikalischen Objekten oder Ereignissen (weite, offene Räume, Donner) und vor anderen Menschen (bedrohliche Gesichter, soziale Ablehnung). Die Furcht von Kindern vor Spinnen, Schlangen und Dunkelheit beruht auf biologischer Vorbereitung. Um ihre Kinder also daran zu hindern, die falschen Dinge zu fürchten, sollten sich Eltern, die diese Angst selbst empfinden, nach Kräften bemühen, sie nicht in Gegenwart ihrer Kinder zu zeigen.

Menschen mit größerer innerer Kontrolle kommen besser im Leben zurecht.

In vielen Kulturen scheinen sich die Menschen immer größere Sorgen um Beruf, Sicherheit und soziale Akzeptanz zu machen. Was einst als seelisches Ungleichgewicht galt, ist zur Norm geworden. Am besten lässt sich das wohl damit erklären, was junge Leute für wichtig im Leben halten: mit der Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Zielen. Zu den inneren Zielen gehört das Bestreben, ein reifer Mensch zu werden, indem man seine Fertigkeiten, Fähigkeiten, mora­lischen Werte stärkt und ein sinnvolles Leben führt. Äußere Ziele haben mit materiellen Belohnungen und den Meinungen anderer Menschen zu tun – etwa hohes Einkommen, soziale Anerkennung und gutes Aussehen. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges haben sich die Ziele der Menschen immer stärker in Richtung äußerer Ziele verlagert. Infolge dieser Veränderung haben junge Menschen weniger Einfluss auf das Erreichen ihrer Ziele.

Das Licht am Ende des Tunnels ist, dass Menschen mit größerer innerer Kontrolle meist besser im Leben zurechtkommen. Sie spielen eine aktivere Rolle in ihrem sozialen Umfeld, kümmern sich mehr um ihre Gesundheit und bekommen bessere Jobs. Wir haben vielleicht keine Kontrolle darüber, ob andere unsere Kleidung, unsere Fähigkeiten und unser Aussehen attraktiv finden. Aber wir können unsere inneren Ziele kontrollieren – Sprachen erwerben, ein Musikinstrument spielen, die Verantwortung für Kleinkinder oder unsere Großeltern übernehmen. Die Verlagerung zu externen Zielen ist keine biologische Tatsache, die in unsere Gene eingeschrieben ist; wir alle können uns umorientieren, innere Ziele wieder ins Auge fassen und die übermäßige Angst abschütteln.

(Nachdruck aus dem Buch „Risiko“ mit freundlicher Genehmigung des Verlags C. Bertelsmann)

Gerd Gigerenzer ist Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und Direktor des Harding-Zentrums für Risikokompetenz an der Unversität Potsdam.
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