Thema des Monats

Lehren aus der
Corona-Krise

Wenn wir Covid-19 in den Griff bekommen wollen, brauchen wir neue Strukturen, Technologien und Normen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit, sagt Prof. Dr. Elvira Rosert. Die Politikwissenschaftlerin unterstreicht die Bedeutung von Public-Health-Strategien für den Umgang mit dem Coronavirus und anderen Erregern von Atemwegsinfekten.

Die aktuelle Situation hat etwas Schizophrenes. Wir befinden uns noch in einer Pandemie, aber es fühlt sich immer weniger so an. Denn das, was die Coronapandemie in ihren ersten zwei Jahren charakterisierte, prägt das gesellschaftliche Leben immer weniger. Masken und Tests gehören nun seltener zum Alltag, persönliche Treffen aber wieder umso häufiger. Innenstädte, Cafés, Büros, Busse und Bahnen, Universitätscampus füllen sich, ein Großteil der Aktivitäten findet wieder uneingeschränkt statt. Und das ist schön.

Die Kehrseite: Die weiterhin hohen, wenn auch sinkenden Inzidenzen bedeuten, dass sehr viele Menschen nun direkt mit Sars-CoV-2 in Kontakt kommen, entweder, weil sie sich infizieren oder Covid-19-Erkrankte im Umfeld haben. Mehr als 20.000 Menschen in Deutschland starben seit Jahresbeginn an Covid, über 1.000 kommen wöchentlich hinzu (Stand Mai 2022, siehe Tabelle „Todesopfer in allen Altersgruppen“). Bei etwa zehn Prozent der Infizierten werden chronische Symptome der Erkrankung, bekannt als Long Covid beziehungsweise als Post-Covid-Syndrom, zurückbleiben.

Das globale Bild ist uneinheitlich: Während die Infektions- und Todeszahlen insgesamt wie auch in einer Mehrzahl der Länder sinken, steigen sie in gut einem Fünftel der Länder wieder. Darüber, wie die Zukunft des Lebens mit Covid aussieht, herrscht Unsicherheit: Einerseits rechnen eine große Mehrheit der Bevölkerung wie auch einige Expertinnen und Experten fest mit einer weiteren Infektionswelle im kommenden Herbst (siehe Grafik „Meinungsumfrage: Die Mehrheit rechnet mit neuer Welle“). Andererseits ist nicht klar, was passiert, ja passieren sollte, wenn sich diese Erwartung materialisiert. Eine weitere Impfrunde? Eine allgemeine Impfpflicht? Wieder Kontaktbeschränkungen? Nichts?

Luftübertragung erschwert Infektionsschutz.

Wir werden Sars-CoV-2 in Zukunft nicht mehr isoliert bekämpfen können. Vielmehr müssen wir Corona im Rahmen eines ganzheitlichen Public-Health-Ansatzes begegnen. Die Pandemie hat die politische und öffentliche Sensibilität für Gesundheit sowie das Wissen darüber in der Bevölkerung gesteigert. Dieses Gelegenheitsfenster gilt es zu nutzen, um einen Wandel im Umgang mit respiratorischen Erkrankungen zu fördern. Der Beitrag entwickelt diese These, indem er einen Blick auf die vergangenen Pandemiejahre wirft und die wichtigsten Einsichten zu Public Health – dem Schutz der öffentlichen Gesundheit – zusammenfasst, die in dieser Zeit offengelegt wurden.

Prävention ist auch bei durch die Luft übertragenen Viren nicht nur möglich, sondern notwendig.

Das Besondere an diesem Coronavirus, das eine große systemische und gesellschaftliche Krise auslöste, ist seine spezifische Kombination aus Infektiosität und Pathogenität. Weil der Erreger hochansteckend ist und sich über die Luft überträgt, wird der Infektionsschutz zu einer größeren Herausforderung als bei Erregern, die sich über Schmierinfektionen (etwa Rotaviren), Wasser (etwa Salmonellen) oder Blut (etwa Hepatitis B und C) verbreiten. Diese Übertragungswege lassen sich beispielsweise mit Trinkwasserstandards, Händewaschen, Oberflächendesinfektion oder Vermeidung von Kontakten mit dem Blut anderer Menschen gut kontrollieren, ohne dass dies individuell und gesellschaftlich als einschränkend empfunden wird. Die Übertragung über feinste Tröpfchen (Aerosole) in der Atemluft ist weitaus schwieriger zu verhindern. Im besten Fall reicht es, Abstand zu halten. Doch schon früh in der Coronapandemie häuften sich Hinweise, dass sich das Virus in Innenräumen auch über größere Distanzen übertragen kann, weil die Aerosole längere Zeit in der Luft schweben und sich im Raum verteilen.

Soziale Interaktion wird zur Gefahr.

Für den Infektionsschutz hat die Tatsache, dass sich Sars-CoV-2 über die Luft überträgt, enorme Konsequenzen. Denn dadurch wurde ein Hauptmodus sozialer Interaktion zur Gefahr: in der Nähe anderer Menschen oder sogar nur mit ihnen in einem Raum zu sein. Dieser Gefahr wirken hauptsächlich zwei Maßnahmen entgegen, die am individuellen Verhalten ansetzen: die Verringerung physischer Kontakte und die Absicherung unvermeidbarer Kontakte. Die Kontaktreduktion betrifft in irgendeiner Form alle Menschen und greift also sowohl tief als auch breit in das gesellschaftliche Zusammenleben ein. Das Tragen einer Maske, dass der Absicherung der Kontakte dient, ist zwar zweifellos weniger einschneidend als der Verzicht auf physische Kontakte, aber dennoch beschwerlicher als etwa das Waschen der Hände. Die Maske kann Atmen und Sprechen behindern; sie macht es für das Gegenüber schwieriger, die Mimik zu entschlüsseln und kann beispielsweise hörgeschädigten Menschen, die auf das Lippenlesen angewiesen sind, die Kommunikation unmöglich machen. Außerdem können nicht alle Masken tragen – Babys und Kleinkinder nicht, aber etwa auch manche Menschen mit Autismus.

Ob die Bevölkerung bereit ist, über längere Zeiträume solche ungewohnten, teilweise tiefgreifenden Verhaltensrichtlinien zu befolgen, hängt wesentlich von der Risikowahrnehmung ab und diese wiederum von der Pathogenität des Erregers, also dem Krankheitsbild und der Krankheitsschwere, die er verursacht. Eine Schwierigkeit hierbei ist, dass das heterogene Risikoprofil von Covid-19 zu einem Public-Health-Präventionsparadox führt: Es besteht eine Diskrepanz zwischen dem individuellen Nutzen (gering) und dem kollektiven Nutzen (hoch). Jede und jeder Einzelne ist individuell wenig gefährdet, trägt aber hohe Kosten durch die Maßnahmen, um eine gesamtgesellschaftliche Gefährdung abzuwenden.

Risikokommunikation betont Alter als Maßstab.

Dieses Paradoxon haben die Entscheidungsträger dadurch gefördert, dass sie von Beginn an das unterschiedliche Erscheinungsbild von Covid-19 zwischen verschiedenen Altersgruppen und beim Vorliegen bestimmter Vorerkrankungen als einen wesentlichen Vergleichsmaßstab für die Risikokalkulation und -kommunikation wählten. Alternativ bietet sich an, innerhalb der Altersgruppen das Risiko durch verschiedene Erkrankungen abzuwägen.

Grafik: Anzahl Corona-Todesopfer in allen Altersgruppen

Seit der ersten Meldung von zwei Todesfällen im Zusammenhang mit Sars-CoV-2 am 9. März 2020 stieg ihre Zahl bis Mitte Mai 2022 auf 136.326 an. Die meisten Todesopfer waren unter den 70- bis 90-Jährigen zu beklagen. Aber auch Kinder und Jugendliche starben durch das Virus. Bei den jungen Todesopfern (0 bis 19 Jahre) waren es mehr Mädchen als Jungen. Seit Ausbruch der Pandemie gab es bundesweit mehr als 25 Millionen gemeldete Covid-19-Infektionen.

Quelle: RKI, Mai 2022

Denn inzwischen zeigt sich, dass Covid-19 auch bei Jüngeren zu einer Übersterblichkeit führte und für viele Menschen, selbst für mehrfach geimpfte, die schwerste Viruserkrankung darstellen kann, die sie erleben. Was die Risikowahrnehmung jedoch prägte, war der Fokus auf alte und vorerkrankte Menschen. Wenn junge, ehemals vollkommen gesunde Menschen schwer erkrankten oder sogar starben, war das so selten, dass sich Angehörige dieser Altersgruppe weiterhin als nicht gefährdet wähnen konnten. Außerdem herrschte die allgemeine Auffassung, dass für den Großteil der Bevölkerung die individuellen Chancen, die Krankheit gut oder zumindest lebend zu überstehen, schon vor der Verfügbarkeit der Impfstoffe groß waren.

Pandemiebekämpfung als solidarisches Unterfangen.

Im Ergebnis wurde der individuelle Beitrag zur Pandemiebekämpfung primär zu einem solidarischen Unterfangen – welches ein Großteil der Gesellschaft über lange Phasen genauso einsichtig und bereitwillig mitgetragen hat, wie man das in einer Demokratie erwarten kann. Zugleich hat es allerdings auch Diskussionen und Ansätze befördert, die problematisch sind, etwa, dass man ältere Virusopfer eben hinzunehmen habe oder man die ältere beziehungsweise vorerkrankte Risikogruppe fokussiert schützen könne und solle, aber eben auch nur sie. Zunehmend stellte sich zudem die Frage nach den Grenzen der Solidarität. Der Grund liegt zum einen darin, dass die Kapazitäten und Ressourcen, radikale Maßnahmen über lange Zeiträume auszuhalten, auch bei den Befürwortern endlich sind. Zum anderen steht mit den Impfstoffen ein effektives Instrument bereit, das diesem Virus einen Großteil seines Schreckens nimmt.

Zur Heterogenität des Krankheitsbildes kommen zwei weitere Faktoren: die Übertragung durch Infizierte vor Symptombeginn und das große Spektrum an Symptomen. Beide behindern die Eindämmung von Sars-CoV-2, weil sie unwissentliche Verbreitung begünstigen. Das Virus ist schon ansteckend, bevor die Infizierten sich krank fühlen, also in einer Phase, wo sie noch ungeschützte Kontakte zu anderen Menschen haben. Außerdem stimmen viele Symptome mit denen von anderen, teils harmlosen Erkrankungen überein.

Viele Staaten ergriffen drastische Maßnahmen.

Sars-CoV-2 führt in Bevölkerungen ohne Immunschutz trotz des geringen Anteils schwerer Fälle zu hohen absoluten Zahlen an Krankenhaus-Patienten und Toten, die weder Gesundheitssysteme noch Gesellschaften verkraften können. Viele Staaten haben deshalb drastische und pauschale Maßnahmen ergriffen – auch als es noch verhältnismäßig wenig Infizierte und Tote gab, weil sie davon ausgingen, dass sich ansonsten sehr viele Menschen gleichzeitig infizieren würden. Das hatte allerdings zur Folge, dass große Teile der Bevölkerung die Corona-Maßnahmen einhalten mussten, ohne selbst vom Virus betroffen zu sein oder nur mit einem geringen individuellen Risiko.

Meinungsumfrage: Die Mehrheit rechnet mit neuer Corona-Welle

Ergebnisse des ZDF-Politikbarometers von April 2022 zeigen: Die große Mehrheit der Befragten (86 Prozent) rechnet fest damit, dass es im Herbst eine neue Infektionswelle gibt. Lediglich neun Prozent erwarten das nicht. Im Februar dieses Jahres waren es 76 beziehungsweise 18 Prozent.

Quelle: ZDF-Politbarometer April II 2022 – Pressemitteilung vom 29.4.2022

Die Kluft zwischen dem geringen individuellen und hohen systemischen Risiko erzeugt einen hohen Druck, die Maßnahmen zur Eindämmung möglichst schnell wieder aufzuheben. Hinzu kommt, dass sie nicht nur grundlegende individuelle Freiheitsrechte berühren, sondern auch das gesellschaftliche Zusammenleben erschüttern und ökonomisch kostspielig sind. Weil die Maßnahmen aufgehoben oder reduziert werden, während das Virus noch zirkuliert, folgt zwangsläufig die nächste Infektionswelle. Auf diese reagieren die politisch Verantwortlichen später, zögerlicher – und gerade deshalb mit radikaleren Schritten. Erinnert sei an die im Rahmen der Bundesnotbremse beschlossene Ausgangssperre im Frühjahr 2021. Je mehr Raum dem Virus zugestanden wird, desto höhere Anstrengungen sind notwendig, um die Kontrolle wiederzuerlangen. Diese wiederum können nur kurzfristig aufrechterhalten werden und so weiter und so fort.

Spirale kommt zum Stillstand.

Diese Spirale dreht sich seit Herbst 2021 nicht mehr weiter. Zwar haben die Infektionszahlen seitdem mehrere Höhepunkte erreicht. Doch die politischen Entscheidungsträger haben darauf nicht mehr mit allgemeinen Kontaktbeschränkungen reagiert. Vielmehr differenzierten sie während der vierten Welle, in der die Delta-Variante vorherrschte, die Regeln nach dem Impf- und Teststatus. Sie erlaubten darüber hinaus deutlich größere Zusammenkünfte als in den vorherigen Wellen. Mit dem Auftreten der Omikron-Variante entfielen noch während der ansteigenden fünften Welle schrittweise fast alle Maßnahmen. Begründet wird dies mit der geringeren Belastung der Krankenhäuser, die wohl primär der zunehmenden Bevölkerungsimmunität infolge von Impfungen zu verdanken ist und möglicherweise einer etwas geringeren Krankheitsschwere durch Omikron.

Neue Viren mit Pandemie-Potenzial sind zu erwarten.

Für den Umgang mit diesen Entwicklungen ist eine Reihe von Überlegungen wichtig. So ist unsicher, ob gegen dieses Coronavirus eine Immunität möglich ist, die nicht nur vor schweren Verläufen, sondern auch vor Ansteckungen schützt. Entsprechend hat sich die Bedeutung des Begriffs „Herdenimmunität“ gewandelt: War damit in der Anfangszeit der Pandemie die Hoffnung verbunden, die Viruszirkulation an sich stoppen zu können, steht inzwischen die Abmilderung der Infektionsfolgen durch Impfungen und Medikamente im Vordergrund. Der Gemeinschaftsschutz ist dann nur indirekt als Schutz des Gesundheitssystems gegeben, weil geimpfte Menschen deutlich seltener im Krankenhaus behandelt werden müssen.
 
Außerdem ist davon auszugehen, dass weiterhin neue Virus-Varianten entstehen. Unter ihnen könnten solche sein, die noch stärker als Omikron den Immunschutz umgehen und noch ansteckender sind. Hinzu kommt, dass schon vor dieser Pandemie respiratorische Erreger eine erhebliche Krankheits- und Todeslast mit sich brachten, etwa die Influenza-Welle der Saison 2017/2018. Auch künftig kann und wird es neue Viren mit Pandemiepotenzial geben.

Infektionsschutz unter Wahrung der Freiheitsrechte.

Für diese Public-Health-Herausforderungen lässt sich aus den letzten beiden Jahren eine Menge lernen. Die wichtigste und grundlegendste Lektion ist, dass die Regierungen für die öffentliche Gesundheit im Idealfall auf eine Art und Weise sorgen, die für Einzelne kaum wahrnehmbar ist, geschweige denn mit schwerwiegenden Grundrechtseingriffen einhergeht. Das setzt voraus, dass der Gesetzgeber zwei wesentliche Dimensionen des Pandemie-Managements – den Infektionsschutz und den Schutz der Freiheitsrechte – optimal miteinander verbindet. Sowohl die Infektions- und Krankheitslast als auch die Beschränkungen der Freiheit sollten dauerhaft möglichst gering bleiben.

Die Sorge um die eigene Gesundheit wegen des Corona-Virus ist auf einen Tiefststand gesunken. Zu diesem Ergebnis kommt das ZDF-Politbarometer vom 20. Mai 2022. Danach schätzten nur noch 30 Prozent der 1.162 telefonisch befragten und zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürger ab 18 Jahren Covid-19 als Gesundheitsrisiko für sich ein. Im April waren es noch 36 Prozent. 63 Prozent halten ihre Gesundheit für nicht gefährdet (April: 56 Prozent). Die Umfrage zum ZDF-Politbarometer hat die Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen durchgeführt.

Quelle: ZDF-Politbarometer Mai 2022 – Pressemitteilung vom 20.5.2022

Das ist kaum einem Land gelungen. Einige Länder schützten die Gesundheit ihrer Bürgerinnen und Bürger zugunsten der Freiheit nur unzureichend. Andere griffen zugunsten des Infektionsschutzes massiv in die Freiheit ein. In vielen Ländern nahmen beide Güter massiven Schaden. In der Regel geschah dies dadurch, dass der Kontrollverlust über die Pandemie spätestens bei (drohender) Überlastung des Gesundheitssystems in Lockdowns und damit sehr schwerwiegenden Beschränkungen mündete. Wünschenswert wäre indes, dass in den meisten Ländern eine effiziente, effektive und nachhaltige Viruseindämmung auch einen schnellen Verzicht auf einschneidende Restrik­tionen erlaubt.

Eine weitere Erkenntnis ist insbesondere mit Blick auf den konkreten Infektionsschutz wichtig: Prävention ist auch bei luftübertragenen Viren nicht nur möglich, sondern notwendig.

Die Coronapandemie hat hier Defizite offenbart, die besonders für Menschen mit erhöhtem Erkrankungsrisiko Kosten und Folgen hatten und weiterhin haben werden. Leider sehen wir derzeit eine Tendenz, Corona-Infektionen immer mehr wie andere Infektionen zu behandeln. Dabei wäre ein Schritt in die Gegenrichtung sinnvoll: Es gilt zu überlegen, welche Maßnahmen in welchen Situationen und zu welchen Jahreszeiten grundsätzlich notwendig sein könnten, um das allgemeine Risiko von Atemwegserkrankungen zu senken.
 
Die Covid-Prävention ist in ein präventives Gesamtkonzept einzubetten. Das würde einerseits der Beobachtung Rechnung tragen, dass der Sonderstatus von Covid-19 immer schlechter zu begründen ist, je mehr die Schwere dieser Krankheit abnimmt. Andererseits hätte ein solches Gesamtkonzept das Potenzial, die kollektive Krankheitslast durch andere Erreger zu vermindern.

Maßnahmen-Mix anstreben.

Dieses Gesamtkonzept würde neue Normen und Strukturen beinhalten. Sie würden durch einen Mix aus technischen, staatlich-institutionellen sowie individuellen Maßnahmen implementiert.

Gesundheitsschutz ist eine öffentliche Angelegenheit, für die die Gesellschaft als Ganzes sowie der Staat verantwortlich sind.

Solche Maßnahmen würden sich erstens auf dasjenige öffentliche Gut konzentrieren, das sich in der Pandemie aufgrund des Infektionsrisikos als Problem offenbart hat: Luft, insbesondere Innenraumluft. Während es für die Außenluft schon seit Jahrzehnten eine Vielzahl von Bestimmungen zur Luftreinhaltung beziehungsweise Vermeidung von Luftverschmutzung gibt, sind entsprechende Bestimmungen für Innenluft noch sehr rudimentär. Neue Standards für saubere Raumluft müssen auch die Verantwortlichkeiten festschreiben (etwa Arbeitgeber, Betreiber von Lokalen, Arztpraxen, Schulämter oder Universitätsleitungen), sowie Technologien (Luftreinigungsgeräte) und Verhaltensanpassungen (Lüften), um diese umzusetzen. Solange es an der flächendeckenden Einführung von Raumluftkonzepten mangelt, ist das Tragen von Masken in Innenräumen, zumindest saisonal und wenn sie von vielen Menschen besucht werden, weiterhin empfehlenswert.

Gesundheitskommunikation verbessern.

Darüber hinaus braucht es einen normativen Wandel im Umgang mit potenziell ansteckenden Krankheiten. Die Pandemie hat uns eindrücklich vor Augen geführt, was in den Gesundheitswissenschaften längst bekannt war: In Systemen mit einem derart hohen Grad an Interdependenz kann Gesundheitsschutz nicht auf eine individuelle Aufgabe reduziert werden. Vielmehr stellt er eine öffentliche Angelegenheit dar, für die die Gesellschaft als Ganzes sowie der Staat verantwortlich sind. Politisch hieße das, Infektionsschutz nicht nur allgemein als Ziel aufrechtzuerhalten. Außerdem sollte beispielsweise in einem wissenschaftlich begleiteten Prozess systematisch überprüft werden, ob und wie sich die durch Erreger von Atemwegserkrankungen verursachte allgemeine Krankheitslast senken lässt. Zum anderen hieße das, die Gesundheitskommunikation zu verbessern und gesundheitliche Bildung zu fördern.

Risiko für andere in den Blick nehmen.

In der Pandemie hat ein Perspektivwechsel von der individualmedizinischen hin zu einer epidemiologischen Betrachtung stattgefunden, den wir beibehalten sollten. Individuelle Infektionen sind keine isolierten Punkte, sondern Glieder von Infektionsketten, die schlimmstenfalls irgendwann die Intensivstationen erreichen.

Maßgeblich für das individuelle Kontaktverhalten wäre fortan also viel weniger als bisher die eigene Symptomatik oder das eigene körperliche Wohlbefinden, sondern die Frage, ob man selbst ansteckend sein und dadurch andere Menschen gefährden könnte. Der stärkere Fokus auf Risiken für andere gilt gerade für Menschen mit geringen individuellen Risiken aufgrund von Alter, Impfstatus und allgemein gutem Gesundheitszustand. Damit diese Sichtweise auch praktisch relevant werden kann, müssen die Menschen die Möglichkeit haben, in so einem Fall auch tatsächlich zu Hause zu bleiben ohne etwa berufliche Nachteile fürchten zu müssen. Ferner müssen weiterhin Werkzeuge zur Bestimmung der Infektiosität zur Verfügung stehen. So wäre es eine Überlegung wert, ob Antigen-Schnelltests nicht auch für andere Viren hilfreich wären. Der Einsatz solcher Tests wurde in den letzten Jahren nicht nur massenweise erprobt. Auch hat sich gezeigt, dass sich viele Menschen aus Rücksicht auf und zum Schutz von anderen gerne routinemäßig testen.

Handlungsbedarf beim Infektionsschutz offenbart.

Die Coronapandemie hat für viele gesellschaftliche Bereiche, in denen schon lange dringender Handlungsbedarf besteht, wie ein Brennglas gewirkt: etwa im Gesundheits- und im Schulsystem oder in der Unterbringung von Geflüchteten, aber auch hinsichtlich der vielfachen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, sei es im Zugang zu Gesundheitsleistungen, bei den Wohnbedingungen oder in der Verteilung der Sorgearbeit. Nun ist es an der Zeit, den Blick stärker auch auf den Bereich der öffentlichen Gesundheit und des allgemeinen Infektionsschutzes zu richten.

Elvira Rosert ist Juniorprofessorin für Politikwissenschaft an der Universität Hamburg und am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.
Oliver Weiss ist Illustrator und Designer.
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